Kasachstan – Plädoyer für einen Brückenbauer zwischen den Blöcken

von Ralph Bosshard*

Die jüngsten Unruhen in Kasachstan, das bislang als politisch stabiles Land galt, überraschten viele Beobachter im Westen. Seither wurde viel über das grösste Land Zentralasiens geschrieben, das autoritär geführt werde und ein Polizeistaat sei, in welchem Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten nicht viel zählten. Während Teile der Kritik sicherlich zutreffend sind, scheinen andere eher geopolitisch motiviert zu sein. Ein kurzer Überblick über die Entwicklung des Landes seit seiner Unabhängigkeit mag als Warnung dienen, den zutage getretenen innenpolitischen Konflikt in einen geopolitischen Zusammenhang der Rivalität zwischen den USA, China und Russland zu stellen.

Ein Brückenbauer im Herzen Asiens

In aussenpolitischer Hinsicht bemühte sich Kasachstan namentlich unter der Führung des langjährigen Staatspräsidenten Nursultan Nazarbayev, eine sogenannt multivektorielle Aussenpolitik zu betreiben und gute Beziehungen zu Russland, den USA und China aufrechtzuerhalten, immer unter der Prämisse, dass Russland der wichtigste Verbündete sei. Inwiefern dies – wie beispielsweise im Falle Armeniens – zu einem gewissen Misstrauen seitens der Verbündeten führte, ist schwierig abzuschätzen. Letzten Endes führte die vor einigen Jahren einsetzende Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen und die Einteilung der Welt in Schwarz und Weiss auch im Falle Kasachstans zu einer Einschränkung der aussenpolitischen Handlungsfreiheit eines Staates, der – zwischen zwei Imperien gelegen – einen eigenständigen Weg zu suchen gezwungen ist. Kasachstan verhandelte in den letzten Jahren erfolgreich ein Assoziierungsabkommen mit der EU, nahm eine führende Rolle in der nuklearen Abrüstung ein, schaffte die Todesstrafe ab und lancierte eine Initiative zur Reduktion des CO2-Ausstosses. Gerade für ein Land, dessen Wirtschaft in hohem Mass vom Verkauf von Erdöl und -gas abhängt, ist letzteres eine bemerkenswerte Initiative.
  Bei der Diskussion der internationalen Rolle Kasachstans geht gerne vergessen, dass das Land eben auch Teil Europas ist, denn der gemeinhin als geographische Ostgrenze Europas angesehene Ural-Fluss liegt 200 bis 400 km östlich der kasachischen Westgrenze. Damit ist der europäische Teil des kasachischen Territoriums grösser als mancher europäische Staat.
  In den letzten Jahren profilierte sich Kasachstan mehrere Male als Vermittler in aktuellen Konflikten und als Gastgeber von hochrangigen internationalen Konferenzen.
  Das Verhältnis Kasachstans zu Russland ist von der gemeinsamen Geschichte geprägt. Die Steppenvölker, die im Mittelalter wiederholt Russland überfielen, stammten auch aus dem Gebiet des heutigen Kasachstan. Nachdem im 19. Jahrhundert die russischen Zaren nach und nach alle Gebiete Zentralasiens in ihr Reich einverleibt hatten, schwankte ihre Politik zwischen Pragmatismus, der sich mit der Kontrolle von Territorium und Grenzen begnügte, und Russifizierung. Den entscheidenden Beitrag zur Entwicklung Kasachstans leistete aber die Sowjetunion, wenn auch mit den überall üblichen brachialen Methoden. In zivilisierter Form setzte sich dieser Entwicklungsschub nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fort, woran die «europäischen» Sowjetrepubliken Russland, Ukraine und Belarus einen besonders grossen Anteil hatten. Kasachstan profilierte sich seit seiner Unabhängigkeit als Vielvölkerstaat, der geradezu stolz darauf ist, dass in seinen Grenzen um die 50 Ethnien aus allen Teilen der ehemaligen Sowjetunion ansässig sind. In diesem Sinn ist es als ein Ausdruck der Klugheit zu werten, dass Kasachstan bislang keine -Politik der Nationalisierung betrieb, wie sie im postsowjetischen Raum schon mehrfach zu Konflikten führte. Einen Nationalitätenkonflikt anzufeuern, würde die staatliche Einheit des Landes gefährden und könnte insbesondere zum Verlust des Nordteils des Landes führen, wo immer noch viele ethnische Russen leben.

Spitzenkandidaten und ihre Parteien 

Im Nachgang zu Wahlen in Kasachstan stellten die Wahlbeobachter der OSZE jeweils fest, dass diese nicht nach international gebräuchlichen Standards abgelaufen seien. Auch im Rating der verschiedenen Indizes für Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und anderes schneidet das Land in der Regel schlecht ab. Das hat auch strukturelle Gründe und beschränkt sich keineswegs auf die Regierung des Nursultan Nazarbayev. Wie in anderen zentralistischen Ländern existiert auch in Kasachstan keine demokratische oder föderale Tradition. Weder die Herrschaft der Zaren noch der Sowjetfunktionäre vermochte die alten Strukturen zur Gänze zu beseitigen, die schon im Mittelalter entstanden waren.
  Jede beliebige kasachische Regierung ist gezwungen, ein Gleichgewicht unter den Nationalitäten zu bewahren. Insofern sind viele der ehemaligen Sowjetrepubliken bis heute keine vollständig stabilen politischen Gebilde. Unter der Oberfläche einer modernen Gesellschaft blieben in Kasachstan noch alte Strukturen von Stämmen und Clans erhalten, die ganz entfernt an die drei Horden erinnern, die vor der Ankunft der Zaren das Land strukturiert hatten. In diesen Strukturen werden politische Fragen wohl noch heute besprochen und entschieden. Wenn in den zentralasiatischen Republiken eine politische Frage ins Parlament eingebracht wird, ist sie oftmals bereits entschieden, und Abstimmungsergebnisse von 90 % und mehr sind eher Ausdruck geleisteter ausserparlamentarischer Bemühungen als Ausdruck autoritärer Methoden.
  Auch der politische Kampf im heutigen Kasachstan dürfte zu einem wesentlichen Teil ausserhalb von Parteien und Parlament stattfinden. Obwohl er einst der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Kasachstans gewesen war, gründete Nursultan Nazarbayev im Jahr 1999 in Form der Nur-Otan seine eigene Partei und benachteiligte die KP im Wahlkampf, so dass diese den Einzug in die Mäschilis (auch: Madschlis), ins Unterhaus des Parlaments, verpasste. Vielsagend ist auch, dass Nazarbayevs Tochter Dariga, die er während Jahren als seine potentielle Nachfolgerin aufzubauen suchte, ihre eigene Partei gründete, die Asar-Partei. Diese Partei schloss sich im Jahr 2006 wieder mit jener ihres Vaters zusammen. In Kasachstan haben eben Parteien nicht ihre Spitzenkandidaten, sondern Spitzenkandidaten ihre eigene Partei.  
  Der lange Schatten des «Übervaters» Nursultan Nazarbayev hängt auch heute noch über dem Land. Er war noch zu Zeiten der Sowjetunion Erster Sekretär der Kommunistischen Partei des Landes gewesen, wurde eine Zeit lang als Kandidat für den Posten des Ministerpräsidenten der Sowjetunion gehandelt und unterstützte Boris Jelzin im Widerstand gegen die Putschisten im August 1991. Erst, als das Ende der Sowjetunion als Tatsache feststand, erklärte er sein Land als letzte Republik der Sowjetunion für unabhängig. Er regierte das Land 29 Jahre lang. Ohne seine Unterstützung hätte keine der Personen, die im aktuellen Konflikt als Protagonisten auftreten, ihre Karriere machen können. Und jede dieser Personen braucht ihre Machtbasis in Form eines Clans oder zumindest einer Seilschaft.
  Die Nazarbayevs stammen aus der Region Almaty (früher Alma-Ata) im Süden des Landes, wo die jüngsten Unruhen ihren Ausgang nahmen. Mehrere Offshore-Skandale, welche ans Tageslicht brachten, dass Mitglieder des Nazarbayev-Clans bedeutende Vermögenswerte im Ausland haben, mögen dem Ansehen des Clans geschadet haben. Der letzte ereignete sich im Dezember 2020. Ob Nazarbayevs Tochter Dariga nun wirklich in die Fussstapfen ihres Vaters treten wird, bleibt unklar: Das Showbusiness scheint ihr eher zu liegen, tat sie sich doch mit Fernsehauftritten hervor, in welchen sie volkstümliche und populäre Lieder zum Besten gab.
  Als Nursultan Nazarbayev im Jahr 2019, für viele überraschend, als Präsident zurücktrat und seinen Posten an Kassym-Jomart Tokayev abgab, begründete er diesen Schritt damit, dass er eine Situation wie in den Schlussjahren der Sowjetunion vermeiden möchte. Damals erwiesen sich greise Partei- und Staatschefs als unfähig, ihre Funktionen weiterhin auszuüben. Das nährt heute Spekulationen, ob Nazarbayev noch in der Lage ist, die Rolle des Strippenziehers im Hintergrund, in die er sich nach 2019 zurückgezogen hatte, wahrzunehmen.
  Kassym-Jomart Tokayev, der im Jahr 2019 auf Nazarbayev folgte, ist ein gelernter Aussenpolitiker und Diplomat, der Russland und China aus eigener Anschauung kennt, die -Politik der nuklearen Abrüstung seines Ziehvaters umsetzte und dessen Reform-Agenda zielstrebig weiterbetrieb. Er amtete auch als Unter-Generalsekretär der Uno am Standort Genf und verbrachte ganz generell viel Zeit im Ausland, so dass er von den Protagonisten im heutigen Konflikt wohl derjenige ist, der am wenigsten in der Lage war, sich eine eigene Machtbasis in Form eines politischen Clans zu schaffen. Er hatte wohl kaum Interesse daran, einen politischen Konflikt im Land vom Zaun zu reissen. Allenfalls zwangen ihn aber die Schwäche Nazarbayevs, die Ambitionen von Dariga Nazarbayeva oder eine sich abzeichnende Krise im Zuge der Covid-19-Pandemie zum Handeln.

Kein Ost-West-Schema

In einem politischen System, dessen Funktionieren auf einem sorgsam austarierten Gleichgewicht zwischen verschiedenen Fraktionen beruht, überrascht es nicht, dass sich verschiedene Feinde rasch erheben, wenn die Macht einmal Schwäche zeigt. In diesem Licht ist es glaubwürdig, wenn von äusseren Feinden die Rede ist, welche sich in den Konflikt um Treibstoffpreise einmischten und einen Umsturz der politischen Verhältnisse einzuleiten versuchten. In einem Gebilde mit einem sich volksnah gebenden «Übervater» besteht für jeden Politiker die Gefahr, dass er für Fehlentwicklungen und Unzufriedenheit in der Bevölkerung zum Sündenbock gemacht und abserviert wird. Insofern erzeugten die Proteste in Almaty zu Beginn des Monats wohl einen enormen Handlungsdruck. Verschiedene Akteure dürften versucht haben, die Lage rasch zu ihren eigenen Gunsten auszunutzen. Derzeit scheint es, als sei dies Tokayev am besten gelungen.1
  Zweifellos waren die kasachischen Behörden auf den Ausbruch von Unruhen vorbereitet. Die Abschaltung von Internet und Mobiltelefon-Netzen war wohl schon lange im Sinne einer Eventualplanung vorbereitet. Es würde auch überraschen, wenn die kasachischen Behörden über die Stimmung im Land nicht informiert gewesen wären. Der Umstand, dass Demonstranten gerade in der Region Almaty Regierungsgebäude in Brand setzen und wichtige Objekte besetzen konnten, kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass sie im Kreis der Sicherheitskräfte gewisse Sympathien genossen. Dieser Umstand könnte gerade für den Nazarbayev-Clan peinlich werden und ihm schaden.
  Präsident Kassym-Jomart Tokayev zögerte nicht lange, ein hartes Vorgehen gegen die Demonstranten anzudrohen. Das basiert sicher auch auf den Erfahrungen aus den Protesten auf dem Maidan Nezalezhnosti in Kiew 2014 und in Belarus 2020. In dieser Hinsicht setzte ihm aber der Umstand, dass es sich bei wesentlichen Teilen der Nationalgarde Kasachstans um Wehrpflichtige handelt, die ihren Dienst ohne Schusswaffe versehen, gewisse Grenzen. Die rasch eingeflogenen Peacekeeping-Truppen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit OVKS (engl. CSTO, russisch OBKB) konzentrierten sich auf den Schutz wichtiger Objekte zwecks Verhinderung eines Staatsstreichs und mischten sich nicht in die Konflikte mit den Demonstranten ein. Im Unterschied zur Prognose von US-Aussenminister Blinken ziehen sie auch schon bald wieder ab.
  Es ist sicherlich irreführend, wenn man die jüngsten Unruhen in Kasachstan in einen Ost-West-Zusammenhang einordnet, in welchem Demokraten gegen ein autoritäres Regime ankämpfen. Dazu unterscheiden sich die Verhältnisse im Land zu sehr von jenen Westeuropas. Viele der Entscheidungswege sind auch wenig transparent, so dass der externe Beobachter Mühe haben wird, diese im konkreten Fall zu rekonstruieren. Sollte in der Form Kasachstans ein weiterer Staat, der sich um eine eigenständige Position in der Weltpolitik bemühte, in ein Ost-West-Schema gezwungen werden, dann heisst das nichts Gutes für die Bereitschaft des Westens zu Kompromissen und für die Rolle, die er ungebundenen Staaten zuzugestehen bereit ist. Washington teilt die Welt weiterhin ein in Schwarz und Weiss und agiert nach der Devise: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Vielleicht wäre es heilsam, wenn man dem Westen einmal aufzeigen würde, dass er sich selbst isoliert.  •



1 Sein Vortrag an der Sitzung der Staatschefs der OVKS ist online verfügbar unter https://youtu.be/UFg-rc90VkQ

* Ralph Bosshard studierte Allgemeine Geschichte, osteuropäische Geschichte und Militärgeschichte, absolvierte die Militärische Führungsschule der ETH Zürich sowie die Generalstabsausbildung der Schweizer Armee. Im Anschluss daran folgte eine Sprachausbildung in Russisch an der Staatlichen Universität Moskau sowie eine Ausbildung an der Militärakademie des Generalstabs der russischen Armee. Mit der Lage in Osteuropa und Zentralasien ist er aus seiner sechsjährigen Tätigkeit bei der OSZE vertraut, in der er unter anderem als Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz tätig war.

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK