Brücken gebaut, wo immer es ging

Brücken gebaut, wo immer es ging

Willy Wimmer «Die Akte Moskau»

von Wolfgang van Biezen

Um dieses einzigartige Geschichtsbuch in seiner Vielfalt zu verstehen, ist es hilfreich, sich die ehemals britische und heute angloamerikanische Geostrategie für den europäischen Kontinent in Erinnerung zu rufen.
Nachdem 1871 nach dem deutsch-französischen Krieg und dem Sieg Preussens das Deutsche Reich gegründet wurde, geriet das europäische Gleichgewicht der Kräfte erheblich durcheinander. Die Eliten des britischen Empires sahen ihre Vormachtstellung in Europa, aber auch ihre Handelsrouten nach Indien existenziell bedroht. Historisch nachweisbar ab 1887 ist die bis heute gültige geostrategische Doktrin: Deutschland und Russland dürfen kein Bündnis eingehen.
Der Erste Weltkrieg bescherte der Welt ein neues Imperium. Weil die alte britische Kolonial-Handelsroute und die neue Öltransportroute der USA zu grossen Teilen deckungsgleich waren, partizipierte das neue Imperium fortan gerne an der reichhaltigen Erfahrung rund 500jähriger Kolonialgeschichte des englischen Königreiches. Diese unheilige Allianz besteht bis heute.
Auf dem europäischen Festland wurden die politischen Systeme und ihre Territorien nach Beendigung des Ersten Weltkriegs gründlich zerschlagen. Drei Kaiserreiche verschwanden. Österreich-Ungarn wurde zerhackt, Russ­land erhielt seinen «versprochenen Lohn», den Zugang für seine Flotte ins Mittelmeer, nicht. Statt dessen wurde es in revolutionären Wirren ertränkt, und Deutschland erfuhr mit dem «Vertrag» von Versailles eine politische Demütigung und ökonomische Zertrümmerung. Die westlichen Siegermächte USA, England und Frankreich ordneten den Kontinent neu. Der Hitler-Stalin-Pakt der Zwischenkriegszeit war nicht wirklich eine konstruktive Verbindung zwischen Deutschland und Russland. Der Zweite Weltkrieg bescherte Europa neue Grenzen und einen Eisernen Vorhang mitten durch Deutschland. Diesseits und jenseits dieses Vorhangs standen sich die beiden Atommächte USA und UdSSR gegenüber, Deutschland war geteilt.

Verhärtete Fronten im Kalten Krieg

Jeder Bürger, jede Familie der alten Bundesrepublik und der DDR musste sich im Wiederaufbau beider Deutschland nach dem Krieg mit dem Kalten Krieg auseinandersetzen. Der Mauerbau zementierte für die Bürger beider Republiken die politisch-geostrategische Realität. Die Fronten waren verhärtet. Die Medien beiderseits des Eisernen Vorhangs schossen jahrzehntelang aus allen Rohren der Propagandamaschinerie. Trotzdem und vielleicht auch deshalb war die Freude gross, als die Wiedervereinigung Deutschland wie im Rausch erfasste. Kirchlicher Widerstand, Montagsdemonstrationen, «Wir sind das Volk», der Fall der Mauer, der Ausverkauf der DDR, die einsetzende Ernüchterung – alles ging damals so schnell, dass erst jetzt, 25 Jahre später, die historische Auf­arbeitung beginnen kann. «Die Akte Moskau» gibt uns Einblick in Zusammenhänge, die normalerweise nur durch mühsames Aktenstudium zu erhalten sind.
Willy Wimmer (geboren 1943) wuchs im amerikanisch dominierten Teil von Deutschland auf, ist Christ und Demokrat. Er engagierte sich früh in der Politik, war über 30 Jahre Abgeordneter der CDU im Deutschen Bundestag, amtierte als Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der KSZE/OSZE und wurde im reifen Alter als Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium nicht nur Zeitzeuge, sondern auch Akteur im Prozess der Wiedervereinigung beider Deutschland. Ihm kam die Aufgabe zu, die westdeutsche Bundeswehr sowie die ostdeutsche Nationale Volksarmee NVA, die sich bis zur Wiedervereinigung als feindliche und atomar gerüstete Armeen gegenüberstanden, in ein Verteidigungsbündnis zu integrieren. Er hat dabei Enormes geleistet, vor allem Brücken gebaut, wo immer es ging – und nicht selten gegen erheblichen Widerstand in der eigenen Regierung und Verwaltung.

Als Beauftragter der Bundesregierung im Auge des Tornados

Er befand sich zur Zeit der Wende als Beauftragter der Bundesregierung sozusagen im Auge des Tornados, und dank seiner ­Position, aber auch dank seiner Persönlichkeit wissen wir heute, dass es hinter der offiziellen Agenda noch eine andere gab und gibt. Er konnte die Nato-Übung Wintex/Cimex, bei der simuliert wurde, dass US-Atombomben (wenn auch nur übungsweise) auf ostdeutsche Städte abgeworfen werden sollten, nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, und er beendete mit der Billigung von Bundeskanzler Helmut Kohl den deutschen Teil dieser Nato-Übung. Die Vertreter der USA waren diese Art der Gehorsamsverweigerung eines Bündnispartners noch nicht gewohnt.
Nach diesem Schlüsselerlebnis registrierte Willy Wimmer viele andere Merkwürdigkeiten. Noch vor der Wiedervereinigung 1988 machten dienstliche Besuche im Weissen Haus in Washington und unerwarteter Weise auch im Hauptquartier der CIA in Langley deutlich, wer für Europa die Fäden zieht, und auch ihm, der geopolitisch einiges gewohnt war, stockte mitunter der Atem. So zum Beispiel, als er erleben musste, dass bereits 1988 bei einem Briefing im Weissen Haus eine zeitgemässe und neue sowjetische Verfassung mit bürgerlichen Rechten wie Rede- und Glaubensfreiheit erarbeitet wurde. Zu einem anderen Zeitpunkt wurde Willy Wimmer Zeuge, wie die Tagesordnungspunkte des Zentralkomitees der KPdSU ebenfalls im Weissen Haus in Washington erstellt wurden. Überdies wurde allen Ernstes darüber nachgedacht, ob (West-)Eu­ropa weiterhin als Kondominium der USA und der UdSSR weitergeführt werden soll. Ausgerechnet in Langley, im Hauptquartier der CIA, teilte man ihm im gleichen Jahr mit, dass die Sowjets in Mitteleuropa seit Ende des Zweiten Weltkrieges rein defensiv aufgestellt seien und ihr Vorgehen allein ein defensives sei, und – so schon fast zärtlich intoniert von dem unterrichtenden CIA-Beamten – dass alles und allein dem «Schutz von ‹Mütterchen Russland›» diene. Solche Berichte nach Bonn lösten verständlicherweise in Regierungskreisen Hektik aus, weil die zu erwartenden Konsequenzen nicht mehr überblickbarbar waren und ausser Kontrolle zu geraten drohten.
Seine Erfahrungen mit der US-amerikanischen Agenda stimmen allerdings nachdenklich, allein deshalb, weil deutlich wird, dass Westeuropa, die EU und insbesondere Deutschland weit entfernt von jeglicher staatlichen Souveränität sind. Das Imperium, wie Daniele Ganser in seinem jüngst erschienenen Buch «Die illegalen Kriege» die USA nennt, bestimmt, was auf dem Kontinent passiert.

Zeitpunkt für eine echte Abrüstung war nach 1990 eigentlich gekommen

Willy Wimmer macht in seinem Buch deutlich, dass mit dem Zusammenbruch der UdSSR eigentlich der Zeitpunkt für eine echte Abrüstung gekommen war. Zumal ­Politiker wie Michail Gorbatschow signalisierten, dass es ernst sei mit der Wiedervereinigung. Die russischen Truppen wurden, wie besprochen, aus Deutschland abgezogen, und der Westen versprach mehrmals, die Nato nicht weiter nach Osten auszudehnen. Der Warschauer Pakt wurde aufgelöst.
Willy Wimmer sprach mit den Kommandanten der Bataillone der NVA, redete mit russischen Militärs in der DDR, wurde als Mensch empfangen und hörte sich die Sorgen und Nöte von Müttern und Vätern an, die zufällig Soldaten waren und um ihre Existenz bangten. Er suchte mit ihnen oder seinen Vorgesetzten nach Lösungen in dieser vielfach komplizierten und beispiellosen Situation. Auf beiden Seiten des «Eisernen Vorhangs» wurde folgendes deutlich:
Die Menschen sehnen sich nach Frieden, und sinnvollerweise hätte damals die Nato als obsolet ebenfalls aufgelöst gehört. Doch der militärisch-industrielle Komplex der USA entschied (bereits 1988) anders. Statt dessen entstand aus einem (Nato)-Defensivbündnis ein Angriffsbündnis, die Nato wurde in Osteuropa bis direkt an die Grenze der Russischen Föderation ausgeweitet, obwohl man sich in den Staaten bewusst ist, dass Russ­land der gegenwärtige Vormarsch der Nato an die Zeiten von Hitler und Napoleon erinnert. Die historische Erfahrung sei tief im kollektiven Gedächtnis der Russen eingeprägt, so der Beamte der CIA zu Willy Wimmer. Wozu dann diese Machtdemonstration?
Der verzweifelte Ruf «Nie wieder Krieg von deutschem Boden!», welcher auf Grund der katastrophalen Erfahrungen sowohl des Ersten Weltkrieges als auch der 55 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges erscholl und der für beide deutsche Staaten galt, wurde ausgerechnet von einer rot-grünen Bundesregierung mit Lügen und falschen Appellen an die Menschlichkeit seines Ernstes beraubt. Seit dem Jugoslawien-Krieg ist Deutschland wieder im Krieg.

Seit dem Jugoslawienkrieg ist Deutschland wieder im Krieg

Und der ganz grosse Krieg ist in Vorbereitung. Die Lage ist ernst, wenn man George Friedman, ehemals Stratfor-Institute, Berater in Kriegsfragen des noch amtierenden Präsidents Barack Obama, glauben darf. Es hänge von den Deutschen ab, wie sich die Lage auf dem Kontinent entwickle. Eine gleichgeschaltete Presse wiegt die Bürger Europas in Sicherheit. Doch die USA wissen, was sie tun.
Das Buch von Willy Wimmer ist wahrhaftig keine leichte, aber trotzdem eine Pflichtlektüre, und es zwingt den Leser förmlich, darüber nachzudenken, ob es auf diesem Planeten wirklich eine Macht braucht, die dem Rest der Welt Anweisungen erteilt, wie man zu leben hat. Wo steht geschrieben, dass Eu­ropa seine Geschicke nicht selbst in die Hand nehmen kann? Wo steht geschrieben, dass dieses Europa nicht souverän sein darf? Wo steht geschrieben, dass Europa ohne einen Hegemon nicht überlebensfähig ist? Oder schliessen wir uns der Forderung von Rolf Hochhut an: «Schafft die Nato ab!»
Ist die Zeit nicht gekommen, daran zu arbeiten, dass Europa und Russland endlich auf gleicher Augenhöhe, friedlich, souverän und zum Wohle ihrer Bürger Handel treiben und den Kontinent, der so viel an Kultur, Technik, Wissenschaft und Ressourcen zur Verfügung hat, gemeinsam weiterentwickeln?    •

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