Rückbesinnung auf die Schweizer Neutralität

Wir haben anderes zur Verfügung als Waffenlieferungen in Kriegsstaaten

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

«Viele glauben ja, sich neutral zu verhalten, sei per se amoralisch. Ist das so?» «Amoralisch? Nein, im Gegenteil. Neutralität ist einer der höchsten moralischen Werte. Wenn alle Länder neutral wären und eine aktive, bewaffnete Neutralität vertreten würden, gäbe es keinen Krieg mehr in dieser Welt.» (Stephan Rietiker, Mitglied Initiativkomitee der Neutralitätsinitiative)1

Dass die deutsche Bundesregierung in eifrigem Andienen an ihre Herren ennet dem Atlantik immer «leistungsfähigere» Waffen (das heisst Waffen, die die furchtbare Schlächterei ausweiten und in die Länge ziehen werden) in den ukrainischen Krieg schickt, ist schon unerträglich genug. Ein nicht tolerierbarer Dammbruch aus Schweizer Sicht ist aber, dass einige Sozialdemokraten im Schweizer Nationalrat dem «grossen Parteibruder» in Berlin nachlaufen und die Rest-Neutralität unseres Landes noch ganz über den Haufen werfen wollen. Am 24. Januar hat die Sicherheitskommission des Nationalrates (SiK-N) mit 14 Ja-Stimmen – nicht nur aus der SP! – gegen 11 Nein-Stimmen zwei Vorstössen zugestimmt, die klar neutralitätswidrig sind. Der Nationalrat ist aufgerufen, diesem Ansinnen einen deutlichen Stopp zu setzen.

Auch der Uno-Sicherheitsrat würde kaum Schweizer Waffenlieferungen
in ein Kriegsland anordnen

«Die Idee, die Neutralität durch Ausnahmen neu zu definieren, würde die Berechenbarkeit der schweizerischen Neutralität für potentielle Kriegsteilnehmer schwächen […]. Ausnahmen würden die Schweiz dem Druck der Kriegsteilnehmer aussetzen, deren Ansichten über die Rechtfertigung ihrer Gewaltanwendung zu übernehmen.» (Marco Sassòli, Professor für Völkerrecht an der Universität Genf)2
  Nach dem geltenden Kriegsmaterialgesetz (KMG) ist die Rechtslage glasklar: Eine Waffenausfuhr an eine ausländische Regierung kann nur bewilligt werden, wenn diese eine Nichtwiederausfuhr-Erklärung unterzeichnet hat (Art. 18 Abs. 1). Und weiter: «Auslandsgeschäfte […] werden nicht bewilligt, wenn: a. das Bestimmungsland in einen internen oder internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt ist» (Art. 22a Absatz 2).
  Dieses von Neutralität und humanitärer Gesinnung getragene Verbot will die Kommissionsmehrheit nun kippen, damit ausländische Regierungen in der Schweiz gekaufte Rüstungsgüter in die Ukraine liefern können. Der Bundesrat (die Exekutive!) soll die Befugnis erhalten, «auf Gesuch einer ausländischen Regierung die Nichtwiederausfuhr-Erklärung für aufgehoben [zu] erklären». So einfach geht es, die Neutralität abzuschaffen … Der Entwurf der SiK-N verlangt als Voraussetzung eine Resolution des UN-Sicherheitsrats oder – falls auf Grund eines Vetos kein Entscheid zustande kommt – dass «von der Generalversammlung der Vereinten Nationen ein Verstoss gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot nach Artikel 2 Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen mit einer Zweidrittelmehrheit festgestellt worden» ist.3
  Dazu Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich: «Nur der Uno-Sicherheitsrat kann dispensieren von den Pflichten des Neutralen, und zwar, wenn er Zwangsmassnahmen anordnet. Dann, und wirklich nur dann, gehen die Uno-Beschlüsse dem Neutralitätsrecht vor.»4
  Zu ergänzen ist: Der UN-Sicherheitsrat kann zwar gemäss Kapitel VII der UN-Charta militärische Zwangsmassnahmen gegen ein Mitgliedsland anordnen (Art. 42 f.), aber dass er von der Schweiz den Verzicht auf Nichtwiederausfuhr-Vereinbarungen verlangen würde, ist doch eher unwahrscheinlich. Was ganz sicher ist: Die Uno-Generalversammlung kann einen Angriff zwar politisch als völkerrechtswidrig verurteilen, aber dies hat keine Rechtswirkung.

«Lex Ukraine»: Ein absolutes Unding

«Kann man sowohl neutral als auch solidarisch sein? […] Ja, wenn es sich um eine Solidarität mit den Opfern handelt, die es in Kriegen immer auf beiden Seiten gibt. Dies ist auch der Grundgedanke des Internationalen Roten Kreuzes, das sich ohne Parteinahme in den Dienst der Opfer aller Kriegführenden stellt.» (Robert Nef, langjähriger Redaktor der «Schweizer Monatshefte»)5
  Von dieser zutiefst mitmenschlichen Gesinnung, die dem Schweizer Neutralitätsverständnis zugrunde liegt, ist die Mehrheit der Sicherheitskommission des Nationalrates weit entfernt. Vielmehr tritt ihr zweiter Vorstoss vom 24. Januar, die vorgeschlagene «Lex Ukraine», die Prinzipien des Rechtsstaates und der Neutralität mit Füssen, ja, sie würde die Schweiz zu einer wahren Kriegstreiberin machen: «Die Nichtwiederausfuhr-Erklärung wird hinfällig, wenn feststeht, dass die Wiederausfuhr des Kriegsmaterials an die Ukraine im Zusammenhang mit dem russisch-ukrainischen Krieg erfolgt.» Dies mit einer befristeten Änderung von Art. 18 KMG, die dringlich erklärt werden soll – das heisst, sie träte bereits vor einer allfälligen Referendumsabstimmung in Kraft.
  Professor Oliver Diggelmann: «Und das geht nicht, völkerrechtlich, neutralitätsrechtlich. Man kann nicht gleichzeitig sagen: Schaut her, wir sind neutral, und dann gleich hinterherrufen: Schaut nochmals her, wir sind auch militärisch ein wenig solidarisch mit der richtigen Seite.»6

Grüne Partei der Schweiz hält dagegen

11 von 25 Mitgliedern der Sicherheitskommission des Nationalrates stimmten gegen die einseitige Aufhebung des Waffenausfuhrverbots in Kriegsländer und damit gegen die Schwächung der Neutralität der Schweiz (Medienmitteilung vom 24.1.2023). Die Nein-Stimmen kamen von den Grünen, der SVP und einzelnen Mitgliedern anderer Parteien. Besonders erfreulich ist die klare Positionierung der Grünen Partei.

Zeit-Fragen hat Marionna Schlatter, Nationalrätin der Grünen Partei (ZH) und Mitglied der SiK-N, gefragt, warum sie Nein gestimmt hat.
Zeit-Fragen: Sie und die beiden anderen Kommissionsmitglieder aus der Grünen Partei haben beide Vorstösse abgelehnt. Was sind Ihre wichtigsten Gründe aus neutralitätsrechtlicher Sicht?
Marionna Schlatter: Die Grünen sind aus der Friedensbewegung erwachsen. Wir erachten die Ausfuhr von Kriegsmaterial für ein militärisch neutrales Land grundsätzlich als problematisch. Darum stehen wir auch jeglichen Lockerungen der Kriegsmaterialexportgesetzgebung kritisch gegenüber. Eine Ausnahme zu machen für den Ukraine-Krieg halten wir nicht für vereinbar mit dem Neutralitätsrecht, das gebietet, Konfliktparteien bezüglich Kriegsmaterialexporten gleich zu behandeln.
Aus demokratischer Sicht: Das Parlament hat 2021 als indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Keine Waffen in Bürgerkriegsländer (Korrektur-Initiative)» die Waffenausfuhr in Kriegs- und Bürgerkriegsländer verboten, um die Initianten zum Rückzug der Initiative zu bringen. Und jetzt die Verschärfung wieder rückgängig machen?

Mit dem indirekten Gegenvorschlag zur Korrekturinitiative trat im Mai 2022 eine restriktivere Gesetzgebung für Waffenexporte in Bürgerkriegsländer in Kraft. Das Anliegen wurde von einer breiten Koalition aus Parteien und Zivilgesellschaft getragen sowie von einem grossen Teil der Bevölkerung unterstützt. Dieser Wunsch nach strengen Exportbedingungen von Kriegsmaterial sollte endlich respektiert werden. Statt dessen wird die erstbeste Gelegenheit genutzt, um das Anliegen wieder zu schwächen.

Auseinandersetzung der Schweizer über Sinn und Zweck der Neutralität steht an

«Die permanente Neutralität der modernen Schweiz […] stellt ein Versprechen dar, sich nicht nur je nach Situation neutral zu verhalten, sondern gegenüber allen potentiellen Konflikten der Zukunft neutral bleiben zu wollen. Der Kern der Neutralitätslogik ist nicht, dass man sich aus allen internationalen Händeln heraushält, sondern dass man aktive Beziehungspflege betreibt, um mit allen Konfliktparteien auf gutem (oder zumindest annehmbarem) Fuss zu bleiben. Daher ist die Diplomatie immer dann am stärksten beschäftigt, wenn Kriege oder internationale Konflikte herrschen.» (Pascal Lottaz, Dr. phil., Historiker und Philosoph)7
  Wir Schweizerinnen und Schweizer müssen heute erst recht an der Neutralität als unverzichtbarem Standbein des Schweizer Staatsmodells festhalten. Dies ganz besonders, um den dringend anstehenden humanitären und diplomatischen Aufgaben in den vielen Kriegen und Krisen dieser Welt gerecht werden zu können.
  Aus einer anderen Warte überlegt sich die NZZ-Redaktion, wohin eine offene Diskussion über die Zukunft der Neutralität in der Bevölkerung führen könnte: Wenn man die Weitergabe von Rüstungsgütern durchwinken wolle, komme die Schweiz nicht um eine Auseinandersetzung mit dieser Frage herum. Dem Journalisten dämmert es, dass in einer solchen Debatte möglicherweise die Neutralitätsinitiative «plötzlich Chancen erhielte». Dass die Neutralität im Selbstverständnis der überwiegenden Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer tief verankert ist, auch in der heutigen Zeit, passt den Schweizer Main-Stream-Medien seit langem nicht in den Kram. Die «Neue Zürcher Zeitung» erklärt ihren Vorbehalt gegenüber der Neutralitätsinitiative so: «Deren Annahme würde die Schweiz im Umgang mit internationalen Konflikten noch viel stärker einschränken, als es heute der Fall ist.»8
  Will heissen: Die Annahme der Initiative durch das Schweizervolk würde die von der «Neuen Zürcher Zeitung» und anderen Akteuren angestrebte immer engere Einbindung in die EU und die Nato verhindern. Also packen wir’s an!
  Das Schlusswort sei SP-Nationalrat Fabian Molina überlassen: «Der Wert der Neutralität gemäss Haager Abkommen von 1907 ist, dass die Schweiz eine besondere Rolle als Friedensmacht einnehmen kann. Als bündnisfreier Staat können wir im Gegensatz zu den Nato-Staaten in die Friedensförderung investieren, können als Vermittlerin auftreten und Türen öffnen. Das sollten wir viel stärker nutzen, als wir das in der Vergangenheit getan haben.»9
  Auch EU-Turbo Fabian Molina hat also ein Stück Neutralität verinnerlicht. Auch das gehört zur Schweiz.  •



1 Grob, Ronnie. «Tauziehen um die Neutralität». Interview mit Pro-Schweiz-Präsident Stephan Rietiker und SP-Nationalrat Fabian Molina. In: Schweizer Monat vom Dezember 2022/Januar 2023
2 Sassòli, Marco. «Neutralität gibt's nicht à la carte.» In: Schweizer Monat vom Dezember 2022/Januar 2023
3 «Kommission will Wiederausfuhr von Kriegsmaterial in die Ukraine erlauben». Medienmitteilung der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrates vom 24.1.2023
4 Wanner, Christine. «Soll das Schweizer Kriegsmaterialgesetz angepasst werden?» In: Radio SRF, Echo der Zeit vom 26.1.2023
5 Nef, Robert. «Die bewaffnete Neutralität ist ein Friedensangebot». Gastbeitrag in Schweizer Monat vom Dezember 2022/Januar 2023
6 Wanner, Christine. «Soll das Schweizer Kriegsmaterialgesetz angepasst werden?» In: Radio SRF, Echo der Zeit vom 26.1.2023
7 Lottaz, Pascal. «Im neuen Kalten Krieg ist die Schweiz Konfliktpartei». In: Schweizer Monat vom Dezember 2022/Januar 2023.
8 Gerny, Daniel. «Die Schweiz in der Neutralitätsfalle: wie es so weit kommen konnte – und drei Wege, wie sich die Politik befreien kann». In: Neue Zürcher Zeitung vom 28.1.2023
9 Grob, Ronnie. «Tauziehen um die Neutralität». Interview mit Pro-Schweiz-Präsident Stephan Rietiker und SP-Nationalrat Fabian Molina. In: Schweizer Monat vom Dezember 2022/Januar 2023

 

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