Schweiz-EU: für eine Weiterentwicklung der Beziehungen auf Augenhöhe

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Während wir Schweizerinnen und Schweizer mit einer Schockwelle gröberen Ausmasses beschäftigt sind – Preisgabe unserer Neutralität und Hineingreifen in unseren Finanzplatz auf dem Altar der US-UK-Interessen – ergreift der Bundesrat bereits die nächste Gelegenheit, um ausländische Mächte zufriedenzustellen.

Am 29. März hat der Bundesrat die Bundesverwaltung mit der «Erarbeitung von Eckwerten eines Verhandlungsmandats mit der Europäischen Union (EU)» beauftragt.1 Warum es wohl plötzlich so pressiert? Nur weil die EU-Kommission drängt und droht? Das tut sie schon seit Jahren. Wenn man den Schaum wegspült, enthält die neue Variante in etwa dasselbe wie das «institutionelle Rahmenabkommen», zu dem der Bundesrat im Mai 2021 die Verhandlungen mit Brüssel aus guten Gründen abgebrochen hat. Schützenhilfe leistet ihm die «Konferenz der Kantonsregierungen (KdK)». Aber es gibt auch gewichtige Gegenstimmen mit starken Argumenten.

Horizontal oder vertikal?
Aus Brüssel kommt alles vertikal, von oben

In einigermassen verständliches Deutsch übersetzt bleiben folgende Inhalte der Medienmitteilung des Bundesrates: Das Rahmenabkommen von 2021 hätte die EU-Regeln in ein einziges «horizontales» (Rahmen-)Abkommen verpackt, das für alle (bisherigen oder künftigen) Abkommen gegolten hätte.
  Die heute vom Bundesrat propagierte «vertikale Lösung» bestünde aus einem «ganzen Paket mit neuen konkreten Abkommen (u. a. Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit)», plus die bisherigen bilateralen (Marktzugangs-)Abkommen. Ganz nebenbei will der Bundesrat also noch drei neue Abkommen in sein «Paket» hineinschmuggeln …
  In den einzelnen Abkommen sollen – zusätzlich zu den für alle geltenden Regeln – die entsprechenden speziellen Regeln stehen. Zum Beispiel im Personenfreizügigkeitsabkommen wären ergänzend der Lohnschutz oder die Grenzen der Sozialhilfe für neu Zugewanderte geregelt.
  Diese Unterscheidung verwirrt höchstens die Köpfe, denn das ganze System ist und bleibt vertikal, nämlich von Brüssel aufoktroyiert und nicht kompatibel mit dem Schweizer Staatssystem. Zum Lohnschutz: Vielleicht dürften wir auf den Baustellen ein paar Prozent mehr Kontrollen machen als die EU-Länder, aber das ersetzt die wirksamen Schweizer Lohnschutzmassnahmen nicht – Pflästerlipolitik für die Gewerkschaften?
  Wir haben keinen Grund, der EU gegenüber zu schwächeln. Tatsächlich haben wir unseren Nachbarn vieles zu bieten: Personenfreizügigkeit, Transitverkehr und Stromleitungen durch die Alpen, einen kaufkräftigen Inlandmarkt (mehr Importe als Exporte der Schweiz gegenüber der EU), Zuverlässigkeit als Handelspartner.

KdK mit Vorbehalt zu neuen Verhandlungen mit der EU bereit

Die «Konferenz der Kantonsregierungen KdK» hat am 24. März 2023 eine Medienmitteilung mit dem Titel «Die Kantone unterstützen neue Verhandlungen mit der EU» veröffentlicht. Danach haben die Kantonsregierungen «einstimmig» einer «neuen europapolitischen Standortbestimmung» zugestimmt. Die KdK ist eine Nachahmung der EU-Ministerkonferenzen und hat die Zusammenarbeit der Kantone in unserem einst starken föderalistischen System mit Ecken und Kanten durch eine Zentrale in Bern ersetzt – ohne dass wir Bürger unsere Kantonsregierungen dazu legitimiert hätten. Und die sollen sich alle einig sein in einer so folgenschweren Angelegenheit?
  Die KdK äussert sich in ihrer Standortbestimmung2 wie folgt:

  • Rechtssicherheit: Die KdK erhofft sich von einem neuen Vertrag «ein langfristiges und stabiles Verhältnis» mit der EU anstelle der «schleichenden Erosion der bilateralen Abkommen». Anmerkung: Die «schleichende Erosion» geht nicht aufs Konto der Schweiz – wir haben die Verträge immer eingehalten –, sondern ist eine Folge der vertragswidrigen Schikanen der Brüsseler Bürokratie, um uns mürbe zu machen. Ob ein neues «Paket» uns mehr Rechtssicherheit brächte als die bisherigen Bilateralen? Der Vertragspartner bleibt derselbe …
  • Übernahme von EU-Recht: Die KdK ist bereit, «einer dynamischen Rechtsübernahme zuzustimmen», unter dem «Vorbehalt Zustimmung Bundesrat, Parlament, Volk». Anmerkung: Mit diesem Vorbehalt haben wir bereits unsere Erfahrungen gemacht, zum Beispiel nach der Annahme der Eidgenössischen Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» durch den Souverän. Ihr Text steht seit neun Jahren in der Bundesverfassung (Art. 121a) und schreibt vor: «Die Schweiz steuert die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig», mit Höchstzahlen und Kontingenten. Bei der Umsetzung dieser Verfassungsbestimmung taten sich der Bundesrat und die Parlamentsmehrheit gegen die eigene Bevölkerung mit den EU-Gremien zusammen und beschlossen ein blutleeres Gesetz, das in keiner Weise dem Volkswillen entspricht.
  • Streitbeilegung: Die KdK befürwortet «einen vertraglich festgelegten Mechanismus zur Regelung von Streitigkeiten» und «akzeptiert», dass der EuGH «eine kohärente Auslegung» des von der Schweiz übernommenen EU-Rechts «sicherstellen» soll. Anmerkung: Mit zwei Sätzen unterstellt sich das Zentralbüro unserer 26 Kantonsregierungen dem Gericht der Gegenpartei.
  • Überwachung: Hier zeigt die KdK Konturen: «Die Kantonsregierungen lehnen eine supranationale Überwachung der Anwendung der Abkommen mit der EU nach wie vor ab. Die korrekte Anwendung und Umsetzung der Abkommen obliegt den beiden Vertragsparteien in ihrem jeweiligen Territorium.» Anmerkung: Recht haben sie! Das geplante Abkommen ginge auch den Kantonen und ihren ureigenen Aufgaben im föderalistischen Staat «as Läbige» (ans Lebendige). Nur: Die EU-Kommission wird die Kontrolle nie und nimmer den Kantonen überlassen (siehe nächster Absatz).
  • Verbot staatlicher Beihilfe: Diesen Punkt lässt der Bundesrat mit Vorliebe weg, auch in der Medienmitteilung vom 29. März. Tatsache ist, dass beim Service public, der im Volk tief verankert ist, mit dem EU-Beihilfeverbot kein Stein auf dem anderen bliebe. Ein Stromabkommen zum Beispiel ist faktisch nicht möglich, solange die Schweizer Wasserkraftwerke zum grössten Teil im Eigentum der Kantone und Gemeinden sind und die Bevölkerung eine Privatisierung ablehnt. Die KdK-Leitung weiss das sehr wohl, glaubt aber, «dass bei Marktzugangsabkommen mit der EU kein Weg daran vorbeiführt, die Staatsbeihilferegeln der EU […] zu übernehmen». In diesem Dilemma eiert sie herum und fordert schliesslich ziemlich unrealistisch, dass Staatsbeihilferegelungen «einerseits nicht wesentlich in die Kompetenzen der Kantone eingreifen und dass anderseits bereits bestehende Staatsbeihilfen möglichst unter Ausnahmeregelungen fallen […]».

Das deutsche «Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz» dämpft derlei Hoffnungen: «Die Mitgliedsstaaten haben entschieden, dass die Kontrolle über staatliche Beihilfen in der ausschliesslichen Zuständigkeit der Europäischen Kommission liegt (‹Hüterin der Verträge›) […] Daher müssen alle geplanten beihilferelevanten Massnahmen bei der Europäischen Kommission angezeigt oder sogar förmlich angemeldet (‹notifiziert›) und von ihr genehmigt werden.»3
  Das direktdemokratische und föderalistische Schweizer Staatsmodell ist nun einmal nicht kompatibel mit der EU. Im folgenden Brief an den Bundesrat kommt dies glasklar zum Ausdruck.

Kompass/Europa an den Bundesrat:
Konstruktive Kritik nach Schweizer Art

Kompass/Europa ist eine breite, nicht parteigebundene Allianz von Unternehmern, Politikern und vielen anderen Bürgern, die bereits im Mai 2021 dazu beigetragen hat, dass der Bundesrat die Verhandlungen mit Brüssel zum Rahmenabkommen gestoppt hat. Am 23. März schrieb Kompass/Europa einen «Offenen Brief an den Bundesrat».4
  Die Autoren rufen den Bundesrat dazu auf, «nur ein Verhandlungsmandat zu erteilen, das die Interessen der Schweizer Bevölkerung und Wirtschaft respektiert». Sie hätten den bilateralen Weg stets unterstützt und seien offen gegenüber einer punktuellen Rechtsübernahme in einzelnen Bereichen, aber: «Mit einer grundsätzlichen dynamischen Rechtsübernahme riskieren wir jedoch, dass unsere Gesetze im Zweifelsfall nicht mehr vom Parlament und Stimmvolk, sondern von der EU diktiert werden. Diese direktdemokratische Rechtsetzungskompetenz dürfen wir nicht aus der Hand geben.» Wie viele andere Stimmen hält auch Kompass/Europa fest, dass der EuGH als Gericht der Gegenpartei nicht geeignet ist für die Streitschlichtung, es brauche vielmehr «eine neutrale, klärende Instanz. Auch diese sehen wir in der aktuellen Diskussion nicht.»
  Falls die EU von ihren Bedingungen nicht abrücke, empfiehlt die Allianz dem Bundesrat, «die Verhandlungen auf der heutigen Basis nicht weiterzuführen». Denn: «Unsere basisdemokratischen Rechte sowie unsere langfristigen Standortvorteile gewichten wir höher als kurzfristige Transaktionskosten-Vorteile aus einem möglichen Vertragspaket mit der EU. Nicht zuletzt sind wir davon überzeugt, dass es von Ihnen gegenüber der EU Hartnäckigkeit braucht, um auch innenpolitisch die nötige Unterstützung für die künftige Europapolitik der Schweiz zu erhalten.»
  Der Brief an den Bundesrat schliesst mit den unterstützenden Worten: «Für die komplexen und anspruchsvollen Entscheide, die Sie treffen müssen, möchten wir Ihnen Gelassenheit wünschen und unser Vertrauen aussprechen. Gute Lösungen oder auch neue Ansätze brauchen Zeit. Die haben wir.»  •



1 «Bundesrat beschliesst das weitere Vorgehen im Hinblick auf ein Verhandlungsmandat». Medienmitteilung vom 29.3.2023
2 Konferenz der Kantonsregierungen KdK. Beziehungen Schweiz–EU. Standortbestimmung der Kantone vom 24. März 2023
3 https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Artikel/Europa/beihilfenkontrollpolitik.html
4 https://kompasseuropa.ch/wp-content/uploads/2023/03/Offener-Brief-an-den-Bundesrat-1.pdf

Kritische Schweizer Stimmen zum «Rahmenabkommen II»

Allianz Kompass/Europa: Einzigartiges politisches System der Schweiz schützen

«Die Schweiz ist als international ausgerichtete Volkswirtschaft auf produktive Beziehungen mit anderen Staaten angewiesen. […] Gleichzeitig verfügt die Schweiz über ein einzigartiges politisches System, das sich durch direktdemokratische Entscheide und hohe Stabilität auszeichnet. Dieses System hat wesentlich zu unserem grossen gesellschaftlichen Konsens und zum heutigen Wohlstand beigetragen. Darum wollen wir dieses System erhalten und schützen.»
  «Kompass/Europa setzt sich dafür ein, dass unser Land weiterhin eigenständig über die Art und Weise seiner Beziehungen mit Europa und der Welt entscheiden kann […] und unterstützt eine Weiterentwicklung der Beziehungen Schweiz-EU auf Augenhöhe, das heisst unter Respektierung unserer völkerrechtlichen Souveränität sowie unserer demokratischen Institutionen und föderalistischen Strukturen inklusive der damit verbundenen verfassungsmässigen Volksrechte.» (aus dem Manifest der Allianz Kompass/Europa)1
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Carl Baudenbacher:
«Im Tarnanzug in die EU»

«Aber wer die Dinge nüchtern analysiert, der stellt fest, dass der ‹Paketansatz› nichts anderes ist als ein maskiertes InstA [Institutionelles Abkommen] II. Die Tatsache, dass der nicht neutrale EuGH faktisch für die Entscheidung der meisten Konflikte zuständig wäre, ohne dass das Bundesgericht irgendeine Rolle zu spielen hätte, würde die entsprechenden Verträge zu ‹unequal treaties› machen.»
  «Damit bleibt der Bundesrat dem Tarnansatz, der seine Europapolitik seit 2013 bestimmt, treu. Adressat der Tarnung ist nicht etwa die Gegenseite; die Camouflage richtet sich weiterhin an Volk und Stände. Ob diese obersten Verfassungsorgane das in einem Referendum honorieren werden?»2

 


Ehemalige finnische Verkehrsministerin Anne Berner:
Keine Rechtssicherheit durch Abkommen mit der EU

«Oft wird behauptet, man könne nur durch die Unterstellung unter den EuGH Rechtssicherheit erlangen. Dabei ist es derzeit eher so, dass Brüssel mit seiner Politik der Nadelstiche und Sanktionen zur Rechtsunsicherheit beiträgt. Daher ist es schwer nachvollziehbar, wenn von Schweizer Seite die Forderungen der EU als im Interesse der Schweiz dargestellt werden.»3
 


Urs Wietlisbach: «Wieso geht es euch Schweizern so gut?
Ihr habt keine Rohstoffe, ihr habt nichts!»

«Das Endziel der Europäischen Union ist aber eine grundsätzliche dynamische Rechtsübernahme. Und das ist ein Angriff auf die direkte Demokratie, auf den Föderalismus – auf die Stärken der Schweiz. Ich reise viel in der Welt herum, und die Leute fragen mich immer: ‹Wieso geht es euch so gut? Ihr habt keine Rohstoffe, ihr habt nichts!› Wenn wir glauben, es liege daran, dass wir gescheiter oder gschaffiger sind als der Rest der Welt, dann stimmt das nicht. Wir sind schon gschaffig und sicher nicht die Dümmsten, aber es ist unser direktdemokratisches System, unser Föderalismus. Dieses System dürfen wir nicht aufgeben.»4



1 https://kompasseuropa.ch/wp-content/uploads/2021/04/Manifest_DE.pdf.
2 In: Schweizer Monat vom März 2023. Carl Baudenbacher ist Rechtsanwalt und Gast-professor an der London School of Economics. Von 2003 bis 2017 war er Präsident des EFTA-Gerichtshofs.
3 Berner, Anne. «Innenpolitischer Realismus im Verhältnis Schweiz - EU». Gastkommentar in: Neue Zürcher Zeitung vom 24.3.2023. Anne Berner ist finnisch-schweizerische Doppelbürgerin.
4 Gafafer, Tobias; Tanner, Samuel. «Der Krieg bedeutet nicht, dass sich die Schweiz der EU annähern muss». Interview mit Urs Wietlisbach, Mitgründer von Kompass/Europa. In: Neue Zürcher Zeitung vom 24.3.2023

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