Ein Staat im Krieg?

Ein Text für meine deutschen Nachbarn

von Karl-Jürgen Müller

Mein Geburtsland ist Deutschland, die Schweiz ist meine Wahlheimat. Mit Deutschland verbindet mich mehr als meine Geburt. Ich bin im Land aufgewachsen, habe dort die Schulen besucht und studiert, habe Jahrzehnte dort gelebt, mich engagiert und bis zu meiner Pensionierung als Lehrer gearbeitet. Nicht nur die Beziehung zu meinen Schülern, auch die zu vielen anderen Menschen im Land war mir immer wichtig. Ich weiss um die wechselvolle Geschichte des Landes, schätze die Vielfalt der Landschaften und Regionen, die reichhaltigen literarischen, künstlerischen und überhaupt die kulturellen Traditionen … und vieles mehr.
  Dass ich die Schweiz zu meiner Wahlheimat gemacht habe, hängt damit zusammen, dass dieses Land für mich ein Ort der Freiheit und der Demokratie ist. Ein Land, in dem viele Menschen sehr bodenständig sind und sehr praktisch denken und handeln, in der Regel ohne Grossmannssucht – auch bei vielen Politikern noch … und selbstverständlich schätze ich auch hier vieles mehr. Vor allem, dass es diesem Land durch eine kluge Politik gelungen ist, seit seiner Staatsgründung Mitte des 19. Jahrhunderts nicht in Kriege verwickelt zu werden, und dem seine bewaffnete Neutralität die Tür dafür geöffnet hat, an vielen Orten der Welt humanitär, vermittelnd und friedensfördernd tätig zu werden.

«Nie wieder Krieg!»

«Nie wieder Krieg!» – so bin ich als junger Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg gross geworden – und das verbindet auch auf eine gewisse Art und Weise meine Geburts- und meine Wahlheimat. Aber seit 30 Jahren wird dieser Imperativ bekämpft, von unserer «Führungsmacht», auch von Verantwortlichen im eigenen Land. Nicht nur in Deutschland, aber dort ganz stark.
  So wie der Krieg in der Ukraine eine lange Vorgeschichte und weltpolitische Dimensionen hat, so haben es auch die vielen Schritte Deutschlands hin zu einem Land, dessen Regierungen, dessen Politiker, dessen Medien, dessen gesellschaftliche «Eliten», ja, auch dessen Intellektuelle (aber nicht alle!) den «Respekt vor dem Krieg» verloren haben.
  Für mich als Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie ein deutsches Gegengewicht gegen das gleichgeschaltete Land unter der Herrschaft der Nationalsozialisten: die vielen grossen Namen deutscher Intellektueller, die nach dem 30. Januar 1933 das Land verlassen haben, verlassen mussten und ins Exil gegangen sind. Viele von ihnen haben aus dem Exil heraus nach einem anderen, einem besseren Deutschland gerufen. Einer von ihnen appellierte an die Deutschen, «zur Wirklichkeit zu erwachen, zur gesunden Vernunft … zu der Welt der Freiheit und des Rechtes». Auch heute bräuchte es viele aufrechte Stimmen.

Geschichte wiederholt sich nicht, aber …

Geschichte wiederholt sich nicht, und die meisten Deutschen würden empört reagieren, würde man das heutige Deutschland mit dem Deutschland der Hitler-Zeit vergleichen. Sie sagen: Wir sind doch eine freiheitliche Demokratie, ein Rechtsstaat … Und ganz anders als die «bösen» Nationalsozialisten sind unsere Kriege solche der «Guten» gegen die «Bösen». Das war doch schon 1999 gegen die Serben so – das Völkerrecht musste uns da nicht interessieren. Auch in Afghanistan. Und Putin hat doch angefangen mit dem Krieg, er ist der «Kriegsverbrecher», er will die Ukraine «vernichten». Und sollte er dies wirklich schaffen, dann macht er doch dort nicht halt … So oder ähnlich wird es den Deutschen Tag für Tag eingetrichtert: Meine Tageszeitung schreibt es, im Radio höre ich es, und auch das deutsche Fernsehen bringt nichts anderes. Hinzu kommt: Was könnte alles passieren, wenn ich dann immer noch eine andere Meinung habe?
  Und überhaupt, bis vor wenigen Tagen hiess es doch auch offiziell noch: «Wir führen keinen Krieg gegen Russland» – dafür hätten wir die Ukrainer, die für unsere «Freiheit» kämpfen: auch mit deutschen Waffen, mit deutschen Raketen, mit deutschen Panzern, mit deutschen Geheimdiensten, mit deutschen Söldnern – bald auch mit deutschen Flugzeugen? Nun hat die deutsche Aussenministerin allerdings öffentlich gesagt, dass «wir» – 80 Jahre nach Stalingrad – im Krieg mit Russland sind. Und das hat nicht nur etwas damit zu tun, dass sie sehr gut weiss, wie frau auf sich aufmerksam macht.

«Putins Plan»

Thomas Röper hat vor ein paar Wochen ein neues Buch veröffentlicht. Der Titel ist sehr lang und lautet: «Putins Plan. ‹Mit Europa und den USA endet die Welt nicht›. Wie das westliche System sich gerade selbst zerstört und was Russland wirklich will». Thomas Röper ist ein Deutscher, der seit vielen Jahren in Russland lebt, zuerst als Geschäftsmann, nun schreibt er seit einigen Jahren Texte für seine Internetseite Anti-Spiegel. Für das offizielle Deutschland ist er ein «russischer Propagandist», ein «Verschwörungsideologe». Wie dem auch sei: Die Lektüre seines neuen Buches ist sehr interessant. Röpers Kritik am Westen ist gar nicht so abwegig, und interessant sind vor allem auch die Reden des russischen Präsidenten, die Thomas Röper ins Deutsche übersetzt hat und zum Teil sehr ausführlich zitiert. Selbstverständlich kann ich nicht mit Sicherheit sagen, wie ernst es dem russischen Präsidenten mit seinen Worten war und ist. Aber nehmen wir ihn doch beim Wort: Dann ist das, was er sagt, viele Diskussionen auch unter Deutschen wert; denn «Putins Plan» ist keine «Utopie», aber es sind Überlegungen für eine gerechtere Welt.

Was tun?

Gut wäre es, sich nicht weiterhin beziehungsweise auch künftig nicht vereinnahmen zu lassen. Nicht für die tagtägliche Propaganda, nicht für eine Politik der Feindschaft gegen irgendwen, nicht für einen eskalierenden Krieg gegen Russland.
  «Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören […], sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.» Das ist ein guter Massstab. Aber welche Verdrehung ist es, wenn auf der Grundlage dieses Artikels im deutschen Grundgesetz und seiner Konkretisierung im Strafgesetzbuch heute Menschen in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden – nur weil sie öffentlich sagen:
  «Mir ist unbegreiflich, dass die deutsche Politik wieder dieselben russophoben Ideologien unterstützt, auf deren Basis das Deutsche Reich 1941 willige Helfer vorfand, mit denen man eng kooperierte und gemeinsam mordete.
  Alle anständigen Deutschen sollten vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, der Geschichte von Millionen ermordeter Juden und Abermillionen ermordeter sowjetischer Bürger im Zweiten Weltkrieg jegliche Zusammenarbeit mit diesen Kräften in der Ukraine zurückweisen. Auch die von diesen Kräften in der Ukraine ausgehende Kriegsrhetorik müssen wir vehement zurückweisen. Nie wieder dürfen wir als Deutsche an einem Krieg gegen Russland in irgendeiner Form beteiligt sein.
  Wir müssen uns zusammenschliessen und uns diesem Irrsinn gemeinsam entgegenstellen.
  Wir müssen offen und ehrlich versuchen, die russischen Gründe für die militärische Sonderoperation in der Ukraine zu verstehen und warum die überwiegende Mehrheit der Menschen in Russland ihre Regierung und ihren Präsidenten darin unterstützen.
  Ich persönlich will und kann die Sichtweise in Russland und die des russischen Präsidenten Wladimir Putin sehr gut nachvollziehen.
  Ich hege kein Misstrauen gegen Russland, denn der Verzicht auf Rache gegen Deutsche und Deutschland bestimmte seit 1945 die sowjetische und danach auch die russische Politik.»1

Ein gerechter Friede

«Dem Frieden der Welt zu dienen», wozu das «Deutsche Volk» nach der Präambel des Grundgesetzes vom «Willen beseelt» ist, ist keine einfache Sache. Allein und zusammenhangslos zu rufen: «Die Waffen nieder», das kann in die Irre führen. «Der gerechte Friede ist ein Leitbild für Friedensethik und Friedenspolitik in der christlichen Ökumene. Grundgedanke des Leitbildes ist, dass Frieden mehr ist als die Abwesenheit von Gewalt.» So ist bei Wikipedia nachzulesen. Wie stand es mit der «Gerechtigkeit» vor dem 24. Februar 2022? War es «gerecht», dass sich die Nato bis an Russlands Grenzen ausgedehnt hatte? War es «gerecht», dass seit dem Frühjahr 2014 mehr als 10 000 Menschen, auch Frauen und Kinder, im Donbass von ukrainischen Soldaten und Nazi-Verehrern getötet wurden? War es «gerecht», dass dabei der Westen, auch die deutsche Politik, alle Augen verschlossen hielt – und die ausgehandelten Verträge für eine friedliche Lösung nur missbrauchte, um die Ukraine kriegsbereit zu machen? War es «gerecht», dass die Regierung der Ukraine gemeinsam mit ihren «Verbündeten» in der Nato einen Krieg gegen Russland vorbereitete? War die «Weltordnung», so wie wir sie seit dem Ende der Sowjetunion hatten, «gerecht»? Die Fragen gehen einem nicht aus. •



1 Auf Grund der oben zitierten Äusserungen erliess ein Berliner Amtsgericht am 3. Januar 2023 einen Strafbefehl (Geldstrafe in Höhe von 2000 Euro, ersatzweise 40 Tage Haft) gegen den Redner, der auf einer letztjährigen Berliner Friedenskundgebung zum Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 gesprochen hatte. In der Begründung berief sich das Gericht auf Paragraph 140 Strafgesetzbuch, wonach die «Belohnung und Billigung von Straftaten» selbst ebenfalls strafbar ist. Der Redner, so das Gericht, habe das «Verbrechen der Aggression» Russlands gegen die Ukraine gebilligt und so «das psychische Klima in der Bevölkerung» aufgehetzt. Vgl. zu den Einzelheiten www.nachdenkseiten.de vom 25.1.2023.

Was ist heute anders?

«Sie haben die Nazis nicht durchschaut. Sie haben die Gefahren des Krieges nicht erkannt. Von Demokratie haben sie sowieso nicht viel gehalten. Die Gleichschaltung der Medien haben sie nicht gesehen, sie fühlten sich wohl in der damit vermittelten Volksgemeinschaft. Was ist heute anders? Ich habe mir gestern Abend und heute das Medienecho auf die Entscheidung von Scholz, Panzer in die Ukraine zu liefern, angeschaut, zum Beispiel das heute journal und heute früh die Regionalzeitung und hier zum Beispiel die deutsche Aussenministerin mit ihrer freihändig verkündeten Kriegserklärung ‹We are fighting a war against Russia›. Was wir uns heute an Feindseligkeit gegenüber anderen Völkern, an Gleichschaltung und an Agitation gefallen lassen und dem folgen, ist so schlimm wie die Agitation der Nazis. Es kommt auf feinere Weise daher, verkündet von harmlos aussehenden Akteuren wie Annalena Baerbock und eben nicht in SS-Uniform. Aber es ist das Gleiche. Die gleiche Verführung der Menschen mit dem Trick, ihnen einen Feind zu bieten. Und alle zusammen gegen diesen Feind aufzustehen. Heute das Gleiche wie bei meinen Eltern zu Zeiten meiner Geburt im Jahre 1938.» (Albrecht Müller, früher Berater von Bundeskanzler Willy Brandt, in den Nachdenkseiten vom 25.1.2023)

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