Warum wir uns alles gefallen lassen – ein Beitrag zu einer längst fälligen Diskussion

von Urs Graf

Die Schweiz mit ihrer Neutralität wird aus Europa und aus Übersee angefeindet. Eine treibende Kraft hinter diesen Angriffen liegt seit längerem in der Aussenpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika. Dieses Vorgehen mit wirtschaftlichen Pressionen und moralischer Untergrabung weist einige der nichtmilitärischen Merkmale eines sogenannten hybriden Krieges auf. Viel Demütigendes haben wir uns in den letzten Jahrzehnten anhören müssen. Grund genug, über die Verhältnisse in dieser Welt nachzudenken. Woher kommt eigentlich diese Geringschätzung unserer politischen Kultur und Geschichte? Es wird Zeit, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Doch dazu braucht es eine Analyse, wie es zu dieser Situation gekommen ist, einen Blick in die Geschichte bzw. die geschichtliche Entwicklung des 20. Jahrhunderts.

Von der «Schwesterrepublik» …

Im 20. Jahrhundert erhielt die Beziehung zwischen der Schweiz und den USA eine neue Qualität. Die beiden Staaten galten zuvor lange Zeit als (zwar sehr ungleiche) «Schwesterrepubliken». Mit dem amerikanischen Eintritt in den Ersten Weltkrieg entstand eine neue Situation. Mit ihrem Griff nach Europa begannen die USA, das britische Empire schrittweise von seiner Weltherrschaft abzulösen, und sie nahmen starken Einfluss auf den Vertrag von Versailles, der schon die Saat für den nächsten Krieg enthielt. Russland war damals kriegsgeschwächt und mit seiner bolschewistischen Revolution und den begleitenden Kriegen beschäftigt. Und für viele verarmte Europäer wie auch für die (damals noch immer) Auswanderernation Schweiz blieb das aufstrebende Amerika ein Fluchtpunkt, worauf sich die Hoffnungen vieler auf ein besseres Leben richteten, getreu dem Wunschbild «vom Tellerwäscher zum Millionär».
  Dann kam Ende der 1920er Jahre die schwere Wirtschaftskrise, welche den sozialen Fehl-entwicklungen in Richtung Faschismus/Totalitarismus mächtigen Auftrieb verlieh. Am Horizont zeichnete sich der nächste grosse Krieg ab. Gerade noch rechtzeitig fand die Schweizer Bevölkerung zu einem besseren Zusammenhalt zurück und konnte damit einen verschärften Klassenkampf und die Zerstörung ihrer Demokratie abwenden. Sie beschloss den «Arbeitsfrieden» unter den Sozialpartnern und die gemeinsame Wehrbereitschaft aller politischen Parteien gegen den nationalsozialistischen Machtanspruch. In den Jahren des Zweiten Weltkrieges bewährte sich dieses Zusammenstehen, und die Schweiz gewann international an Ansehen. Neutralitätsschutz, humanitäre Hilfe und dann die Beteiligung am Wiederaufbau der verheerten Länder Europas waren grosse Aufgabenfelder unseres Landes, in denen sich die sogenannte Aktivdienstgeneration ausser-ordentlich bewährte. Aber wie schon General Henri Guisan voraussagte, kamen neue Bewährungsproben auf unser Land zu.
  Nach Kriegsende begannen die Westalliierten, den Sieg gegen die Achsenmächte für sich allein zu beanspruchen, obwohl vor allem die Völker der Sowjetunion unter schweren Opfern entscheidend dazu beigetragen hatten. Aber der sogenannte Kalte Krieg war schon geplant, als sich die deutsche Wehrmacht noch im Rückzugsgefecht befand. Es war das angloamerikanische Ziel, mittels der deutschen Heere die kommunistische Sowjetunion zu zerstören (wie Truman noch vor seiner Wahl zum US-Präsidenten im Ausschuss für Rüstungsproduktion verkündete), und dadurch Zugriff auf das alte Zarenreich, das «Herzland», zu nehmen, wie es der Brite Mackinder empfohlen hatte. Diese Strategie erwies sich als Fehlschlag. Aber unter der amerikanischen Besatzung in Westeuropa wurde sofort wieder eine Front gegen die Sowjetunion aufgebaut. Nach dem Prinzip «die Feinde unserer Feinde (sind unsere Freunde?) …» rezyklierte man – unbesehen ihrer Verbrechen – kriegserfahrene Faschisten und setzte sie erneut gegen die Sowjetunion und auch gegen die neu aufkommenden antikolonialen Bewegungen in Südamerika, Afrika und Asien ein.

… zur «ungefügigen kleinen» Schwester

Schon während des Zweiten Weltkrieges wurde die Schweizer Neutralität vor allem durch die westalliierten Kriegsmächte missachtet, indem diese das Territorium der Schweiz für umfangreiche geheimdienstliche Aktivitäten missbrauchten, mit ihren Bombergeschwadern systematisch den neutralen Luftraum verletzten, wobei sie auch schweizerische Abwehrkräfte und sogar Siedlungen angriffen. Die Schweiz erfüllte aber ihre Aufgabe als neutrales Land treu und war fast weltumspannend humanitär tätig. Diese enorme Arbeit wurde durch ihre Beamten und Zivilpersonen zuverlässig, opferbereit und ohne Medienspektakel geleistet.
  Die Schweiz unterstützte in der Nachkriegszeit nach Kräften den Wiederaufbau der europäischen Länder und gründete mit ihnen zusammen eine Vorläuferorganisation der EFTA. Als dieses insbesondere von Charles de Gaulle angestrebte «Europa der Vaterländer» schon Gestalt angenommen hatte, wurde es von amerikanischer Seite hintertrieben, weil diese eine Sicherheitsarchitektur verlangte, die ihre Vorherrschaft absicherte. Mit ihrer Wirtschaftspolitik verfolgte sie in Europa das Ziel einer politischen Union nach der Strategie ihres Agenten Jean Monnet, der eine Art United States of Europe unter der Führung der USA plante.
  Die Europäer waren mit dem Wiederaufbau ihrer zerstörten Länder beschäftigt, während sich die USA durch den Krieg vor allem von ihrer Wirtschaftskrise erholt hatten. Die europäische Nachkriegsgeneration begann sich auf eine fast devote Art nach dem «American Way of Life» auszurichten, während sie durch harte Arbeit allmählich einen vorerst bescheidenen Wohlstand erlangte. Leider hinkte der geistig-kulturelle Wiederaufbau dem materiellen immer mehr hinterher. In Westeuropa wurde ein Materialismus des Konsums gegen den dialektischen Materialismus in Osteuropa ausgespielt, wo die Menschen bescheidener leben mussten. In den folgenden Jahrzehnten des Kalten Krieges konnte Amerika mit Hilfe unserer Angst vor dem «Kommunismus» und einer aus der Geschichte mitgeschleppten Überheblichkeit der westlichen gegen die «restliche» Welt und im blinden Vertrauen auf seine atomare Übermacht regieren.
  Nach der sogenannten Wende 1989 begannen die angloamerikanischen Angriffe gegen die bis anhin offiziell hoch geschätzte, aber heimlich wohl nur tolerierte Schweizer Neutralität. Sie bezweckten eine moralische Entwertung der Schweizerischen Eidgenossenschaft durch grösstenteils grob unberechtigte Vorwürfe auf Grund ihrer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs.

Pro memoria

Die Situation der Schweiz bezüglich ihrer Flüchtlingspolitik war bereits in den 1960er Jahren sorgfältig und ehrlich aufgearbeitet worden. Man hatte Fehler eingestanden, aber auch die ausserordentlich schwierige Situation der Schweiz angesichts der Umzingelung durch kriegsführende Mächte genau beleuchtet. Erinnert sei hier an die Fernsehdokumentation von Werner Rings, in der er die Rolle der Schweiz als diplomatische Grossmacht während des Krieges sorgfältig darlegte. Die Angriffe auf die Schweiz in den neunziger Jahren übergingen diese Forschungsergebnisse rundweg, ebenso wie die Urheber ihre eigene, unrühmliche Rolle bezüglich der Flüchtlinge verschwiegen. Denn man hatte die Schweiz nach der Konferenz von Evian 1938 angesichts der zu erwartenden Migrationswelle jüdischer und politischer Flüchtlinge schmählich im Stich gelassen. In keinem Land der Welt wurden weder in absoluten Zahlen noch in relativen, gemessen am Anteil der Bevölkerung, mehr jüdische Flüchtlinge aufgenommen als in dem kleinen neutralen Land inmitten der faschistischen Achsenmächte, bedroht von Invasionen und gefordert mit der Versorgung von 4,5 Millionen Einwohnern unter Blockadebedingungen. Warum wurde das alles «vergessen»?

Psychologische Operation …

Es ging offensichtlich um etwas anderes! Die weltweiten Handelsbeziehungen der Schweiz hatten es mit sich gebracht, dass auch viele ausländische Vermögen durch Schweizer Geldinstitute verwaltet wurden. Ein Teil dieser Vermögensbestände blieb nach den gigantischen Menschenverlusten des Weltkrieges liegen, weil die Kontoinhaber nicht mehr auffindbar waren. Im Unterschied zu anderen Ländern wurden diese nachrichtenlosen Vermögen in der Schweiz nicht konfisziert. Auf sie richteten sich nun die Begehrlichkeiten, und nach Jahrzehnten wurde seitens amerikanischer Kreise plötzlich der Vorwurf erhoben, dass die Schweiz vom Judenmord durch die Nazis profitiert habe, und sie gaben sich als Sachwalter der «Geschädigten» aus. Eine Diskreditierungskampagne ging durch die ganze Welt, und Sammelklagen, angeführt von US-amerikanischen Anwälten, forderten Abermilliarden von der Schweiz. Es folgten die jahrelangen, enorm kostspieligen Nachforschungen der sogenannten Volcker-Kommission. Sie ergaben schliesslich den Betrag von etwa 50 Millionen Franken an nachrichtenlosen Vermögen – wie er schon zuvor von den Schweizer Banken selbst eingeschätzt worden war. Diese vereinbarten 1998 mit Richter Kormann einen Vergleich, der sie 1,8Milliarden Franken kostete. Davon wurden schliesslich grosse Anteile nach dem Giesskannenprinzip auch an Empfänger verteilt, die ihre Ansprüche als Nachfahren oder Verwandte von Opfern des Holocaust nur schwach begründeten.
  Zu diesem Zeitpunkt war der Schweizer Bundesrat bereits eingeknickt durch Erpressungen und insbesondere die Drohung der New Yorker Börsenaufsicht, die schweizerischen Geldinstitute vom Handel auszuschliessen. Aber auch seither blieb der Schweizer Finanzplatz Zielscheibe unfreundlicher Massnahmen seitens der US-Konkurrenz. Haben wir vergessen, dass die schweizerischen Transitachsen für die Logistik in Westeuropa sicher nicht weniger wichtig geworden sind, als sie es zur Zeit des Zweiten Weltkrieges waren? In der Hand einer neutralen Schweiz bleiben sie ein Pfand gegen Erpressungen – halt nicht zur Freude aller.

… gegen das Immunsystem der Schweiz

Weitaus grösser als der wirtschaftliche Schaden durch Erpressung war jedoch die emotionale Schwächung einer damals jungen Generation Schweizer infolge dieser ungerechten moralischen Entwertung der historischen Leistung ihrer Grosseltern in der Weltkriegszeit. Die Zeitzeugen der Kriegsgeneration durften nicht einmal mehr zu Wort kommen. Die Schweiz sollte sich schämen, war die Devise. Eine unrühmliche Rolle spielten Kulturschaffende, die sich im Sinne der «Kritischen Theorie» der sogenannten Frankfurter Schule als Avantgarde verstanden. Sie begannen das Land zu diffamieren, welches ihnen eine gute Bildung und die Möglichkeit unzensurierten Schaffens gewährte. Hatten schon früher Literaten wie Dürrenmatt mit ihrem sogenannten kritischen Patriotismus und Kulturschaffende vom Schlage «700 Jahre sind genug» vor allem die akademische Schweizer Jugend emotional von ihrer Heimat distanziert, wurde deren defätistisches Werk nun noch weitergetrieben. Viele Schweizer reagieren heute achselzuckend ratlos oder versuchen gar, sich mit den autoritären Angreifern gut zu stellen.

Einspruch ist notwendig

Es braucht wieder ein gesünderes Selbstverständnis und eine entsprechende Immunreaktion aus der Mitte der Bevölkerung, die noch (oder wieder) weiss, woher sie kommt, und vor allem auch weiss, wohin sie will in dieser unserer Welt. Einspruch ist notwendig!  •

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