Audiatur et altera pars – auch nach dem G-20-Gipfel in Bali

von Karl-Jürgen Müller

Der laufende Informationskrieg hat zur Folge, dass wir seit dem 24. Februar 2022, aber auch schon die Jahre vorher, nicht mehr wahrheitsgetreu über das Kriegsgeschehen in der Ukraine und das weite Umfeld dieses Kriegsgeschehens informiert werden. Fast jedes Ereignis wird so dargestellt und interpretiert, dass es den eigenen Kriegszielen dient – und eben nicht der Wahrheitsfindung. Zu den Kriegszielen gehört es auch, die «Heimatfront» bei der Stange zu halten. Was ist da besser als Siegesmeldungen. Das Scheitern im Vietnam-Krieg hat insbesondere die USA gelehrt, wie wichtig dies ist. Die Nato-Staaten und ihre Kombattanten sind auch jetzt wieder Kriegspartei. Auf nichts, was wir in unseren Medien über den Krieg in der Ukraine und über das weite Umfeld dieses Krieges zu lesen, zu hören und zu sehen bekommen, können wir vertrauen. Alles muss überprüft werden. Für die meisten Menschen ist dies kaum möglich. Eine Hilfe kann es sein, ein Grundprinzip der Wahrheitsfindung zu beachten: audiatur et altera pars – man höre auch die andere Seite! Am Beispiel der Berichterstattung und Kommentare zum G-20-Gipfel im indonesischen Bali vom 15. und 16. November 2022 soll dies hier versucht werden.

Ukraine-Krieg und Atomwaffeneinsatz

Die Schlusserklärung der Staats- und Regierungschefs bzw. deren Vertreter beim diesjährigen Gipfeltreffen hat im englischen Original einen Umfang von 19 Seiten bzw. 52 Punkten.1 Nur zwei dieser Punkte befassen sich ausdrücklich mit sicherheitspolitischen Fragen. In deutscher Übersetzung lauten diese beiden Punkte:
  «3. In diesem Jahr haben wir auch erlebt, wie der Krieg in der Ukraine die Weltwirtschaft weiter beeinträchtigt hat. Es gab eine Diskussion zu diesem Thema. Wir bekräftigten unsere nationalen Standpunkte, die wir in anderen Gremien zum Ausdruck gebracht haben, darunter im UN-Sicherheitsrat und in der UN-Generalversammlung, die in der mehrheitlich (141 Ja-Stimmen, 5 Nein-Stimmen, 35 Enthaltungen, 12 Abwesende) angenommenen Resolution Nr. ES-11/1 vom 2. März 2022 die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine aufs schärfste verurteilt und deren vollständigen und bedingungslosen Rückzug aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine fordert. Die meisten Mitglieder verurteilten den Krieg in der Ukraine auf das schärfste und betonten, dass er unermessliches menschliches Leid verursache und bestehende Schwachstellen in der Weltwirtschaft verschärfe, indem er das Wachstum einschränke, die Inflation erhöhe, die Versorgungsketten unterbreche, die Energie- und Ernährungsunsicherheit verstärke und die Risiken für die Finanzstabilität erhöhe. Es gab andere Ansichten und unterschiedliche Einschätzungen der Situation und der Sanktionen. Wir erkennen an, dass die G20 nicht das Forum ist, um Sicherheitsfragen zu lösen, aber wir erkennen an, dass Sicherheitsfragen erhebliche Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben können.
  4. Es ist von entscheidender Bedeutung, das Völkerrecht und das multilaterale System zur Sicherung von Frieden und Stabilität zu wahren. Dazu gehört die Verteidigung aller in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Ziele und Grundsätze und die Einhaltung des Humanitären Völkerrechts, einschliesslich des Schutzes von Zivilisten und Infrastruktur in bewaffneten Konflikten. Der Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Kernwaffen ist unzulässig. Die friedliche Beilegung von Konflikten, Bemühungen zur Bewältigung von Krisen sowie Diplomatie und Dialog sind unerlässlich. Die heutige Zeit darf nicht vom Krieg geprägt sein.»

Recht einheitliche Interpretation
durch deutschsprachige Medien

Am 16. November haben zahlreiche deutschsprachige Medien ihre nahezu gleichgerichteten Interpretationen veröffentlicht. So schrieb die früher als eher «links» geltende «Frankfurter Rundschau»: «Beim G-20-Gipfel auf Bali gelingt es, Russland weiter zu isolieren. Das ist ein wichtiges Signal.» «Putin am Pranger» titelte die früher als eher «bürgerlich» geltende «Frankfurter Allgemeine Zeitung». Im Kommentartext der Zeitung hiess es: «Mit einem diplomatischen Triumph beim G-20-Gipfeltreffen hat Moskau nicht rechnen können. Sonst wäre der russische Präsident Putin selbst nach Bali geflogen. An seiner Stelle musste sein Aussenminister versuchen, das Schlimmste zu verhindern: dass Russland wegen seines Überfalls auf die Ukraine an den Pranger der Weltöffentlichkeit gestellt wird. Dabei war Sergej Lawrow ungefähr so erfolgreich wie die russische Invasionsarmee in Cherson. […] Noch direkter als durch die geplante Abschlusserklärung dürfte Lawrow in den vor und auf Bali geführten Gesprächen erfahren haben, dass Russland auch an der diplomatischen Front zunehmend in die Defensive gerät.» Die den Grünen nahestehende «taz» kommentierte: «Keine Frage: Es läuft nicht gut für Wladimir Putin und seine Angriffskrieger. Auf Russlands militärische Niederlage im Kampf um die ukrainische Stadt Cherson folgte jetzt eine diplomatische Niederlage beim G-20-Gipfel in Bali.» Nicht anders der Schweizer «Tages-Anzeiger» am selben Tag. «Schulterschluss gegen Wladimir Putin. Die Staaten verurteilen Russlands Krieg überraschend klar», war im Titel des «Berichts» zu lesen. Der Kommentar in derselben Ausgabe lautete: «Den meisten reichts. Beim G-20-Gipfel wurde Russlands Krieg in der Ukraine scharf verurteilt – und der Welt ein Stück Berechenbarkeit zurückgegeben.»

Wie reagierte Russland?

Wie reagierte man in Russland auf den G-20-Gipfel und die sicherheitspolitischen Punkte der Schlusserklärung? Der Aussenminister des Landes, Sergej Lawrow, wurde in seiner Pressekonferenz vom 15. November danach gefragt2: «Ist Russland bereit, die Abschlusserklärung der G20 zu unterzeichnen und allen Punkten zuzustimmen? Wie wird die Ukraine darin erwähnt? Ist der Wortlaut dieses Dokuments akzeptabel?»
  Seine Antwort: «Die westlichen Kollegen versuchten ihr Bestes, das Dokument zu politisieren und Formulierungen einzuschmuggeln, die eine Verurteilung der Handlungen der Russischen Föderation im Namen der G20, also auch von uns selbst, implizieren. Wir haben darauf bestanden, dass wir, wenn man dieses Thema unbedingt ansprechen will – es ist in keiner Weise Teil der Tagesordnung der G20 und fällt nicht in ihre Zuständigkeit –, dann sollten wir ehrlich sein und die Meinungsunterschiede in dieser Frage fixieren. Ja, in der Ukraine herrscht Krieg, ein hybrider Krieg, den der Westen jahrelang vorbereitet und entfesselt hat, seit er die Machtübernahme der offen rassistischen, neonazistischen Kräfte im Zuge des Staatsstreichs unterstützt hat. Seitdem hat die Nato das ukrainische Territorium aktiv ‹vereinnahmt›, Manöver durchgeführt und Waffen geliefert. Sie wissen, was dann geschehen ist: Die Sabotage des Minsker Abkommens und der Beginn der Vorbereitungen für eine [ukrainische] Militäroperation gegen den Donbass. Daher wird in dem Erklärungsentwurf darauf hingewiesen, dass ein Meinungsaustausch über diese Fragen stattgefunden hat. Beide Seiten bekräftigten ihre Standpunkte, die sie wiederholt bei der Uno, im UN-Sicherheitsrat und in der Generalversammlung, insbesondere bei der Verabschiedung der letzten Resolution der UN-Generalversammlung, die zur Abstimmung gestellt wurde und nicht einstimmig war, dargelegt haben. Es wurde klar bestätigt, dass alle Seiten ihre Einschätzungen dort dargelegt haben. Der Westen fügte die Formulierung hinzu, dass viele Delegationen Russland verurteilen. Wir haben festgestellt, dass auch andere Ansichten geäussert wurden. Wir denken, das reicht aus. Es ist nicht Sache der G20, sich in diese Fragen einzumischen.»
  Der russische Aussenminister wurde auch gefragt: «Ist es den USA gelungen, die Tagesordnung des G-20-Gipfels zu ändern und ihn in eine ausschliesslich antirussische Veranstaltung zu verwandeln, oder wurden die Meinungen und Stimmen der Länder, die nach Indonesien gekommen waren, um wirklich wichtige Fragen und Probleme zu diskutieren, hinter verschlossenen Türen gehört?»
  Seine Antwort: «Die gesamte inhaltliche Arbeit zu wichtigen Themen der G20 hat in den letzten Tagen auf Experten- und Ministerebene stattgefunden. Die Ergebnisse dieser Tätigkeit spiegeln sich in den inhaltlichen Teilen der Erklärung wider. Was die Ukraine angeht, haben sich sowohl die USA als auch alle ihre Verbündeten in den heutigen Diskussionen ziemlich aggressiv gezeigt und Russland einer ‹unprovozierten Aggression gegen die Ukraine› beschuldigt. Je öfter sie von einer ‹unprovozierten Aggression› sprechen, desto mehr sind alle davon überzeugt, dass sie von ihnen provoziert wurde.»
  In diesem Zusammenhang äusserte sich Sergej Lawrow auch zu den Sanktionen gegen sein Land: «Niemand ausser dem Westen und seinen engsten Satelliten hat sich den antirussischen Sanktionen angeschlossen.»

Differenzierte und vielfältige Stellungnahmen …

Und wie haben russische Medien berichtet? In ihrer englischsprachigen Presseschau vom 16. November zitierte die russische Nachrichtenagentur TASS die russische Zeitung «Iswestija» mit folgenden Sätzen: «Russland habe eine Bestimmung über verschiedene Bewertungen der Ukraine-Krise in die Abschlusserklärung der G20 aufgenommen, erklärte der russische Aussenminister Sergej Lawrow, der die russische Delegation auf dem Gipfel leitete, auf einer anschliessenden Pressekonferenz. In Indonesien führte er eine Reihe von bilateralen Gesprächen, unter anderem mit deutschen und französischen Delegierten. Dieses Mal haben die westlichen Teilnehmer Russland nicht boykottiert. Trotz der unvereinbaren Standpunkte Moskaus und Kiews schmälerten die von der ‹Iswestija› befragten Experten die Bedeutung der von den G-20-Teilnehmern ausgehenden Signale für Gespräche nicht. Der Vorsitzende des Valdai-Diskussionsklubs, Andrej Bystritski, erklärte gegenüber der ‹Iswestija›, dass der G-20-Gipfel zu einem Ort werden kann, an dem eine Lösung für die Krise gefunden werden kann. ‹Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die G20 bei weitem nicht nur aus westlichen Ländern besteht. Natürlich geht der ukrainische Faktor alle an. Viele Teilnehmer, darunter auch China, bestehen darauf, eine politische Lösung zu finden und das legitime Völkerrecht anzuwenden, was der Westen übrigens nicht tut›, so der Experte. […] Bei Gesprächen mit Joe Biden deutete Chinas Staatschef Xi Jinping an, ‹dass die USA eine Rolle bei der Beendigung des Blutvergiessens hätten spielen können, wenn eine Einigung über wichtige Fragen erzielt worden wäre›, fügte er hinzu.
  Jelena Safronowa, Senior Research Fellow am Institut für China und zeitgenössisches Asien der Russischen Akademie der Wissenschaften, erklärte gegenüber der Zeitung, dass Peking derzeit sowohl an einer mehrseitigen Entwicklung der Beziehungen zu Russland als auch an berechenbaren Beziehungen zu Washington interessiert sei. ‹Nach mehreren Jahren der Konfrontation mit den USA hat China offenbar erkannt, dass der durchsetzungsstarke Stil […] nicht immer effektiv ist›, sagte sie und fügte hinzu, dass Peking versuchen werde, seine Haltung in den Beziehungen zu Washington zu klären und gleichzeitig die Tonalität der Partnerschaft mit Moskau so weit wie möglich beizubehalten.»

… und Fragen an den Sinn von G20

RT veröffentlichte am 16. November einen Kommentar von Karin Kneissel. Frau Kneissel ist die frühere österreichische parteilose Aussenministerin und vor einiger Zeit aus Österreich emigriert. Sie schreibt: «Seit Monaten rätselten viele, ob es bei dieser Konferenz der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer zu einem Wendepunkt im aktuellen Patt kommen würde. Es sei vorausgeschickt: Die Erwartungen gingen an der Realität vorbei. Die internationalen Beziehungen stecken in einer Sackgasse der Sprachlosigkeit fest. Die Hauptstädte reden aneinander vorbei. Treffen von 30 oder 40 Minuten reichen nicht aus, um Vertrauen herzustellen oder heisse Eisen ernsthaft zu lösen. […] Unter solchen Bedingungen lassen sich maximal ‹politische Signale senden›, wie es im aktuellen Jargon heisst. Aber die eigentlichen Aufgaben diplomatischer Zusammenkünfte, wie der Aufbau von Vertrauen, diskrete Verhandlungen und inhaltliche Lösungen, sind kaum möglich.»
  Viele behaupten, der Westen habe den Informationskrieg bereits gewonnen, weil dessen Propagandamethoden viel besser seien. Man kann aber auch die Frage stellen, ob eine nahezu gleichgeschaltete, menschenfeindliche, auf destruktive Affekte zielende Propaganda, so wie sie der Westen betreibt, langfristig wirklich erfolgreicher ist als eine sich um Mehrstimmigkeit, Differenziertheit und Sachlichkeit bemühte Darstellungsweise. Denn der Mensch ist auch mit Vernunft und Gewissen begabt.  •



1 Das englische Original ist zum Beispiel zu finden unter https://www.consilium.europa.eu/media/60201/2022-11-16-g20-declaration-data.pdf
2 Autorisierte englischsprachige Version unter https://www.mid.ru/ru/foreign_policy/news/1838803/?lang=en; deutsche Übersetzung https://www.anti-spiegel.ru/2022/lawrow-eu-und-nato-sind-konfliktteilnehmer-in-der-ukraine/

G20

km. Die G20 (Gruppe der 20) ist ein seit 1999 bestehender informeller Zusammenschluss von Staaten (plus EU), die sich selbst für die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer halten. Die Beschlüsse der G20 haben keine bindende Wirkung. Die Zusammenkünfte sollen als Forum für den Austausch über Probleme des internationalen Wirtschafts- und Finanzsystems, aber auch zur Koordination bei weiteren weltweit bedeutsamen Themen wie Klimapolitik, Migration oder Terrorismus dienen. Zur G20 gehören Vertreter folgender 19 Staaten: Argentinien, Australien, Brasilien, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei, USA, Volksrepublik China. Hinzu kommt die EU. Repräsentativ für die Staatenwelt insgesamt ist die G20 nicht. Westliche und westlich orientierte Staaten versuchen auch in der G20 zu dominieren. Mehr als 170 Uno-Staaten der Welt sind nicht vertreten.

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