Bundesamt für Statistik meldet Rekordzahl von Lehrvertragsabbrüchen – was tun?

von Marianne Wüthrich, langjährige Berufsschullehrerin

«Noch nie haben so viele Junge ihre Lehre abgebrochen», titelte der «Tages-Anzeiger» kürzlich und nannte erschreckend hohe Zahlen: 22,4 Prozent der Lehrlinge, die 2017 ihre Ausbildung begonnen hatten.1 Ein kleiner Trost ist, dass ein Teil der Vertragsauflösungen nur den Wechsel in einen anderen Betrieb oder in einen anderen Beruf mit neuem Lehrvertrag bedeuten. Aber es bleibt die äusserst beunruhigende Tatsache, dass trotz der guten Verankerung und der hohen Durchlässigkeit des dualen Berufsbildungssystems in der Schweiz fast ein Viertel der Lehrverträge keinen Bestand haben.

«Was läuft falsch in der Berufsausbildung?», fragen die Autoren. «Und was ist zu tun?», ist zu ergänzen. Darauf gibt es naturgemäss keine einfachen oder gar plakativen Antworten. Zweifellos ist es oft ein Zusammentreffen mehrerer Ursachen, das zu einem Lehrabbruch führt. Genannt werden im Artikel: Falsche Berufs- oder Lehrstellenwahl, gesundheitliche Gründe, mangelhafte Leistungen der Lehrlinge sowie «Pflichtverletzungen, Konflikte und privates Umfeld», selten Konkurs/Schliessung des Lehrbetriebs. Diese Gründe für eine Auflösung der Lehre sind nichts Neues, die Frage stellt sich aber, warum die Abbrüche heute zunehmen. Und die Anschlussfrage: Wie können wir sinnvoll, das heisst zum Wohl der Jugendlichen und der Gesellschaft, Gegensteuer geben?

Direkte menschliche Ansprache statt neue Berufsbilder

Die Jugendlichen der sogenannten Generation Z (geboren nach 1996) wollen «immer häufiger einen sinnstiftenden Beruf. Sie wollen nicht einfach eine billige Arbeitskraft sein.» Diese Aussage des Vizedirektors von Pro Juventute im «Tages-Anzeiger» erstaunt die erfahrene Berufsschullehrerin schon ziemlich. Denn bereits vor vierzig Jahren wollten die allermeisten meiner Schüler einen sinnstiftenden Beruf, und ich habe kaum einen Betrieb erlebt, in dem die Lehrmeister nicht ihr Bestes gegeben haben, um bei ihren Lehrlingen die Freude am Beruf und den Stolz auf die im Lauf der Lehre immer anspruchsvolleren, eigenständig geschafften Arbeiten zu wecken. Wenn sie dann in der Schule davon erzählten, spürte man, dass die Saat aufging. Klar hatten manche im Lauf der drei oder vier Jahre kleinere oder auch grosse Durchhänger – das war uns selbst aus dem Gymi ja auch nicht unbekannt. Und klar gab es auch damals Lehrlinge, die wenig motiviert waren und die geforderten Leistungen nicht brachten. Dazu kommen wir noch.
  Was die heutigen Jugendlichen betrifft, hat Tagi-Mitarbeiter Dominik Balmer sicher recht: «Es mag tatsächlich sein, dass es der Generation Z zuweilen an Biss und Ehrgeiz fehlt. Aber damit muss die Wirtschaft klarkommen. Sie hat keine andere Möglichkeit: Anderes Personal gibt es nicht.»2 Das ist den Bildungsverantwortlichen in den Branchenverbänden, die zum Teil händeringend nach tauglichen Lehrlingen suchen, bewusst. Einige Verbände überarbeiten ihre Berufsbilder, damit es für die Jugendlichen (und ihre Eltern) klarer ist, was sie im Berufsalltag zu erwarten haben. So berichtet Reto Hehli vom Verband Carrosserie Suisse (42,9 Prozent der Karosserielackierer brechen ihre Lehre ab!), viele Anfänger in der Autowerkstatt seien «erstaunt, wenn sie mehrheitlich den ganzen Tag stehen und allenfalls schwere Türen oder Motorhauben anheben müssen». Gleichzeitig bemühen sich die Verbände, das Image ihrer Berufe zu «modernisieren». Um die junge Generation anzusprechen und gleichzeitig etwas für die Umwelt zu tun, will zum Beispiel Carrosserie Suisse ein neues Label namens «Green Car Repair» unter dem Motto «Reparieren statt ersetzen» schaffen («Tages-Anzeiger» vom 30.11.2022).
  Ob diese Anstrengungen das Erhoffte bewirken? Oft bringt der direkte Weg über die praktische Anschauung und die mitmenschliche Beziehung mehr als ein origineller Slogan. Alle Schweizer Schüler im 8./9. Schuljahr, die eine Berufslehre ins Auge fassen, absolvieren eine oder mehrere Schnupperlehren in verschiedenen Berufen. Wer einige Arbeitstage oder sogar eine ganze Woche in einem Lehrbetrieb zupacken und seine schulischen Kenntnisse in Tests belegen muss, erlebt die Anforderungen hautnah. Die Lehrlingsausbildner und die Lehrlinge, die der Bewerber dort kennenlernt, sind die richtigen Ansprechpartner für seine Fragen und Zweifel. Dazu kommt sein eigener Vergleich mit anderen Schnupperstellen. Auch für den Ausbildner ist das Schnuppern die beste Möglichkeit, sich ein Bild vom Bewerber zu machen: Ist er pünktlich und zuverlässig, bereit, sich etwas zeigen zu lassen und sich etwas zu merken? Kann er lesen, schreiben und rechnen?
  Was die körperlich anstrengende Arbeit betrifft, war ich jedes Jahr von neuem beeindruckt, wie 15- oder 16jährige Buben, die im letzten Volksschuljahr meist eine gemütliche Zeit hatten, innert weniger Monate begannen, sich zu kräftigen jungen Männern zu entwickeln, wenn sie zum Beispiel als Elektroinstallateure bei Wind und Wetter auf der Baustelle arbeiteten. Nur selten hat sich einer beklagt, die meisten waren stolz auf ihre Leistung und auf ihre zunehmenden Kräfte. Wenn ich einen bat, mir einen Stoss Bücher in den oberen Stock zu tragen, sagte er: «Das finden Sie schwer? Ist ja easy.» Den ganzen Tag zu stehen machte ihnen in der Regel viel weniger aus, als am Schultag den ganzen Tag zu sitzen.
  Ob das den heutigen Jugendlichen wirklich nicht möglich ist? Vielleicht fällt es manchen von ihnen schwerer – aber der Weg über die praktische Übung und die mitmenschliche Beziehung ist auch heute der einzig gangbare.

Mehr Prävention gegen «erhöhte psychische Belastung»?

Der bereits zitierte Mitarbeiter von Pro Juventute ist der Meinung, viele junge Leute seien heute in einer «Multikrise», weil ihnen die Klimakrise, die Corona-Pandemie und jetzt der Ukraine-Krieg zusetzen würden. Wenn es den jungen Menschen besser gehe, werde es auch weniger Lehrvertragsauflösungen geben. Angesichts der «erhöhten psychischen Belastung von Kindern und Jugendlichen» seien die Kantone in der Pflicht, für Prävention zu sorgen.3
  Wenn man bedenkt, wie viele junge Leute aus der ganzen Welt in allen unseren Schulklassen sitzen, die (oder deren Eltern) aus weit schwierigeren Lebenssituationen, aus Krieg und Elend, in die sichere und wohlhabende Schweiz gekommen sind, wo jedes Kind zur Schule gehen und jeder Jugendliche eine Lehre oder eine weiterführende Schule absolvieren darf – ist es da nicht «gschämig», von «erhöhter psychischer Belastung» zu reden, nur weil unsere Kinder einige Monate lang Fern- statt Präsenz-Unterricht hatten und weil wir alle unseren Beitrag zu weniger Energieverbrauch leisten sollten? In anderen Ländern hatten viele Jugendliche im Lockdown nicht einmal ein Handy, und die Klimakrise als Grund für einen Lehrabbruch zu konstruieren ist absurd.

Mangelnde schulische Grundlagen in der Volksschule

Mangelhafte Schulleistungen der Lehrlinge werden im genannten Artikel nur kurz angetippt, aber es schläckt’s kei Geiss weg: In unseren Lehrbetrieben sind Schulabgänger gefragt, die nach neun Schuljahren einigermassen lesen, schreiben und rechnen können, die einen Nagel einschlagen und ein sauberes Dreieck zeichnen können (nicht Handgelenk mal Pi, sondern mit Zirkel und Massstab), die rechtzeitig am Arbeitsplatz erscheinen, Kunden anständig begrüssen und sich vom Lehrmeister anleiten lassen, ohne ständig herumzudiskutieren.
  Vom Lehrplan 21 und dem damit verbundenen Paradigmenwechsel hatten sich viele Wirtschaftsvertreter «kompetentere» Lehranfänger erhofft. Obwohl wir Kritiker uns alle Mühe gaben, sie eines Besseren zu belehren, flutschte der Lehrplan 21 dank massiver staatlicher, aber nicht der Wahrheit verpflichteter Propaganda durch. Bei zahlreichen Lehrlingen fehlen mangels eines strukturiert aufgebauten Unterrichts in der Volksschule die soliden schulischen Grundlagen, die für eine Lehre samt Berufsschule unerlässlich sind.
  Wie viele Lehrverträge wegen mangelhafter schulischer und/oder betrieblicher Leistungen aufgelöst werden, bleibt im dunkeln. Aber aus meiner Erfahrung steht ein erheblicher Teil der Lehrabbrüche damit in Zusammenhang, inklusive der durch Rauschgiftsucht oder exzessives Gamen verursachten Leistungseinbrüche. In manchen Berufen kann auch der Schwall von «Kompetenzen», mit dem die Köpfe verwirrt werden, zu Abbrüchen führen. In solchen Fällen eine adäquate Lösung zu finden, ist nicht einfach und geht jedenfalls nur, wenn der Jugendliche mitzieht.

«Falsche Berufswahl» – Lehre auflösen oder weitermachen?

Bei persönlichen Schwierigkeiten des Lehrlings oder in der Beziehung Lehrling-Lehrmeister oder wenn der Jugendliche in einen anderen Beruf wechseln möchte, stellt sich allen involvierten Personen die Frage: Wo ist es sinnvoll, einen jungen Menschen zum Weitermachen zu ermutigen, wo stärkt ihn eher der Weg hinaus? Letztlich ist es zwar der Entscheid des Jugendlichen, dennoch braucht es Einfühlsamkeit, aber auch die Entschlossenheit der Beteiligten, einen jungen Menschen gross zu nehmen und ihm das zuzutrauen, was nötig und möglich ist.
  In meinen mehr als drei Jahrzehnten an einer Berufsschule hatte ich viele Schüler, die eigentlich lieber einen anderen Beruf gelernt hätten, aber schliesslich aus verschiedenen Gründen an ihrer Lehrstelle gelandet sind. Interessanterweise hat sich der grösste Teil mit dem Lehrberuf angefreundet, wenn er im Betrieb ein gutes Umfeld hatte. Nicht wenige junge Frauen und Männer, die sich nach negativen Erlebnissen in der Volksschule auffangen konnten und in Lehrbetrieb und Schule gut vorankamen, habe ich ermutigt, nach dem Lehrabschluss ihren früheren Wunschberuf oder eine andere Weiterbildung anzuhängen, was zu meiner Freude etliche mit Erfolg getan haben. Ich erinnere mich aber auch an ein Beispiel, wo ich einen jungen Menschen nach seinen längeren Versuchen, mit dem Lehrmeister den «Draht» zu finden, unterstützt habe, eine andere Lehrstelle zu suchen, weil der an sich aufgestellte Jugendliche seinen Mut und seine Freude am Beruf zu verlieren drohte. Die ganze Klasse half bei der Suche einer neuen Stelle mit. Eine solche Konstellation ist eher selten, aber man muss sie erspüren. Nur wenige Male habe ich erlebt, dass ein Lehrbetrieb Konkurs anmelden musste. Glückliche Schweiz! Auch diese Schüler fanden meist Unterschlupf im Lehrbetrieb eines Mitschülers.
  Tragen wir nach Kräften dazu bei, das für unsere Jugend und unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt segensreiche duale Berufsbildungssystem am Leben zu erhalten!  •



1 Balmer, Dominik und Cornehls, Svenson. «Berufsbildung in der Schweiz. Noch nie haben so viele Junge ihre Lehre abgebrochen». In: Tages-Anzeiger vom 30.11.2022. Neueste Zahlen zum Lehrbeginn 2017, Bildungsverläufe bis 31.12.2021: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/uebertritte-verlaeufe-bildungsbereich/sekundarstufe-II/aufloesungen.html (Tabellen im Anhang)
2 Balmer, Dominik. «Kommentar zu den Lehrvertragsauflösungen. Die Rekordzahlen sind ein Warnschuss». In: Tages-Anzeiger vom 30.11.2022
3 Balmer, Dominik und Cornehls, Svenson. «Berufsbildung in der Schweiz. Noch nie haben so viele Junge ihre Lehre abgebrochen». In: Tages-Anzeiger vom 30.11.2022

Duales Berufsbildungssystem als wichtiger Integrationsfaktor

mw. «Das historisch gewachsene Berufsbildungssystem in der Schweiz […] führt zu einer frühen Einführung in die Arbeitswelt schon im Alter von 15 oder 16 Jahren, es verhilft sogar auch Jugendlichen mit einer Schulschwäche oder aus bildungsfernen Schichten zur ausserschulischen Entwicklung handwerklicher Fähigkeiten, und es konfrontiert den jungen Menschen früh mit der wettbewerblichen Härte des Arbeitsmarktes. […] Doch bei aller Härte […], das Resultat ist eine höhere Arbeitsmarktfähigkeit und ein höherer Standard von Qualität und ‹State of the Art› (Regeln der Kunst) in jeder Berufsbranche.» (Rudolf H. Strahm. Warum wir so reich sind. Bern 2010, S. 68/69)
  An den WorldSkills 2022 schnitt das Schweizer Berufs-Nationalteam mit 19 Medaillen in 34 Disziplinen ein weiteres Mal hervorragend ab.1 Diese Erfolge sind, wie Rudolf H. Strahm erklärt, auch dem guten Schweizer Berufsbildungswesen geschuldet.
  Ein Beispiel aus dem Alltag: Kürzlich hat ein Schreiner mit seinem Lehrling in unserem Haushalt eine Reparatur ausgeführt. Der junge Mann stand richtiggehend in den Startblöcken, immer bereit, zuzupacken, wenn sein Lehrmeister ihn ansprach. Im ersten Lehrjahr sei er, sagte er auf meine Frage, und man konnte spüren, wie es ihn stärkte, als Mitarbeiter gebraucht zu werden und gleichzeitig seinen Beruf zu lernen, drei Tage pro Woche im Betrieb, zwei in der Berufsschule.
  Es gibt sie also noch, die «gefreuten» Lehrlinge, sie sind auch heute in der Mehrheit. Und wie es Rudolf H. Strahm vor mehr als zehn Jahren beschrieben hat, braucht es das duale Berufsbildungssystem heute mehr denn je, damit schwächere Schüler oder solche aus Familien anderer Kulturen und Sprachen integriert werden können. Aber auch für die Leistungsstarken, die lieber etwas «mit den Händen schaffen» wollen, als das Gymi zu besuchen: Dank der Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems bleiben ihnen alle Wege offen.

Berufsbildungssystem als bedeutendes Moment
des gesellschaftlichen und nationalen Zusammenhalts

«Das Berufsbildungssystem ist ein zentraler Faktor der Produktivität und Konkurrenz-fähigkeit. Es ist aber auch das wichtigste Moment der sozialen Integration, des gesellschaftlichen und nationalen Zusammenhalts und der Verhinderung oder zumindest Begrenzung der Armut. […] Im internationalen Vergleich bringt die Schweiz dank ihrem Berufsbildungssystem einen grösseren Anteil von Jugendlichen und Erwachsenen ins Erwerbsleben und weist deshalb die tiefste Jugendarbeitslosigkeit und die tiefste Arbeitslosenquote generell auf.» (Rudolf H Strahm. Warum wir so reich sind. S. 43)
  Das duale Berufsbildungssystem basiert auf der Zusammenarbeit zwischen den Kantonen, welche die Berufsschulen bereitstellen, und den Betrieben, die bereit sind, Lehrlinge auszubilden. Besonders die KMU (über 98 % der Unternehmen), aber auch viele Grossbetriebe (jedenfalls diejenigen mit Bodenhaftung im Land) nehmen ihre Aufgabe wahr. Sie sind aber darauf angewiesen, dass die Kantone für eine entsprechende Schulbildung sorgen, so wie sie es seit dem 19. Jahrhundert getan haben.
  Dass es für die meisten Betriebe selbstverständlich ist, ihren Teil zur Berufsbildung unserer Jugend beizutragen, ist eine Auswirkung des direktdemokratischen Schweizer Modells. Sie tun dies ebenso, wie sie in ihrer Gemeinde und in sozialen und kulturellen Einrichtungen sowie in Vereinen unentgeltliche Milizarbeit leisten.
  Einer meiner Kollegen in der Berufsschule beschäftigte in seinem Landwirtschaftsmaschinen-Unternehmen 4–5 Mitarbeiter und bildete 2 Lehrlinge aus. Einen Tag pro Woche unterrichtete er Berufskunde an unserer Schule. Wie die meisten Lehrmeister, vor allem in den handwerklichen Berufen, trug er wesentlich zur Entwicklung seiner Lehrlinge zu fähigen Berufsleuten bei und diskutierte in den Arbeitspausen auch einmal mit ihnen über die nächsten Volksabstimmungen.



https://www.swiss-skills.ch/de/news/16864/funfter-schweizer-wm-titel-an-den-worldskills-schweiz-ist-die-nr-1-in-europa

 

 

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