Die ukrainische Flüchtlingsfrage

Die Nachbarn der Ukraine drängen Selenski zum Frieden, während Millionen von Vertriebenen nach Europa strömen

von Seymour Hersh

Am vergangenen Samstag veröffentlichte die «Washington Post» ein Exposé geheimer amerikanischer Dokumente des Nachrichtendienstes, aus denen hervorgeht, dass der ukrainische Präsident Selenski hinter dem Rücken von Bidens Weissem Haus Anfang des Jahres auf eine erweiterte Serie von Raketenangriffen auf Russland drängte. Die Dokumente waren Teil eines umfangreichen Verschlusssachenpakets, das von einem inzwischen inhaftierten Angehörigen der Luftwaffe ins Internet gestellt wurde. Ein hochrangiger Beamter der Biden-Administration, der von der «Washington Post» um eine Stellungnahme zu den neu aufgedeckten Geheimdienstinformationen gebeten wurde, sagte, Selenski habe nie gegen sein Versprechen verstossen, niemals amerikanische Waffen für Angriffe auf Gebiete innerhalb Russlands einzusetzen. Nach Ansicht des Weissen Hauses kann Selenski nichts falsch machen.
  Selenskis Wunsch, den Krieg nach Russland zu tragen, mag dem Präsidenten und den ranghohen aussenpolitischen Beratern im Weissen Haus nicht klar sein, wohl aber jenen in der amerikanischen Geheimdienstgemeinschaft, die Schwierigkeiten hatten, ihren Informationen und Einschätzungen im Oval Office Gehör zu verschaffen. Unterdessen geht das Gemetzel in der Stadt Bachmut weiter. Es ähnelt in seiner Idiotie, wenn auch nicht in der Zahl der Opfer, dem Gemetzel in Verdun und an der Somme während des Ersten Weltkriegs. Die für den heutigen Krieg verantwortlichen Männer in Moskau, Kiew und Washington haben nicht einmal an vorübergehenden Waffenstillstandsgesprächen Interesse gezeigt, die als Auftakt zu etwas Dauerhaftem dienen könnten. Zurzeit wird nur über die Möglichkeit einer Offensive im späten Frühjahr oder Sommer durch eine der beiden Parteien gesprochen.

Informelle europäische Gespräche

Wie einige amerikanische Geheimdienstler wissen und im geheimen berichtet haben, wird auf Betreiben von Regierungsvertretern auf verschiedenen Ebenen in Polen, Ungarn, Litauen, Estland, Tschechien und Lettland jedoch noch etwas anderes vorbereitet. Diese Länder sind allesamt Verbündete der Ukraine und erklärte Feinde von Wladimir Putin.
  Diese Gruppe wird von Polen angeführt, dessen Führung die russische Armee nicht mehr fürchtet, weil ihre Leistung in der Ukraine den Glanz ihres Erfolges bei Stalingrad während des Zweiten Weltkrieges in Scherben gelegt hat. Sie hat Selenski im stillen dazu gedrängt, einen Weg zu finden, den Krieg zu beenden – notfalls auch durch seinen Rücktritt – und den Wiederaufbau seines Landes in Angriff zu nehmen. Selenski lässt sich nicht beirren, wie aus abgehörten Nachrichten und anderen Daten hervorgeht, die der CIA bekannt sind, aber er beginnt, die persönliche Unterstützung seiner Nachbarn zu verlieren.
  Eine der treibenden Kräfte für die informellen europäischen Gespräche mit Selenski waren die mehr als fünf Millionen Ukrainer, die vor dem Krieg geflohen sind und die Grenzen des Landes überquert haben und sich bei den Nachbarn im Rahmen eines EU-Abkommens für einen vorübergehenden Schutz registriert haben, der Aufenthaltsrechte, Zugang zum Arbeitsmarkt, Wohnraum, Sozialhilfe und medizinische Versorgung umfasst. Laut einer vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge veröffentlichten Einschätzung sind in dieser Bestandsaufnahme rund drei Millionen ukrainische Flüchtlinge nicht enthalten, die ohne Visum aus dem Kriegsgebiet in eines der 27 europäischen Länder, die im Rahmen des Schengen-Abkommens die Grenzkontrollen untereinander abgeschafft haben, geflohen sind. Obwohl die Ukraine nicht zur EU gehört, geniesst sie nun alle Vorteile des Schengen-Pakts. Einige vom 15monatigen Krieg erschöpfte Staaten haben wieder gewisse Formen von Grenzkontrollen eingeführt, aber die regionale Flüchtlingskrise wird nicht gelöst, solange es kein formelles Friedensabkommen gibt.
  Das UNHRC berichtet, dass der freie Reiseverkehr aus der Ukraine in die baltischen Staaten und die EU-Staaten in Westeuropa «es besonders schwierig macht, genau zu bestimmen, wie viele Ukrainer in den letzten Monaten die EU erreicht haben und wo sie sich jetzt aufhalten». Dem Bericht zufolge handelt es sich bei der «überwiegenden Mehrheit» der ukrainischen Flüchtlinge um Frauen und Kinder, und ein Drittel von ihnen ist unter 18 Jahre alt. 73 Prozent der Flüchtlinge im arbeitsfähigen Alter sind Frauen, viele mit Kindern.

Enorme Kosten

Eine im Februar vom Council on Foreign Relations durchgeführte Analyse der europäischen Flüchtlingsproblematik ergab, dass im ersten Jahr des Krieges «zig Milliarden Dollar» an humanitärer Hilfe in die Nachbarländer der Ukraine geflossen sind. «Da der Konflikt in sein zweites Jahr geht und kein Ende in Sicht ist», heisst es in dem Bericht, «machen sich Experten Sorgen, dass die Aufnahmeländer müde werden».
  Vor einigen Wochen habe ich erfahren, dass die amerikanischen Geheimdienste wissen, dass einige Offizielle in Westeuropa und den baltischen Staaten ein Ende des Krieges zwischen der Ukraine und Russland wünschen. Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass es für Selenski an der Zeit ist, «umzukehren» und eine Einigung anzustreben. Ein sachkundiger amerikanischer Beamter sagte mir, dass einige in der Führung Ungarns und Polens zu denen gehören, die sich dafür einsetzen, dass die Ukraine in ernsthafte Gespräche mit Moskau einbezogen wird. «Ungarn ist ein wichtiger Akteur in dieser Angelegenheit, ebenso wie Polen und Deutschland, und sie arbeiten daran, Selenski zum Einlenken zu bewegen», so der amerikanische Beamte. Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben deutlich gemacht, dass «Selenski behalten kann, was er hat» – eine Villa in Italien und Anteile an Offshore-Bankkonten –, «wenn er ein Friedensabkommen ausarbeitet, selbst wenn er dafür bezahlt werden muss, wenn das der einzige Weg ist, um ein Abkommen zu erzielen».

Noch lehnt Selenski den Abgang ab

Bisher, so der Beamte, hat Selenski solche Ratschläge abgelehnt und Angebote von hohen Geldsummen ignoriert, die ihm den Rückzug auf ein ihm gehörendes Anwesen in Italien erleichtern sollten. In der Biden-Administration gibt es keine Unterstützung für eine Einigung, die Selenskis Abgang beinhaltet, und die Führung in Frankreich und England ist Biden gegenüber «zu stark verpflichtet», als dass sie ein solches Szenario in Betracht zieht. Es gibt eine Realität, die einige Elemente in der amerikanischen Geheimdienst-Community nicht ignorieren können, sagte der Beamte, auch wenn das Weisse Haus sie ignoriert: «Der Ukraine geht das Geld aus, und es ist bekannt, dass die nächsten vier Monate kritisch sind. Und die Osteuropäer sprechen über einen Deal.» Das Problem für sie, so der Beamte, «ist, wie man die USA dazu bringen kann, Selenski nicht mehr zu unterstützen». Die Unterstützung des Weissen Hauses geht über die Erfordernisse des Krieges hinaus: «Wir zahlen alle Rentenfonds für die Ukraine.»
  Und Selenski will mehr, sagte der Beamte. «Selenski sagt uns, wenn ihr den Krieg gewinnen wollt, dann müsst ihr mir mehr Geld und mehr Material geben. Er sagt uns: ‹Ich muss die Generäle auszahlen.› Er sagt uns – wenn er aus dem Amt gedrängt wird – ‹geht er an den Meistbietenden›. Er würde lieber nach Italien gehen, als zu bleiben und möglicherweise von seinen eigenen Leuten getötet zu werden.»
  «Aber wie üblich», so der Beamte, «ist den Geheimdiensten nicht klar, was der Präsident und seine aussenpolitischen Berater im Weissen Haus über die Realität wissen», was die europäische Diskussion über einen Weg zur Beendigung des Krieges angeht. «Wir bilden die Ukrainer immer noch darin aus, unsere F-16 zu fliegen, die von Russland abgeschossen werden, sobald sie in das Kriegsgebiet kommen. Die Mainstream-Presse widmet sich Biden und dem Krieg, und Biden spricht immer noch über den grossen Satan in Moskau, während es der russischen Wirtschaft gut geht. Putin kann bleiben, wo er ist» – an der Macht – «obwohl es ihm nicht gelungen ist, die Ukraine als unabhängigen Staat von der Landkarte zu tilgen. Und er dachte, er würde den Krieg mit nur einer Luftlandedivision gewinnen» – eine sardonische Anspielung auf Russlands gescheiterten Versuch in den ersten Tagen des Krieges, einen wichtigen Flughafen durch den Absprung einer Angriffstruppe zu erobern.

Das Weisse Haus ist das Problem

«Europas Problem», so der Beamte, sei im Hinblick auf eine schnelle Beilegung des Krieges, «dass das Weisse Haus will, dass Selenski überlebt, während es andere gibt» – in Russland und in einigen europäischen Hauptstädten – «die sagen, dass Selenski gehen muss, egal was passiert».
  Es ist nicht klar, ob dieses Verständnis bis ins Oval Office vorgedrungen ist. Mir wurde gesagt, dass einige der besseren Geheimdienstinformationen über den Krieg den Präsidenten nicht erreichen, und zwar ohne dass diejenigen, die die oft gegenteiligen Einschätzungen erstellen, daran Schuld wären. Biden verlässt sich angeblich auf Briefings und andere Materialien, die von Avril Haines, der Direktorin des Nationalen Nachrichtendienstes, seit dem Amtsantritt der Regierung Biden erstellt wurden. Sie hat einen Grossteil ihrer Laufbahn im Dienste von Aussenminister Anthony Blinken verbracht, dessen Beziehungen zu Biden und dessen Übereinstimmung mit ihm in Angelegenheiten, die Russland und China betreffen, Jahrzehnte zurückreichen.
  Die einzige Rettung für einige in der Geheimdienst-Community, so wurde mir gesagt, war der CIA-Direktor William Burns. Burns war Botschafter in Russland und stellvertretender Aussenminister und wird als jemand angesehen, der sich gegen einige der aussenpolitischen Torheiten des Weissen Hauses gestellt hat. «Er will keine Ratte auf einem sinkenden Schiff sein», sagte mir der Beamte.
  Andererseits wurde mir gesagt, dass diejenigen in der CIA, die den President’s Daily Brief vorbereiten, nicht wissen, ob Joe Biden ein regelmässiger Leser ihrer Geheimdienstzusammenfassung ist. Das Dokument ist normalerweise drei Seiten lang. Vor Jahrzehnten wurde mir gesagt – von jemandem, der mich damals bat, nicht darüber zu schreiben –, dass Ronald Reagan den President’s Daily Brief nur selten las, bis Colin Powell, der damals im Weissen Haus war, begann, ihn auf einem Videorekorder vorzulesen. Das Band wurde dann dem Präsidenten vorgespielt. Es ist unklar, wer, wenn überhaupt, die Initiative als Bidens Colin Powell ergreifen könnte. •

Quelle: © Seymour Hersh; https://seymourhersh.substack.com/  vom 17.5.2023

(Übersetzung Anti-Spiegel/Zeit-Fragen)

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