Kunst als «Lehrbuch des Lebens»

"Kunst als «Lehrbuch des Lebens»"

Zur Russischen Malerei des 19. Jahrhunderts und dem Wirken der «Peredwishniki»

von Urs Knoblauch, Bildender Künstler und Kulturpublizist

Die unvergessliche Kunstausstellung «Russische Malerei im 19. Jahrhundert» im Kunsthaus Zürich 1989 erweist gerade in der Gegenwart ihre grosse Aktualität. Angesichts der Kriege, der Ungerechtigkeiten und aktuellen sozialen Spannungen drängt sich die notwendige Besinnung auf ein friedfertiges Zusammenleben und die damit verbundenen moralisch-ethischen Grundwerte auf. Die «Genossenschaft der Wanderaussteller» ist dazu ein eindrückliches Beispiel. Gewaltfreie Konfliktlösungen und ein gleichwertiger Dialog zwischen den Menschen, Kulturen und Zivilisationen sind ein Gebot der Stunde. In der wichtigen historischen Epoche von 1850 bis 1910 in Russland festigte sich auch die Beziehung zwischen ­Russland und Europa. Verbindend war das gemeinsame Erbe des Christentums, der Renaissance und der Aufklärung mit ihren grossen Denkern und Philosophen. Russ­land hat seine geographischen, historischen, kulturellen und politischen Wurzeln in diesem historischen Europa. Der Handel, der wissenschaftliche Austausch und die diplomatischen Beziehungen sind für alle Länder Europas wichtig. Sinnvolle Kooperation war immer ein gemeinsames Anliegen und sollte wieder mehr Bedeutung erhalten. Anstelle des Zentralismus der heutigen EU und des transatlantischen Diktats muss wieder mehr Demokratie, Eigenständigkeit, kulturelle Identität und Souveränität der Nationalstaaten erreicht werden.

Die Jahre 1850 bis 1870 waren eine Zeit der schöpferischen Blüte unter den grossen Malern und Schriftstellern Russlands wie A. S. Puschkin, N. W. Gogol, I. S. Turgeniew, A. P. Tschechow. 1851 wurde die Eisenbahnstrecke St. Petersburg–Moskau, damals die längste der Welt, eröffnet. 1850 herrschte Zar Niklaus I. über das Russische Reich. Leo Tolstoi war 22 Jahre alt, Feodor Dostojewski 29 Jahre und N. G. Tschernyschewski 22 Jahre. Tschernyschewski prägte den umfassenden Begriff der Kultur als «Lehrbuch des Lebens». Damit wurde der Kunst eine soziale Aufgabe auch zur Stärkung der Demokratisierung zugewiesen. So beschäftigten sich die Bevölkerung, viele Intellektuelle, Maler und Schriftsteller in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Armut, den gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und den Nöten der Bauernschaft. In den dabei entstandenen revolutionären Bewegungen standen die Auseinandersetzung zwischen freiheitlichen und autoritären Gesellschaftsformen und das Menschenbild im Zentrum. Dichter, Maler und Musiker «begannen, die russischen Bauern und Handwerker in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit zu stellen und ihre Lebensweise und tägliche Arbeit zu poetisieren» (S. 61), schreibt dazu die russische Kunsthistorikerin Lindija I. Iowlea im Ausstellungskatalog zu den Anliegen der Peredwishniki und ihrer genossenschaftlichen Ausstellungen.1 So begannen die Künstler auch im Freien zu arbeiten, wie ihre französischen Kollegen J. F. Millet und G. Courbet in der Schule von Barbizon. Es war auch der Ausdruck einer echten Verbundenheit mit der Bevölkerung, ihrer Kultur und den landschaftlichen Schönheiten.

Verbunden mit den Freuden und Leiden der Bevölkerung

Die Maler der «Peredwishniki», der «Genossenschaft der Wanderaussteller» stellten diese aktuellen Themen ins Zentrum ihres Wirkens. Die «Wandermaler» zogen mit ihren Werken aus den Städten zur bäuerlichen Bevölkerung, in weit entlegene Regionen Russlands. Mit ihren Ausstellungen ermöglichten sie den Menschen dort, auch an den kulturellen Aktivitäten teilzuhaben. Sie stiessen auf grosses Interesse, denn auf ihren wunderschönen Gemälden würdigten sie diese Menschen und ihre kulturelle Lebensweise. Mit ihrer Bildersprache des Realismus waren die Inhalte auch allgemein verständlich. Mit grosser Ernsthaftigkeit traten sie in einen Dialog mit der Bevölkerung. Der bedeutende Teil der Bevölkerung Russlands gehörte dem Bauernstand an, der oft in erniedrigender Abhängigkeit lebte. Auch die klimatischen Bedingungen waren hart. Hier konnte man teilweise nur vier oder fünf Monate landwirtschaftlich arbeiten. Hungersnöte waren nicht selten. In der ergreifenden Schrift «Die Hungersnot in Russ­land» schildert der Schriftsteller Graf Leo N. Tolstoi das Elend und die grosse Not und entwickelt auch aktuelle Wege zur Linderung. Durch den Druck der gesellschaftlichen Entwicklungen und das Wirken der Schriftsteller für mehr soziale Gerechtigkeit und Menschlichkeit wurde unter Zar Alexander II. 1861 die Leibeigenschaft abgeschafft. 25 Millionen Bauern wurden mehr Rechte und Freiheiten zugesprochen, zahlreiche soziale Probleme blieben jedoch bestehen.

Wahrhaftigkeit, Sinnhaftigkeit und moralische Werte

W. G. Perow war der wichtige Vertreter der «Moskauer realistischen Schule». Mit grossem Mitgefühl hob er als «Poet des Kummers» alltägliche Situationen, soziale Ungleichheiten und menschliche Dramen, wie das Bild «Die Ertrunkene» von 1867, auf die allgemeinmenschliche Ebene.
Viele jüngere Künstler, die bestens an der Petersburger Kunstakademie in der Tradition des klassizistischen Akademismus ausgebildet waren, suchten nach eigenen Wegen. Wahrhaftigkeit, Sinnhaftigkeit und moralische Werte standen für sie im Zentrum. Wichtig waren auch die Themen der Romantik, mit ihrem Suchen «nach Ergründung der Wahrheit des Lebens und des menschlichen Charakters». Treibende Kräfte waren Maler wie K. P. Brüllow oder A. A. Iwanow, der das grossartige Werk «Christus erscheint dem Volke» geschaffen hatte, an dem er von 1837–1857  arbeitete und das in der Tretjakow-Galerie in Moskau zu bewundern ist. Der Künstler wollte mit dem Motiv wichtige ethisch-moralische Werte für die Aufgaben und für die Existenz einer Gesellschaft aufzeigen. Damit verbunden war auch die Verehrung der Natur und Landschaft. So sahen diese Maler den Fortschritt im Streben «nach der Vervollkommnung der moralischen Lebensprinzipien jedes einzelnen Menschen, auch als Gesellschaft im ganzen». Diese Suche nach Sinnhaftigkeit und sozialer Gerechtigkeit wurde entscheidend: «Im Herbst des Jahres 1863 weigerte sich eine Gruppe von Abschlussstudenten der Petersburger Akademie der Bildenden Künste, das Bild für den Schlusswettbewerb mit einem vorgegeben Motiv (‹Das Fest der Götter der Walhalla›) zu malen, und forderte freie Wahl der Themen.» (S. 61) Dieses aussergewöhnliche Ereignis ging unter dem Namen «Aufstand der Vierzehn» in die Geschichte ein. Die Forderungen der Studenten wurden abgelehnt, worauf sie die Akademie verliessen und die erste unabhängige Künstlervereinigung in Russland gründeten: die «Petersburger Künstlergenossenschaft». Sie wurde zur Vorgängerin der sieben Jahre später ins Leben gerufenen «Genossenschaft für Wanderausstellungen Bildender Kunst». Später wurde sie abgekürzt «Genossenschaft der Wanderaussteller» (Peredwishniki) genannt. Lidija I. Iowlewa schreibt in ihrem tiefgründigen Beitrag: «Die Gründung dieser äusserst wichtigen und in der Geschichte der russischen Kunst auch dauerhaften Organisation ist von grösster historischer Bedeutung, da sie den Anbruch einer neuen Zeit des verstärkten Bezugs zur Gesellschaft darstellt.» (S. 66) Die Kunstwerke wurden nicht mehr wie bisher für wenige in den Gebäuden der Akademie verwahrt, sondern durch den verstärkten Bezug zu den Lebensfragen der Bevölkerung allgemein zugänglich gemacht. So kamen die Menschen nicht nur in den grossen Städten, sondern auch in der bisher unerschlossenen Provinz in den Genuss dieser Bilder und des «Lehrbuch des Lebens».

Soziale Verbundenheit als Lebensprinzip

Einer der Gründer der Genossenschaft war der Künstler I. N. Kramskoj, der mit Porträts und dem Werk «Christus in der Wüste» von 1872 berühmt wurde. Das religiöse Motiv hob er auf eine philosophische und allgemein menschliche Ebene. Hohe moralisch-ethische Ideale waren zentral und das Verbindende der verschiedenen Persönlichkeiten der Peredwishniki. Einer der originellsten Künstler war N. N. Ge, ein Freund von A. I. Herzen und M. A. Bakunin. Er gehörte auch zu den Gründungsmitgliedern der Genossenschaft. In seinem berühmten Bild «Peter I. verhört den Zarewitsch Alexej Petrowitsch in Peterhof» (1871) gelingt es ihm mit kompromisslosem Realismus, eine folgenschwere zwischenmenschlichen Situation tiefgründig darzustellen. Ende der 1870er Jahre freundete er sich mit Tolstoi an und schuf eine Reihe Bilder, in der die moralisch-philosophische Lehre Tolstois zentral wurde.
Auch die Bilder von W. I. Surikow und W. M. Maximow, wie beispielsweise sein Meisterwerk «Kranker Mann» (1881) behandeln einfühlsam «lebenskundliche» Themen. W. Je. Makowskij bezog auch die städtischen Bevölkerungsschichten und die revolutionär eingestellten Intellektuellen in seine Genrebilder ein. Sein eindrückliches Bild «Die Abendgesellschaft» (1875–1897) zeigt einen Tisch, an dem zahlreiche Personen einer Dichterlesung lauschen, in einer mit spärlichem Lampenlicht beleuchteten Zimmer. Diese Künstler erkannten bereits die Notwendigkeit der psychologischen Dimension für das Verständnis von zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Vorgängen: «Mit dem Ziel, den ‹wirklichen Interessen des Volkes› (I.N. Kramskoj) zu dienen, bemühten sich die Peredwishniki um einen weiter gefassten Kunstbegriff als nur die Darstellung von Szenen aus dem Volk. Sie erkannten, dass das Bild des zeitgenössischen Lebens ohne die Darstellung des Innenlebens des Menschen dieser ‹Epoche der Fragen und Zeitungen› (Kramskoj) nicht vollständig sein kann.»
Grosser Beliebtheit erfreute sich die Darstellung der Natur und der Landschaftsmalerei. Auch hier waren Glaubwürdigkeit, Wirklichkeitsnähe und Exaktheit der Beobachtung wichtig. Die Maler suchten aber auch in den Bildern nach Seele und einer «Menschlichkeit», obwohl nicht immer Menschen vorkamen. «Viele Landschaftsbilder waren in ihrem Charakter ‹lyrische Äusserungen› des Künstlers, ein Ausdruck seiner Gefühle und seines Innenlebens, ein Nachdenken über das Schicksal seines Landes und Volkes.» (S. 71) So zeigen die Werke I. I. Lewitans «den Reichtum der Natur in einer bis anhin nie gesehenen Vielfalt und verbildlichen den Einklang von Natur und menschlicher Seele. Lewitans Landschaften sind nicht nur Naturbilder, sondern feinfühlige Darstellungen verschiedener seelischer Zustände und Gemütsbewegungen des Menschen.»
In den Historienbildern suchten die Maler wie N. N. Ge, Ilja Repin und W.I. Surikow neben der historischen Wahrhaftigkeit «die Geschichte in ihrer allgemein-menschlichen, moralisch-ethischen Bedeutung zu erfassen»; aber auch die «Wurzeln der nationalen Eigenständigkeit» wurden betont. Sie trugen entscheidend zur Verwurzelung demokratischer Ideen bei. Die zentrale Persönlichkeit der ganzen Gruppe und der russischen Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Ilja Repin. Bekannt sind sein Meisterwerk «Die Wolgatreidler» (1870–1873) und seine Bilder und Porträts von Tolstoi. Mit seinen aussergewöhnlichen künstlerischen Fähigkeiten beherrschte er alle Themen der Kunst. Es war «seine grenzenlose Liebe zum Leben und seine unersättliche Neugier für alle seine Phänomene, das Interesse und die Aufmerksamkeit gegenüber dem Mitmenschen, eine fast ‹tolstoische› Fähigkeit, das Innenleben einer anderen Person zu erspüren, und die künstlerische Kompetenz, immer wieder neue Verfahren zu finden, um diese inneren Welten sichtbar machen zu können.» (S. 72) Der Einfluss Repins als Künstler und Pädagoge kann nicht hoch genug gewürdigt werden. Beispielhaft ist dazu die langjährige Freundschaft zwischen Leo Tolstoi und dem Maler Ilja Repin. Sie waren sich menschlich und in ihren Idealen einer gerechten und guten Gesellschaftsform einig. Im grossartigen Bild von Ilja Repin «Tolstoi beim Pflügen» (1887) kommt die Substanz ihres Kulturbegriffs zum Ausdruck. Durch die eigene ehrliche und existenzielle Arbeit des Bestellens des Ackers wird Kultur, als «agricultura», als vielfältige Zivilisationsleistung im umfassenden Sinne verständlich. Mit ihrem Wirken trugen diese Künstler zu einem hohen Bildungsideal einer ganzen Epoche bei. So waren die fortschrittlichsten und lebensfähigsten Kräfte der russischen Kunst der 1870er und 1880er Jahre auf die eine oder andere Art mit den Peredwishnikis verbunden.
In den späten 1880er Jahren schloss sich eine grosse Gruppe talentierter junger Künstler der «Genossenschaft für Wanderausstellungen» an. Neben den Anliegen ihrer Lehrer traten vermehrt neue Tendenzen und formale Spielarten des europäischen Jugendstils ins Zentrum. Künstlerisch-technische Bereiche verdrängten immer mehr die sozialen und inhaltlichen Fragestellungen. «Die Krise des russischen Realismus begann um die Jahrhundertwende. Die neue gesellschaftliche und ökonomische Situation, die durch die beschleunigte Entwicklung des Kapitalismus entstanden war, veränderte auch die Kunst.» (S. 76) Andere Werte setzten sich durch. Die letzte Ausstellung der Genossenschaft für Wanderausstellungen fand 1922 nach der grossen Oktoberrevolution statt.
Abschliessend nochmals die Kunsthistorikerin Lidija I. Iowlewa: «Das Streben nach hohen moralisch-ethischen Idealen war ein wesentlicher Aspekt des russischen Realismus, wie im übrigen auch der ganzen russischen Kultur des 19. Jahrhunderts. Die Ablehnung der bestehenden Weltordnung und, in erster Linie, der sozialen Struktur der Gesellschaft, der unerschütterliche Glaube an den Menschen und die Kraft seines Geistes und Verstandes, das Vertrauen in die Möglichkeiten einer gerechten gesellschaftlichen Lebensform und die Fähigkeit des russischen Volkscharakters, diese Lebensform verwirklichen zu können – all dies beseelte die Arbeit der Peredwishniki in den besten Jahren ihres Zusammenwirkens und äusserte sich in all ihrem Wirken, ungeachtet dessen, ob es sich dabei um Sittenbilder, historische Malerei, Landschaft oder Kriegsszenen handelte.»
Ein Überdenken dieser wichtigen historischen Entwicklung, der grossen kulturellen Leistung und der Ethik und Moral der Peredwishniki sind sicher lohnend für die heutige Gesellschaft und für die friedfertige Bewältigung der Aufgaben der kommenden Generationen.    •

1    Russische Malerei im 19. Jahrhundert (Kunsthaus Zürich, 3. Juni bis 30. Juli 1989)

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