Grüsse aus Wolgograd

von Jury Fjodorowitsch Starovatych, Wolgograd*

Liebe Freunde!
  Ich übermittle Ihnen die herzlichsten Grüsse aus Wolgograd, dem früheren Stalingrad.
  Zuallererst gebührt den Organisatoren dieses Forums – dem besten Forum von Bürger zu Bürger, wie ich finde – der respektvollste menschliche Gruss. Ich danke Ihnen sehr!

Ich möchte auch Ihnen danken – all jenen, die dem Forum ihre physische oder virtuelle Präsenz verliehen haben –, dass Sie in diesen schwierigen Zeiten, in denen die Welt selbst verrückt geworden ist, in denen die heftigste Russophobie in den Völkermord an allem Russischen übergegangen ist und sogar die Namen von Tschaikowsky, Mussorgsky und Schostakowitsch von den Plakatwänden getilgt werden, einen gesunden Geist bewahrt haben.
  Glauben Sie mir, meine Freunde – als 80jähriger Mann, der 60 Jahre lang der Sache des Weltfriedens gedient hat, habe ich zu dieser Situation vieles zu sagen. Und doch werde ich mich heute auf die Worte der Dankbarkeit beschränken.
  Denn das Wichtigste ist, dass wir alle Menschen sind (und keine gewalttätigen Bestien), und das «Manifest für Europa», das auf der Konferenz «Mut zur Ethik» 2015 verabschiedet wurde, zitiert: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen». [Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte]
  Der deutsche Militärarzt Kurt Reuber, der in Stalingrad eingekesselt in einem gefrorenen Fuchsbau im Schein einer einzigen Kerze sass, zeichnete auf der Rückseite einer geografischen Karte die Madonna mit Kind – ein Bild, das heute als «Stalingrad-Madonna» bekannt ist – und schrieb die Worte «Licht, Leben, Liebe». Dies sind die wichtigsten Formeln in unserem Leben.
  Es gibt ein weiteres Beispiel. Am 21. August 2022 begrüsste Wolgograd die Teilnehmer einer Kundgebung für «Frieden und Freundschaft mit Russland» – die Kundgebung, über die die Zeitungen unserer Stadt viel geschrieben haben. Sechzehn deutsche Bürgerinnen und Bürger unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Lebensweisen und Weltanschauungen wurden durch ein einziges Ziel zusammengebracht – den Aufruf zu Frieden und Zusammenarbeit.
  Der Organisator der Kundgebung, Herr Reinhold Gross, sagte unseren Journalisten, dass ihre Gruppe die Gruppe «der Deutschen ist, die keine Russophobie unterstützen und die verstehen, was genau jetzt in Deutschland und in Europa als Ganzes passiert. Natürlich wird es für uns gefährlich sein, zurückzukehren, denn die Mission, die uns hierher gebracht hat, läuft der offiziellen deutschen Regierung zuwider, und so könnten wir Repressionen ausgesetzt sein. Unsere Bankkonten könnten geschlossen werden, wir könnten entlassen werden. Aber wir lassen uns davon nicht einschüchtern, denn es ist die Freundschaft zwischen den Völkern, die am wichtigsten ist, und so werden wir unseren Weg mit offenem Herzen fortsetzen.»
  Eine weitere Sache, mit der Reinhold Gross völlig Recht hatte, ist, dass «wir eine Volksdiplomatie aufbauen – eine Basisdiplomatie. Wir zeigen, dass wir ein Herz haben und dass wir für den Frieden sind. Wir sind in Russland immer herzlich aufgenommen worden, trotz der sehr schwierigen Vergangenheit zwischen Deutschland und Russland. Meinen russischen und deutschen Freunden sage ich immer wieder: Schauen Sie nicht zurück. Wir müssen nur nach vorne schauen, auf das, was die Zukunft für uns bereithält. Und was 1941 geschehen ist, wird und darf sich nie wiederholen.»
  Am 21. August 2022 begrüsste ich zusammen mit meinen Kollegen die Teilnehmer der Kundgebung im Büro der Wolgograder Friedensstiftung und sagte ihnen: «Unser heutiges Treffen ist ein bemerkenswertes Ereignis. Es ist wie ein einzelner Grashalm, der seinen Weg durch den Asphalt gefunden hat, und von diesem Spross müssen sich Vernunft und Frieden wieder auf dem ganzen Planeten ausbreiten.»
  Vor nicht allzu langer Zeit erklärte die dänische Premierministerin Mette Frederiksen: «Dies ist mehr als ein Krieg um Territorien und Grenzen. Dies ist ein Krieg um das, woran wir glauben. Dies ist der Krieg gegen die Werte, auf denen Europa und die freie Welt aufgebaut sind.»
  Nur, dass es in Russland schon lange nicht mehr das gibt, wovon sie reden – die Tyrannei und die Unterdrückung. Sie haben auch nicht das, was sie ihre «Werte» nennen: weder Freiheit noch Demokratie. Die Worte sind noch da, die Werte selbst sind verschwunden.
  Und so denke ich in Anbetracht dieser beiden Tatsachen aus dem Leben des Russen und der Deutschen jetzt viel über meine Teilnahme am Nürnberger Kongress der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Jahr 1985 nach. Dieser Kongress wurde von dem unvergessenen Willy Brandt geleitet und stand unter dem Motto «40 Jahre danach: Ost – West». Sowohl bei meiner Teilnahme an diesem Kongress als auch bei meinen Gesprächen mit Willy Brandt und Egon Bahr ging es darum, dass wir nur durch Versöhnung Frieden in Europa schaffen können. Ist es also nicht an der Zeit, dass Olaf Scholz innehält, zur Vernunft kommt und sich für das Wohl der deutschen Bürger einsetzt – statt Biden entgegen dem gesunden Menschenverstand zu bedienen?
  Aber halt!
  Verzeihen Sie mir, meine Freunde, dass ich mein früheres Versprechen gebrochen habe, mich nur auf Worte des Dankes zu beschränken.
  Erinnern wir uns an das Jahr 1950, als in Warschau der Internationale Kongress der Freunde des Friedens stattfand, der Kongress, der die Gründung des Weltfriedensrates beschloss. 226 Delegierte wurden in das erste Gremium des Rates gewählt, dessen Vorsitz der Nobelpreisträger Frédéric Joliot-Curie innehatte. In 72 Jahren wurde viel getan, und doch hat dieser wichtige Rat in letzter Zeit kaum eine Rolle gespielt, obwohl der Friedenswille der Völker ein wichtiger Faktor für die Deeskalation der internationalen Spannungen ist.
  Widmen wir unsere Herzen der Suche nach Mitteln und Wegen, um diese Organisation wieder aktiv werden zu lassen, damit die Internationale Bewegung der Freunde des Friedens und ihr Kampforgan, der Weltfriedensrat, wieder nach verschiedenen Aktionsformen suchen und diejenigen vereinen, die den Frieden hochhalten.
  Abschliessend möchte ich betonen, dass nicht alles so düster ist, wie es scheint, und dass wir unseren Kampf für das Recht auf Leben fortsetzen werden!  •

(Übersetzung Zeit-Fragen)


* Vortrag bei der Jahreskonferenz der Arbeitsgemeinschaft «Mut zur Ethik» («Europa – welche Zukunft wollen wir?») vom 2.–4. September 2022

Jury Fjodorowitsch Starovatych, geboren 1937 in Stalingrad, war von 1986 bis 1990 der Oberbürgermeister der Stadt Wolgograd. Während der Schlacht um Stalingrad war er vom August 1942 bis Februar 1943 evakuiert. Er ist ausgebildeter Bauingenieur und war 21 Jahre im Baubereich tätig. Mitgebaut hat er das Panorama-Museum «Die Stalingrader Schlacht»; die U-Bahn und mehrere Objekte des sozialen Bereiches.
  Er war Vize-Präsident der internationalen Organisation «Mayors for Peace», Mitglied des Exekutivbüros zahlreicher internationalen Organisationen wie «The International Association of Peace Messenger Cities», der Föderation der Partnerstädte u. a. Bis heute engagiert er sich für Städtepartnerschaften von Wolgograd in der ganzen Welt.
  In seiner Amtszeit als Oberbürgermeister der Stadt Wolgograd wurden 40 Städtepartnerschaften u.a. mit Chemnitz und Köln, Toronto (Kanada) und Cleveland (USA) abgeschlossen.
  Jury Starovatych ist der Vorsitzende des Vorstandes der Wolgograder Vertretung der internationalen öffentlichen Stiftung «Russische Friedensstiftung».
  Er ist Träger zahlreicher Ehrentitel, u.a. Ehrenbürger der Stadt Hiroshima und Träger der Ehrenmedaille «Für die Festigung des Friedens und der Verständigung zwischen den Völkern».

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