Verloren in Syrien

Das Erdbeben und die Folgen der Sanktionen

von Karin Leukefeld*, Bonn und Damaskus

Das schwere Erdbeben, das in den frühen Morgenstunden des 6. Februar das türkisch-syrische Grenzgebiet erschütterte, hat letzten Angaben zufolge 44 000 Menschenleben gefordert. Zehntausende wurden verletzt, Tausende werden vermisst. Während die Menschen im Erdbebengebiet ums Überleben kämpfen, erschüttern weiterhin starke Nachbeben die Region. Etwa alle vier Minuten gebe es in der Region ein Nachbeben, hiess es am Freitag. Bis zum 17. Februar hat es nach Angaben der UN-Organisation für Nothilfe (OCHA) mehr als 4700 Nachbeben gegeben.

Sowohl in der Türkei als auch in Syrien sprachen Überlebende davon, dass sie an den Weltuntergang dachten, als die Erde unter ihnen bebte und ihre Heimat, ihre Nachbarschaft, ihre Familien, ihren Alltag, ihr Lebenswerk und alle Pläne zerstörte. Das Erdbeben ist für die Menschen jenseits aller Grenzen eine schreckliche Erfahrung und eine schwere Belastung. Für das kriegszerstörte, international vom Westen politisch, wirtschaftlich und medial blockierte Syrien ist die Last dennoch grösser. Krieg und Wirtschaftskrieg, Flucht und Vertreibung, Tod und Zerstörung – Syrien hat seit 2011 alles verloren, was es aus eigener Kraft aufgebaut hatte. Bei der international versprochenen Hilfe für die Menschen in den verwüsteten Gebieten werden grosse Unterschiede deutlich. Die USA, die EU und auch die Bundesregierung verteilen ihre Hilfe selektiv.

Türkei

Der Türkei wurde aus 70 Staaten Hilfe versprochen, Millionensummen wurden in Aussicht gestellt oder schon überwiesen. Flugzeuge mit ersten Hilfslieferungen landeten auf Flughäfen in der Türkei, die nicht von dem Erdbeben beschädigt waren. Nach offiziellen Angaben aus Ankara seien 36 Staaten bereits mit Hilfe vor Ort, mehr als 3300 Rettungshelfer im Einsatz. Allein die EU schickte mehr als 1000 Helfer in das türkische Erdbebengebiet und initiierte den Nothilfemechanismus, der die EU-Mitgliedsstaaten in die Pflicht nimmt. 21 Mitgliedsstaaten schickten Rettungsteams und schweres Gerät, um nach Verschütteten zu suchen. Zelte und Betten wurden geliefert. Schweden und Rumänien lieferten im Rahmen der EU-Kommissionshilfe (die über einen zusätzlichen Fonds verfügt) Notunterkünfte. Die Nato mobilisierte mehr als 1400 Soldaten, die die Rettungskräfte – auch mit schwerem Gerät – unterstützten. Über die Militärbasis Incirlik – etwa 10 km von Adana entfernt, das schwer bei dem Erdbeben verwüstet wurde – wurden in den folgenden Tagen mehr als dreimal so viele Starts und Landungen abgewickelt, um Hilfslieferungen per Flugzeug zu gewährleisten.
  In Berlin erklärte Bundesinnenministerin Nancy Faeser: «Wir stehen eng an der Seite der Türkei.» Notstromaggregate, Zelte und Decken würden geschickt, das Technische Hilfswerk (THW) sende Bergungs- und Rettungsteams. Sie habe der Türkei angeboten, dass das THW «Camps mit Notunterkünften und Wasseraufbereitungsanlagen zur Verfügung» stelle, so Faeser. Die Unterstützung werde «eng mit der Türkei koordiniert». Internationale Medien schickten Reporter vor Ort, um von dem Elend rund um die Uhr zu berichten. Auf allen Kanälen wurden Spenden eingeworben.1

Syrien

Wie Ankara hatte auch das Aussenministerium in Damaskus sich schon am 6. Februar an «die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen» gewandt und um Hilfe gebeten. Hilfeersuchen gingen auch an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und andere humanitäre Organisationen, um Syrien bei der Bewältigung der schrecklichen Auswirkungen des Erdbebens zu helfen. Der syrische Aussenminister Faisal Mekdad versicherte, die Regierung werde alles tun, um den internationalen Organisationen jede notwendige Unterstützung zu leisten, die sie bräuchten, um den Syrern mit humanitärer Hilfe zur Seite zu stehen.
  Ein Sprecher der EU-Kommission erklärte allerdings am folgenden Tag, man habe kein Hilfeersuchen aus Damaskus erhalten. Der Katastrophenschutz-Mechanismus sei daher nur für die Türkei ausgelöst worden.2
  Die syrische Regierung wandte sich daraufhin direkt an die EU und stellte einen Antrag auf Katastrophenhilfe. Man habe eine «lange Liste gängiger Katastrophenschutzgüter» erhalten, sagte schliesslich EU-Kommissar Janez Lenarcic, der in Brüssel das Ressort für Krisenmanagement leitet. Gefragt werde nach Medikamenten, Lebensmitteln und nach medizinischen Geräten. Er ermutige die EU-Staaten, auf den Antrag aus Syrien zu reagieren, sagte der Kommissar. Holland erklärte sich bereit, 10 Millionen Euro zu überweisen, inzwischen beteiligen sich zehn EU-Staaten an Hilfslieferungen. Der EU-Katastrophenschutzmechanismus wurde ausgelöst, die Kommission gab 3,5 Millionen Euro für Nothilfe frei.3
  Allerdings kommt nur wenig dieser Hilfe direkt in Syrien an, sondern ist für den «Nordwesten» des Landes vorgesehen. Aus dem Auswärtigen Amt in Berlin war zu hören, die «bereits bestehende umfassende humanitäre Hilfe in Nordwestsyrien durch humanitäre NGOs und UN-Organisationen» werde fortgesetzt. Das «dort bestehende und etablierte Partnernetzwerk» werde «auch in der aktuellen Situation helfen, schnell und direkt zu reagieren und die notleidenden Menschen zu unterstützen. Deutschland wird auf der Grundlage des in den nächsten Tagen veröffentlichten UN-Nothilfeplans umfangreiche weitere Hilfe vorbereiten.» Der Organisation Malteser International wurden weitere 1 Million Euro zugesagt.
  Die Bundesregierung, die sich immer wieder rühmt, dass Deutschland zweitgrösster Geber für die notleidende syrische Bevölkerung sei, sucht sich mit den Menschen im Nordwesten Syriens diejenigen aus, denen Hilfe zuteil werden soll. Die syrischen Opfer – allein in Aleppo sind mehr als 300 000 Menschen obdachlos geworden – werden gespalten. Die Not wird benutzt, um den politischen Druck auf die syrische Regierung zu verschärfen. Der syrischen Regierung wird unterstellt, den vom Erdbeben betroffenen Menschen nicht zu helfen. Bundesaussenministerin Annalena Baerbock erklärte dazu vor Journalisten, in Syrien, «wo die Menschen unter dem Assad-Regime auf keine Hilfe hoffen können», unterstütze man die humanitären Partner und werde weiter «auf einen humanitären Zugang drängen».4
  Baerbock hatte schon am 6. Februar, unmittelbar nach Bekanntwerden der katastrophalen Ausmasse des Erdbebens gefordert, Syrien solle seine Grenzen in die Türkei öffnen, um Hilfslieferungen zu ermöglichen. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) verlangte im Bundestag freien Zugang für Hilfsorganisationen in die betroffenen Regionen in Syrien. Und Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte, Deutschland liefere Hilfsgüter in die Türkei, die mit Hilfe der Vereinten Nationen (aus der Türkei) in das syrische Erdbebengebiet gebracht werden könnten. «Jetzt zeigt sich wieder einmal, wie lebenswichtig dieser grenzüberschreitende Zugang ist, für den wir uns seit Jahren [im UN-Sicherheitsrat, kl] einsetzen.»
  Scholz sprach von Bab al-Hawa, einem Grenzübergang zwischen der Türkei und der syrischen Provinz Idlib, der von Hayat Tahrir al-Scham (HTS), Nachfolger der al-Nusra-Front, die aus al-Kaida im Irak hervorgegangen ist. Auf Grund der UN-Sicherheitsratsresolution 2672, die im Januar 2023 für sechs Monate verlängert wurde, können unter Aufsicht der Uno Hilfsgüter aus der Türkei nach Idlib gebracht werden. Syrien lehnt das Vorgehen ab, weil dem Land damit die souveräne Kontrolle über den Grenzübergang genommen wird. Russland, China und andere Staaten unterstützen Syrien und fordern, dass der Grenzübergang geschlossen und Hilfsgüter aus Syrien in alle Teile des Landes verteilt werden. Die von der Türkei und zahlreichen ausländischen Staaten unterstützten bewaffneten Regierungsgegner um HTS in Idlib lehnen das ab.
  UN-Sprecher Stephane Dujarric verwies in New York darauf, dass der Grenzübergang Bab al-Hawa und die dort hindurchführende Strasse durch das schwere Erdbeben beschädigt worden seien. Die Politik solle «beiseite» gelassen werden, mahnte der Sprecher. Gefragt sei eine Lösung, wie die Hilfe bei den Menschen ankomme, die alles verloren hätten und in eisiger Kälte ausharren müssten.
  Hilfe hätte – sofern gewollt – umgehend über die Flughäfen von Damaskus, Aleppo und Latakia gebracht und innerhalb des Landes in alle betroffenen Gebiete gebracht werden können. Die USA, EU und Partner zogen es allerdings vor, tagelang die syrische Regierung zu drängen, weitere Grenzübergänge aus der Türkei zu öffnen. Die USA und Frankreich wollten dafür eine neue UN-Sicherheitsratsresolution erreichen. Medien starteten eine Kampagne gegen die syrische Regierung, sie wolle den Erdbebenopfern nicht helfen.
  Unerwähnt blieb dabei, dass Syrien lediglich einen einzigen Grenzübergang in die Türkei kontrolliert, ganz im Westen des Landes bei Kassab. Alle anderen Grenzübergänge werden von der Türkei bzw. – im Nordosten des Landes – von US-Truppen kontrolliert. Beide Länder haben Truppen entlang der syrisch-türkischen Grenze stationiert und unterstützen damit bewaffnete Regierungsgegner, die vom Nordwesten bis zum Nordosten die syrische Regierung daran hindern, die syrisch-türkische Grenze sowie die Ressourcen in dem Gebiet zu kontrollieren. Tatsächlich bedankte sich US-Aussenminister Blinken bei der türkischen Regierung ausdrücklich dafür, dass sie die Grenze in den Nordwesten Syriens geöffnet habe.5
  Der syrische Präsident Bashar al-Assad gab schliesslich grünes Licht, dass Hilfslieferungen über zwei weitere Grenzübergänge – Bab al-Salam und Al Rae’e – von der Uno genutzt werden konnten. Die Hilfslieferungen über diese beiden Grenzübergänge und über Bab al-Hawa erreichen lediglich die Gebiete, die von bewaffneten Regierungsgegnern und der Türkei (Afrin, Azaz, al-Bab) besetzt sind.
  Innerhalb Syriens sollten alle betroffenen Gebiete Hilfe erhalten, hiess es in Damaskus. Die Hilfstransporte sollten von der Uno, dem IKRK und dem Syrisch-Arabischen Roten Halbmond durchgeführt werden.
  Der Chef des Welternährungsprogramms (WFP) David Beasley erklärte, auf Regierungsebene hätten Syrien und die Türkei gut kooperiert, um Hilfslieferungen zu ermöglichen. Probleme gebe es allerdings mit den «Autoritäten im Nordwesten». Sie blockierten die Durchfahrt von Hilfstransporten, die aus Syrien kämen, sagte Beasley. Er wisse nicht, warum sie blockierten. «Warum spielen sie jetzt solche Spiele. Ich werde sie beim Namen nennen und nicht dazu schweigen.»6

In der Stunde der Not

Während Deutschland, die EU und die USA am 6. Februar den Hilferuf aus Damaskus «an die Staaten der Vereinten Nationen» nicht hörten, reagierten andere Länder sofort. Am 7. Februar landete ein Flugzeug aus dem Iran mit 45 Tonnen Hilfsgütern in Damaskus. Teheran bot sowohl der Türkei als auch Syrien die Hilfe des Iranischen Roten Halbmonds und iranischer Rettungstrupps an. Am 8. Februar landeten Flugzeuge aus Indien, dem Irak und Algerien mit Helfern, Suchtrupps und Hilfsgütern auf den Flughäfen von Damaskus und Latakia. Hilfsgüter kamen auch aus Ägypten und Jordanien per Flugzeug an. Der Oman kündigte eine Luftbrücke an, auch Armenien sagte Hilfe zu. Die Vereinigten Arabischen Emirate schickten zahlreiche Flugzeuge, ein Rettungsteam und errichteten ein Feldlazarett. Russland sandte Rettungsteams, die halfen, Überlebende und Tote in Aleppo zu bergen.
  Libanon gehörte am 6. Februar zu den ersten Ländern, die Rettungskräfte des libanesischen Zivilschutzes, Freiwillige der Rotkreuzgesellschaft und privater Hilfsorganisationen sowie Militärtechniker und Ingenieure nach Syrien schickten. Am 8. Februar folgte eine Delegation der amtierenden Interimsregierung unter Leitung von Transportminister Ali Hamieh. Das Land öffnete darüber hinaus seinen Luftraum und die Häfen für Hilfslieferungen nach Syrien und setzt damit ausdrücklich die von der EU und den USA gegen Syrien verhängten einseitigen wirtschaftlichen Strafmassnahmen ausser Kraft. So konnte Nothilfe für das Land beschleunigt werden. Alle Unternehmen, die Lieferungen und Ausrüstungsgegenstände für Syrien transportierten, seien von Hafengebühren befreit, hiess es am 7. Februar in Beirut. Das gleiche gelte für Luftfracht, die über den Internationalen Rafik-Hariri-Flughafen nach Beirut gelangten. Hilfsflüge aus europäischen Ländern – Italien und Zypern – konnten auf Grund der EU-Sanktionen gegen Syrien nicht in Damaskus landen. Sie landeten in Beirut – das die Sanktionen ausgesetzt hatte – und flogen von dort aus weiter nach Damaskus. «Das ist das mindeste, das wir für unser Bruderland in der Stunde der Not tun können», erklärte der amtierende libanesische Transportminister Ali Hamieh.7

Im Namen der Menschlichkeit

Der direkteste Weg der Hilfe für die Menschen in Syrien sind die Flughäfen in Damaskus, Latakia und Aleppo. Dafür müssten die EU und die USA ihre einseitigen wirtschaftlichen Strafmassnahmen gegen Syrien aufheben oder aussetzen. Alena Douhan, UN-Sonderberichterstatterin für die Auswirkungen einseitiger Strafmassnahmen auf die Menschenrechte der Bevölkerung eines betroffenen Landes, konkret in Syrien, hatte nach einem zwölftägigen Aufenthalt und Dutzenden Gesprächen im November 2022 die sofortige Aufhebung der Sanktionen gefordert. Deren Auswirkungen auf die Bevölkerung kämen einem «Kriegsverbrechen» gleich.8
  Auf die Frage der Autorin, ob die Bundesregierung im Rahmen der EU oder einseitig dazu bereit sei, angesichts des Erdbebens der Forderung der UN-Sonderberichterstatterin nachzukommen, verwies das Auswärtige Amt auf eine «Nachreichung zur Regierungspressekonferenz am 11.11.2022»:
  «Wir haben die Äusserungen von Frau Douhan zur Kenntnis genommen. Wir wissen nicht, wie – also unter welchen Eindrücken und mit Hilfe welcher Methodik – die Sonderberichterstatterin zu ihren Schlussfolgerungen gelangt ist. Klar ist für uns, dass das Assad-Regime die Verantwortung für die katastrophale Lage in Syrien trägt. Das Regime führt weiter einen brutalen Krieg gegen die eigene Bevölkerung, es begeht beständig Menschenrechtsverletzungen und blockiert jeden politischen Lösungsansatz für den Konflikt. Wir wissen auch, dass das Regime und seine Unterstützer – wie Russland – in zynischer Art und Weise immer wieder die EU-Sanktionen für das Leiden im Land verantwortlich machen. Richtig ist: Die EU-Sanktionen richten sich gezielt gegen diejenigen, die sich in Syrien schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben. Und sie sehen zugleich sehr klare und weitreichende humanitäre Ausnahmen vor.»
  Die Realität spricht eine andere Sprache. Es fehlt an allem, was Syrien ursprünglich selber hergestellt hat. Die Sanktionen und Handelsbeschränkungen fördern dagegen Schmuggel und Korruption an und über sämtliche Grenzen in die Türkei, in den Iran, nach Jordanien und nach Libanon. Es fehlt an Gas und Öl, weil US-Truppen die nationalen syrischen Ölfelder im Nordosten des Landes besetzt halten und Syrien den Zugang verwehren. Ein Grenzübergang nach Jordanien und in den Irak wird von US-Truppen mit der illegalen Militärbasis Al-Tanf (Dreiländereck Syrien-Irak-Jordanien) blockiert, so dass Hilfstransporte aus dem Irak oder dem Iran auf dem Landweg nicht nach Syrien gelangen. Der syrisch-irakische Grenzübergang Al-Bukamal wird immer wieder von Israel – das sich nicht dazu erklärt – angegriffen. Kürzlich erst war ein Konvoi aus dem Iran mit Medikamenten und Nahrungsmitteln zerbombt worden.9
  Der Individual-, Nah- und Fernverkehr im Land ist fast zum Erliegen gekommen, weil Autofahrer und Busse nicht genügend Treibstoff finden oder die hohen Preise auf dem Schwarzmarkt nicht bezahlen können. Inflation und Teuerung sind hoch, die Menschen suchen im Abfall nach Essbarem. Christliche und muslimische Hilfsorganisationen und Stiftungen geben Menschen an ihren Toren zu essen. Ein Falafel-Sandwich, das vor dem Krieg für 25 Syrische Pfund (Lira, damals etwa 50 US-Cent) eine beliebte Zwischenmahlzeit war, die jeder sich leisten konnte, kostet heute 10 000 Lira (etwa 1,50 US-Dollar), und kaum jemand kann sich diesen Snack noch leisten. Die Folgen der Sanktionen sind ausführlich in dem Douhan-Bericht nachzulesen.10
  Dass die westlichen, reichen Staaten nicht dazu bereit sind, angesichts des Elends und der Sorgen der Menschen und der örtlichen Behörden in Syrien, auf ihre einseitigen wirtschaftlichen Strafmassnahmen und die anhaltende Dämonisierung der syrischen Regierung zu verzichten, wird im Land mit Bitterkeit kommentiert.
  «Wir wollen ihr Geld nicht, wir wollen keine Wohltaten», sagt ein Familienvater, der seinen Namen nicht nennen möchte. «Sie sollen nur die Blockade gegen unser Land aufheben, dann können wir uns selber helfen.» Die Amerikaner sollten Syrien verlassen, dann könne Syrien wieder die eigenen Ölressourcen nutzen, so der Mann weiter. «Sie klagen uns an, den Menschen nicht helfen zu wollen und uns an Hilfsgütern zu bereichern. Aber sie sind es, die unser Land besetzt halten und sich an unserer Not, an unseren Ressourcen, dem Öl, dem Weizen, der Baumwolle bereichern.»
  So viele Jahre hätten die Menschen den Krieg ausgehalten und versucht, ihr Land zu schützen. «Wir haben uns an der Erde Syriens festgeklammert, um unsere Heimat nicht zu verlieren.» Jetzt habe die Erde selbst sich gegen die Menschen gewandt, die so sehr versucht hätten, sie zu schützen. «Wie sollen wir das verstehen», fragt der Mann ratlos. «Nach dem Krieg, nach der Wirtschaftsblockade, nach den Angriffen auf Syrien aus dem Ausland – tötet uns jetzt unsere Erde. Warum?»
  Es sei «wie das Jüngste Gericht» gewesen, sagt Fadi I. aus Aleppo, der Fotos schickt: Menschen versuchen eine Leiter zu bilden, um ein totes Kind zu bergen, das zwischen herabgestürzten Steinbrocken hängt. «Im Namen der Menschlichkeit – beendet die Sanktionen gegen Syrien», steht darunter. Ein anderes Foto zeigt die Leichen eines Mannes und eines Kindes, die zwischen Betonplatten festhängen und nicht geborgen werden können. Auf einem anderen Foto sind zwei Menschen zu sehen. Der Mann hat seinen Arm schützend über den Kopf eines Menschen gelegt, der sich an ihn schmiegt und einen Arm um das Gesicht des Mannes gelegt hat. Es ist nicht zu erkennen, ob die Person seine Frau oder sein Kind ist. Beide sind tot, von Trümmern und Schutt verschüttet.
  «Es war wirklich schrecklich, sehr schrecklich», sagt Anas B., Student der Architektur in Aleppo mit unsicherer Stimme. Seiner Familie gehe es gut, «Gott sei Dank». Anas wohnt in Neu-Aleppo, wo die Häuser nicht so hoch und stabil gebaut sind. Während des Krieges wurde dort nicht so viel zerstört wie im Osten und im Zentrum der Stadt, wo die meisten Erdbebenopfer zu beklagen sind. Wegen der vielen Nachbeben habe die Familie zwei Nächte im Auto geschlafen, erzählt Anas. Jetzt seien sie damit beschäftigt, den Überlebenden zu helfen. «Wir sammeln Decken, warme Kleidung, bereiten Essen zu – ich hoffe, dass wir helfen können. Aber es ist so viel, so schrecklich.» Anas steckt in den Abschlussprüfungen seines Studiums, doch nun wisse er nicht, wo sie studieren könnten. Der Stadtrat von Aleppo hat Schulen zu Not-unterkünften erklärt, die Universitäten sind geschlossen. «Wir sind ratlos, wir wissen nicht, wie das Studium weitergehen kann», sagt Anas und verstummt.  •



1 https://www.evangelisch.de/inhalte/212095/07-02-2023/erdbeben-faeser-sagt-tuerkei-hilfe-durch-thw-und-bundespolizei-zu
2 https://lostineu.eu/syrien-bekommt-noch-keine-eu-hilfe/
3 https://www.eeas.europa.eu/delegations/russia/earthquakes-turkey-and-syria-eu-emergency-assistance_en
4 https://www.handelsblatt.com/video/politik/erdbebenhilfe-baerbock-zum-erdbeben-unsere-gedanken-sind-bei-den-angehoerigen/28968048.html
5 https://www.state.gov/assistant-secretary-for-european-and-eurasian-affairs-karen-donfried-on-secretary-blinkens-upcoming-travel-to-germany-turkiye-and-greece/
6 https://cyprus-mail.com/2023/02/18/wfp-boss-criticises-northwestern-syrian-authorities-for-slowing-quake-aid/
7 https://tass.com/world/1573073
8 https://www.ohchr.org/en/node/104160
9 https://english.almayadeen.net/news/politics/israeli-attack-on-al-bukamal-targeted-food-medicine-convoy-f
10 https://www.ohchr.org/en/node/104160

* Die freie Journalistin Karin Leukefeld pendelt seit Beginn des Krieges 2011 zwischen Damaskus, Beirut und anderen Orten in der arabischen Welt und ihrem Wohnort Bonn. Sie hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, u. a.: «Syrien zwischen Schatten und Licht – Geschichte und Geschichten von 1916–2016. Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land» (2016, Rotpunkt Verlag Zürich); «Flächenbrand Syrien, Irak, die Arabische Welt und der Islamische Staat» (2015, 3. überarbeitete Auflage 2017, PapyRossa Verlag Köln). In Kürze erscheint von ihr im selben Verlag «Im Auge des Orkans: Syrien, der Nahe Osten und die Entstehung einer neuen Weltordnung».

Erdbebenhilfe und Kriegsausgaben

kl. Nach der Erdbeben-Katastrophe in der Türkei bittet die Uno ihre Mitgliedsstaaten um eine Milliarde Dollar Unterstützung. Dieses Geld solle «5,2 Millionen Menschen helfen und es Hilfsorganisationen ermöglichen, die lebenswichtige Unterstützung für staatlich geführte Hilfsmassnahmen in einer Reihe von Bereichen, darunter Ernährungssicherheit, Schutz, Bildung, Wasser und Unterkünfte, schnell auszuweiten», sagte Uno-Generalsekretär António Guterres am Donnerstag in New York. Zuvor hatte die Uno um knapp 400 Millionen Dollar Unterstützung für Syrien gebeten.
  Zum Vergleich: Die Mitgliedsstaaten der Nato und der EU haben bisher nach eigenen Angaben 190 Milliarden Dollar für den Krieg in der Ukraine ausgegeben. Der jetzt von der Uno erbetene Betrag entspricht weniger als 0,25 Prozent dieser Kriegsausgaben.

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK