Warum löschen Staaten die Vergangenheit aus?

von Patrick Lawrence

Eine kürzliche Meldung der deutschen Nachrichtenagentur dpa lässt mich seither über verschiedene kleine, unbedeutende Dinge nachdenken: Krieg, Nationalismus, Identität, Geschichte, Erinnerung. Es scheint, dass die Leute, welche die deutschen Gräber derjenigen verwalten, die im Zweiten Weltkrieg im Kampf gegen die deutsche Armee gefallen sind, beabsichtigen, zwischen den Toten der Roten Armee, die auf deutschen Friedhöfen begraben sind, zu unterscheiden. Sie sollen nicht mehr einfach als «sowjetisch» oder «russisch» bezeichnet werden, wie es bisher der Fall war. Wenn ein Soldat der Roten Armee aus der Ukraine stammte – während des Zweiten Weltkriegs und 46 Jahre lang danach war die Ukraine eine Sowjetrepublik – werden sie nun als «ukrainisch» in den Akten vermerkt.1 «Wir fangen an zu differenzieren», sagte Christian Lübcke, der Leiter der Hamburger Abteilung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, in einem Interview, das die dpa am 14. November veröffentlichte.

Kiegsopfer der Roten Armee
bekommen imaginäre Nationalität

Lassen Sie mich versuchen, das richtig zu verstehen. Soldaten der Roten Armee, die als Sowjetbürger gegen das Dritte Reich gekämpft haben, sollen rückwirkend eine imaginäre Nationalität zugewiesen bekommen, wenn sie aus der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik stammen? Wie soll das denn gehen? Ausser der Deutschen Presseagentur dpa und RT, dem russischen Pendant zur BBC, scheint niemand über die Geschichte berichtet zu haben. Vielleicht hielten die meisten Medien sie für unwichtig. Oder vielleicht wurde eine Entwicklung wie diese, nämlich die Unterscheidung zwischen den Gebeinen von Soldaten und Kriegsgefangenen, die 75 Jahre tot waren, auf der Grundlage einer Unterscheidung, die es bis 1991 nicht gab, in den meisten Redaktionen als zu absurd, zu peinlich empfunden, um darüber zu schreiben.
  In seiner Erklärung verwies Lübcke auf den Krieg in der Ukraine und auf eine russische zivilgesellschaftliche Gruppe, das Unsterbliche Regiment, das die Soldaten der Roten Armee ehrt, die im Grossen Vaterländischen Krieg, wie die Russen den Zweiten Weltkrieg nennen, gefallen sind. Die Opfer der Sowjetunion beim Sieg über das Nazi-Regime – über 20 Millionen sind umgekommen – sind für die Russen natürlich jedes Jahr am 9. Mai, dem Tag des Sieges, eine wichtige Sache. Aber Lübcke beanstandet, dass das Unsterbliche Regiment bei der Ehrung sowjetischer Gräber auf einem Hamburger Friedhof «nationalistische und teilweise geschichtsrevisionistische Untertöne» an den Tag legt – ein absonderlicher Gedanke, wie ich gleich noch ausführen werde.

Verfälschte Vergangenheit – wozu?

Die Anzahl der Toten ist nicht gross. Von den 62 000 Kriegstoten auf den verschiedenen Hamburger Friedhöfen sind etwa 1400 Soldaten der Roten Armee, die im Kampf oder in den Kriegsgefangenenlagern der Nazis umgekommen sind. Ihre Gräber waren alle als sowjetisch oder russisch gekennzeichnet, als sie beerdigt wurden – und das ist auch richtig so, denn das waren sie auch. Ich kann der deutschen Berichterstattung nicht ganz entnehmen, was Lübcke jetzt vorhat – ob er vorschlägt, die Friedhofsunterlagen zu ändern oder die Unterlagen zu ändern und neue Grabsteine zu meisseln. Aber es ist klar, dass er den sowjetischen Gefallenen, die aus dem Gebiet der ukrainischen Republik stammen, eine verfälschte Vergangenheit aufzwingen will. Ausserdem will er mit seiner Idee ins Landesinnere gehen.
  Absurd, ja, und peinlich, ja wieder. Aber deshalb ist es auch so wichtig, darüber nachzudenken, was eine Organisation, die sich der Ehrung von Kriegstoten verschrieben hat, dazu veranlasst, eine ahistorische Unterscheidung zwischen den einen und den anderen Gefallenen zu treffen, die Seite an Seite in derselben Armee gekämpft haben, um den gemeinsamen Feind zu besiegen. Welche Gefühle, welche politischen Kräfte, welches Propagandaprojekt treiben diesen verblüffend respektlosen Vorschlag an? Welcher ideologische Antrieb veranlasst Christian Lübcke dazu, tote Soldaten zu missbrauchen, die, wären sie noch am Leben, keine Ahnung hätten, worauf er hinaus will?

70. Jahrestag des D-Day

Ich erinnere mich, dass ich im Juni 2015 ähnliche Fragen stellte, als John Kerry und andere führende Politiker der Alliierten sich mit Veteranen ihrer Armeen an den Stränden der Normandie trafen, um den 70. Jahrestag des D-Day und die damals bevorstehende Niederlage der Nazis zu feiern. Obamas Aussenminister hielt nichts davon, grosse Reden über die Helden des Krieges zu halten, während er gleichzeitig die Russen von den Ehrungen ausschloss. Kerry und Co. hatten sich bis dahin geweigert, an den Veranstaltungen zum gleichen Jahrestag am 9. Mai in Moskau teilzunehmen. In Anbetracht der entscheidenden Rolle und der enormen Opfer, die die Rote Armee für die Alliierten gebracht hat, schien mir dies eine bodenlose Schande zu sein.
  Das alles war ein Jahr nach dem von den USA angezettelten Staatsstreich in der Ukraine, wohlgemerkt – ein Jahr nach der strategischen Entscheidung Washingtons, das von ihm in Kiew installierte Regime als Frontlinie seiner Kampagne zur Bedrohung der Russischen Föderation bis hin zu deren Westgrenze zu nutzen.
  Zu diesem Zeitpunkt hatte ich den alten sowjetischen Witz schon oft gehört, wie einige Leser vielleicht auch. Die Zukunft steht fest, pflegten die Sowjetbürger zu sagen. Es ist die Vergangenheit, die immer ungewiss ist. Das war eine Anspielung auf all die wegretuchierten Fotos, das Umschreiben von Texten und die Korrumpierung von Archiven, die während der Stalin-Jahre stattfanden.

Unentschuldbares Verhalten
westlicher Staaten und Regierungschefs

In Anlehnung an den Ausschluss russischer Veteranen und Offizieller von den Feierlichkeiten in der Normandie haben wir in den letzten sieben Jahren beobachtet, wie der Westen in seiner Respektlosigkeit und seinem Missbrauch der Vergangenheit immer sowjetischer geworden ist. Seit der russischen Intervention in der Ukraine im vergangenen Februar hat diese Art von unentschuldbarem Verhalten überhandgenommen – um so schlimmer, als westliche Staats- und Regierungschefs und Institutionen dem ohne Gewissensbisse und ganz sicher ohne Schamgefühl nachgeben. Es ist, als ob die menschliche Geschichte und die historische Disziplin keinen allgemeinen Respekt verdienen und so als Instrument dienen, um andere zu verunglimpfen oder sie aus dem Gedächtnis zu löschen.

Hunderte von Statuen und Denkmälern
in Lettland und Estland abgerissen

Letzten Sommer hat Lettland das grösste Denkmal aus der Sowjetzeit in der Hauptstadt Riga zum Gedenken an den Sieg über den Nationalsozialismus abgerissen, während die russischsprachige Minderheit dabei zusehen musste. Estland zog bald nach, wobei es in seinem Fall um Hunderte von Statuen und andere Arten von Denkmälern ging. Kaja Kallas, die estnische Premierministerin, erklärte es so: «Es ist klar, dass die russische Aggression in der Ukraine Wunden in unserer Gesellschaft aufgerissen hat, an die uns diese kommunistischen Denkmäler erinnern, und deshalb ist ihre Entfernung aus dem öffentlichen Raum notwendig, um zusätzliche Spannungen zu vermeiden.»2
  Ich habe keine Ahnung, was Kallas mit diesen Worten gemeint hat. Sie scheinen einfach nur verworrenes Denken widerzuspiegeln – oder gar keines. Kein klarer Gedanke, keine klare Sprache, sage ich immer. Christian Lübcke erklärt uns also, dass sein offensichtlich nationalistisches und geschichtsrevisionistisches Bestreben, die Geschichte durch das Fälschen von Aufzeichnungen zu verwüsten und – wie gesagt, ich kann es nicht genau sagen – neue Grabsteine zu meisseln, im Namen des Widerstands gegen Nationalismus und Geschichtsrevisionismus erfolgt. Wir haben Kaja Kallas, die im Namen der Heilung von Wunden neue Wunden in die lettische Politik schlägt.

Nationalismus, Identität, Geschichte und Erinnerung

Um das Offensichtliche festzustellen, müssen wir tiefer schauen als Christian Lübcke, Kaja Kallas und andere Beamte, die diese Projekte beaufsichtigen, um ihren Standpunkt zu verstehen. Und damit komme ich zurück zu den Gedanken, die ich vorhin erwähnt habe und die mit Nationalismus, Identität, Geschichte und Erinnerung zu tun haben.
  Ernest Renan, der französische Historiker, Bibelwissenschaftler, Philosoph, Philologe, Kritiker und so weiter – Menschen haben viele verschiedene Dinge gemacht, bevor unsere Zivilisation das Wissen in Silos verpackte – hielt 1882 an der Sorbonne eine Vorlesung, die uns überliefert ist und immer noch gelegentlich zitiert wird. Er nannte sie «Qu'est-ce que une nation?» – «Was ist eine Nation?»3 Eine seiner bemerkenswerten Passagen ist diese:

«Das Vergessen – ich möchte fast sagen: der historische Irrtum – spielt bei der Erschaffung einer Nation eine wesentliche Rolle […]. Es macht jedoch das Wesen einer Nation aus, dass alle Individuen etwas miteinander gemein haben, auch, dass sie viele Dinge vergessen haben.»

Renan hatte besondere Gründe für diese erstaunlich freimütigen Gedanken. In den 1880er Jahren war Frankreich damit beschäftigt, sich zu einer modernen Nation zu entwickeln. Seine regionalen Identitäten und Dialekte – Bretagne und Bretonisch, Elsass und Alcacien, Okzitanien und Languedoc und so weiter – waren vormoderne Hindernisse für dieses Projekt. Sie mussten unterdrückt und im Laufe der Zeit aus dem nationalen Diskurs entfernt werden, so als wären sie unerwünschte Statuen.
  Ich habe Renans Gedanken zur Frage der Nationalität immer als unangenehm und zugleich als teuflisch wahr empfunden. Er führt uns zu dem wesentlichen Punkt all der offiziellen Auslöschungen und Verunstaltungen, die ich erwähnt habe, und der vielen anderen, die ich nicht erwähnt habe. Es geht darum, dass bei der Schaffung von Staaten und Identitäten sehr oft die Geschichte ausgelöscht wird.
  Worum ging es bei all den alten Schönfärbereien und Ausradierungen der Sowjetunion, insbesondere, aber nicht nur, während der Stalinjahre? Es ging darum, eine nationale Geschichte mit sehr sauberen, leicht zu lesenden Linien zu konstruieren, die mit einer imaginären Version sozialistischer Harmonie zu tun hatte, mit der sich die Sowjetbürger identifizieren konnten.

Wahre Vergangenheit ausblenden – Ein Projekt des Westens

Was wollten Kerry und die anderen westlichen Staats- und Regierungschefs, die vor sieben Jahren in der Normandie anwesend waren – Franzosen, Briten, Deutsche, Polen und so weiter – erreichen? Sie wollten ihren Völkern eine Version des Zweiten Weltkriegs vermitteln, die überzeugend war, die den Nationalstolz weckte und – vor allem – die wahre Vergangenheit ausblendete, die Vergangenheit, in der Russland und die Russen eine entscheidende Rolle spielten.
  Dies ist nun das gemeinsame Projekt des Westens, das in einem bedauernswerten Ausmass auf dem Vergessen beruht. Ein wenig tröstlich finde ich die Stimme von Katharina Fegebank, Hamburgs stellvertretende Bürgermeisterin, die am Volkstrauertag sprach, der in diesem Jahr auf den 13. November fiel:

«Es ist unsere Aufgabe, heute und jeden Tag an diese und Millionen von Menschen zu denken, die Opfer von Krieg und Gewalt geworden sind. Wir stehen hier zusammen, um für Frieden und Freiheit, gegen Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung einzutreten.»

Werden sich die Katharina Fegebanks unserer Zeit gegen das Vergessen durchsetzen, das uns, uns aus dem Westen, faktisch aufgezwungen wird? Das ist unsere Frage, und ich möchte sie jetzt lieber noch nicht beantworten.
  Zu Ernest Renans Zeiten sollte ein Bretone oder ein Sprecher des Languedoc nicht mehr Bretone oder Okzitanier sein, sondern Franzose oder Französin. Dieses in vielerlei Hinsicht erzwungene Projekt zog sich sehr lange hin und wurde zeitweise erbittert bekämpft. 1975 veröffentlichte der Schriftsteller und Schauspieler Pierre-Jakez Hélias ein sehr schönes Memoir über die bretonische Identität, Le cheval d'orgueil (Das stolze Pferd). Es ist voller liebevoller Gefühle für eine Welt, die einmal war, aber zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr existierte. Hélias schrieb als Franzose, auf Französisch: Dies war in gewisser Weise die ungeschriebene Koda seiner Geschichte, wenn ich das Buch richtig gelesen habe.

Heimtückisches Vergessen

Das Vergessen unserer Zeit ist von einer anderen Art, wie mir scheint. Es ist viel heimtückischer. Das Ziel ist die Schaffung eines neuen Bewusstseins, wie zu Renans Zeiten, aber in unserem Fall im 21. Jahrhundert geschieht dies durch eine radikale Verengung unseres Geistes, eine radikale Verarmung des Denkens im Namen einer neoliberalen Hegemonie, auf diese Weise ein radikales Ausschalten von Möglichkeiten, eine radikale Eingrenzung innerhalb der Mauern einer anderen zweigeteilten Weltordnung, in der keine Seite über diese Mauern auf die andere Seite blicken kann. In dieser Welt wird, wenn wir sie allesamt widerstandslos hinnehmen, die Zukunft feststehen und die Vergangenheit immer ungewiss bleiben.  •



1 https://www.zeit.de/news/2022-11/13/sowjetische-kriegsgraeber-volksbund-will-differenzieren
2 https://www.theguardian.com/world/2022/aug/16/estonia-removes-soviet-era-tank-monument-amid-russia-tensions-narva
3 https://austria-forum.org/attach/AEIOU/%C3%96sterreichbewusstsein/Renan_Was%20ist%20eine%20Nation.pdf

Quelle: https://scheerpost.com/2022/11/25/patrick-lawrence-why-do-nations-erase-the-past/ vom 25.11.2022; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Patrick Lawrence, langjähriger Auslandskorrespondent, vor allem für die «International Herald Tribune», ist Kolumnist, Essayist, Autor und Dozent. Sein letztes Buch ist «Time No Longer: Americans after the American Century», Yale, 2013. Auf Twitter fand man ihn bei @thefloutist, bis er ohne Begründung zensiert wurde. Seine Webseite lautet patricklawrence.us. Unterstützen Sie seine Arbeit über patreon.com/thefloutist.

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