von Dieter Sprock
Für die Schweiz stehen in diesem Jahr wichtige Verhandlungen mit der EU an, welche ihre politische und wirtschaftliche Souveränität tangieren. Dies betrifft vor allem die Personenfreizügigkeit, das Strommarktabkommen und das institutionelle Rahmenabkommen. Erschwerend kommt hinzu, dass die EU den Entscheid der Schweizer Bevölkerung, die Zuwanderung wieder selber zu bestimmen, nicht akzeptieren will und weitere Verhandlungen, wie auch jene über den Zugang zum Strommarkt, von einer Lösung in der Frage der Personenfreizügigkeit und der institutionellen Frage abhängig machen will. Das institutionelle Rahmenabkommen verlangt, dass die Schweiz bestehendes EU-Recht und dessen Weiterentwicklung automatisch übernimmt, was mit unserer Referendumsdemokratie aber nicht vereinbar ist.
Die Schweiz hat jedoch keinen Grund, sich erpressen zu lassen. Sie befindet sich gegenüber der EU in einer komfortablen Verhandlungsposition, verfügt sie doch mit der EFTA über eine realistische Alternative. Und der Bundesrat kann sich der vollen Unterstützung der Bevölkerung sicher sein, wenn er Übergriffe auf unsere Souveränität nicht akzeptiert. Die Selbstbestimmung hat in der Schweiz einen hohen Stellenwert.
Bereits eine kurze Gegenüberstellung der Entstehung und Ziele von EU und EFTA lässt keinen Zweifel daran übrig, auf welcher Seite Freiheit und Selbstbestimmung zu finden sind.
Die Zollunion und der Binnenmarkt bilden die Grundpfeiler der EU und ihrer Vorgängerorganisation, der EWG: «Grundlage der Gemeinschaft ist eine Zollunion, die sich auf den gesamten Warenaustausch erstreckt; sie umfasst das Verbot, zwischen den Mitgliedsstaaten Ein- und Ausfuhrzölle zu erheben, sowie die Einführung eines Gemeinsamen Zolltarifs gegenüber dritten Ländern.» (aus dem Gründungsvertrag der EWG 1957)
Damit sich aus der Zollunion ein europäischer Markt entwickelt, wurden die innerstaatlichen Gesetze und Regeln der einzelnen Länder – wie etwa der Verbraucherschutz, die Sicherheit bei Arbeiten an Maschinen, die Kennzeichnung von Lebensmitteln und vieles andere mehr – nach den Vorgaben von Brüssel vereinheitlicht. Ab 1993 gelten für den gesamten EU-Binnenmarkt die vier sogenannten «Grundfreiheiten», welche den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen durchsetzen. Die Mitgliedsstaaten haben ihre wirtschaftliche und politische Souveränität weitgehend eingebüsst, denn EU-Recht geht vor Landesrecht.
Ganz anders die EFTA: Die EFTA wurde 1960 als eine Art Gegenprojekt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gegründet. Sie achtet die Souveränität der Staaten. Ihre Mitglieder arbeiten nur in ausgewählten Bereichen, die sie selber bestimmen, zusammen. Die Verhandlungen für Freihandelsabkommen werden von den Mitgliedsstaaten selbst geführt. Das EFTA-Sekretariat, eine schlanke Organisation, ist nur unterstützend dabei, die Entscheidung bleibt immer in den Händen der Mitgliedsstaaten. «Die gegenwärtigen EFTA-Mitglieder, heisst es auf der Webseite des Seco, dem Staatssekretariat für Wirtschaft, sind Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz. Im Unterschied etwa zur EU ist die EFTA keine Zollunion. Dies bedeutet unter anderem, dass die einzelnen EFTA-Staaten ihre Zolltarife und andere aussenhandelspolitische Massnahmen grundsätzlich gegenüber Nicht-EFTA-Staaten (Drittstaaten) eigenständig festlegen können.»1 Die EFTA handelt in der ganzen Welt sehr erfolgreich Freihandelsverträge aus.
EWG und EU folgten, wie heute in der Schweiz zugängliche Dokumente zeigen, «der strategischen Planung der USA nach dem Zweiten Weltkrieg», schreibt Werner Wüthrich.1 Und weiter: «Die USA als führende Weltmacht steuerten im Hintergrund das Geschehen. Sie favorisierten die Idee der EWG und bekämpften die Idee einer Freihandelszone, in der die europäischen Nationen als souveräne Staaten zusammenarbeiteten. Sie versuchten aktiv, die EFTA zu verhindern, weil sie nicht in ihr weltpolitisches Konzept passte, und arbeiteten nach ihrer Gründung im Jahre 1960 auf deren Wiederauflösung hin.» (S. 68 f.)
Die EU-Verantwortlichen lassen keine Gelegenheit aus, sich als Gralshüter der vier Grundfreiheiten – dem freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr – zu präsentieren und diese als eine Art Heilmittel für die wirtschaftlichen Probleme der ganzen Welt darzustellen. «Wir profitieren ja alle davon.»
Doch einmal abgesehen von gewissen Annehmlichkeiten, einigen Freiheiten sowie Reise- und Zahlungserleichterungen für ein grösseres Publikum, erweisen sich die vier Grundfreiheiten bei genauerem Hinsehen als perfektes Durchsetzungsprogramm für die Interessen grosser Konzerne und der Finanzwirtschaft. Sie haben den Weg für den grenzenlosen Konkurrenz- und Verdrängungskampf freigeschaufelt, der heute im EU-Binnenmarkt herrscht.
Die vier Grundfreiheiten ermöglichen Firmen, ihre Produktion in Länder zu verlegen, in denen die Löhne tiefer sind. Nicht selten verdienen die Menschen dort mit 40 Stunden Arbeit weniger, als Arbeitslose in den reichen Ländern Sozialleistung bekommen. Sie erlauben den Kapitaleignern grosser Konzerne, Konkurrenzbetriebe aufzukaufen und zu schliessen. Selbst rentable Betriebe werden geschlossen. Das einheimische Gewerbe wird zerstört, und inzwischen trifft man in ganz Europa überall die gleichen Ladenketten und Waren an. Die vier Grundfreiheiten sind dafür verantwortlich, wenn eine Schweizer Gemeinde einen Schulneubau international ausschreiben und der Firma den Zuschlag geben muss, die am günstigsten offeriert, egal in welchem Land sie ihren Sitz hat. Die reicheren Länder werben den wirtschaftlich schwächeren die besten Arbeitskräfte ab und verunmöglichen diesen Ländern damit, ihre eigene Wirtschaft zu entwickeln. Und so geht die Schere zwischen armen und reichen Ländern immer weiter auf.
Am Beispiel des grenzüberschreitenden Handels mit Strom lässt sich gut zeigen, dass es die EU, welche allen Mitgliedsländern eine vollständige Liberalisierung der Märkte aufzwingen will, nicht braucht. Das europäische Stromnetz funktionierte bis zur Übernahme durch die EU im Jahr 2009 bereits 58 Jahre auf privatrechtlicher Basis bestens. Die verantwortlichen Ingenieure und Kraftwerksbetreiber leisteten eine ausgezeichnete Arbeit. Der Fokus lag auf Zuverlässigkeit, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit. Mit der Liberalisierung des Marktes wird dieser auf Rendite und Gewinnmaximierung verschoben, und es ist zu erwarten, dass die Preise steigen und die Versorgungssicherheit abnehmen wird. (Siehe dazu Zeit-Fragen Nr. 16 vom 28.4.2013, EU-Strommarktliberalisierung und die Schweiz. Es drohen Preissteigerungen und Versorgungsunsicherheit.)
Alles das ist nicht neu. Immer mehr Menschen sehen, dass etwas nicht stimmt, und lassen sich von der Propaganda, dass «die Freiheiten uns ja alle zugutekommen», nicht mehr blenden. In Österreich läuft zurzeit ein EU-Austrittsbegehren, das von mehr als 250 000 Bürgern unterstützt wird. Die Regierungen Ungarns und Polens versuchen, einen Teil der verlorengegangenen Souveränität wieder zurückzugewinnen und ihre einheimische Industrie zu schützen. Und wenn heute in Grossbritannien über den Austritt aus der EU abgestimmt würde, so würde eine Mehrheit der englischen Bevölkerung diesen bejahen. Andere Länder lassen eine solche Abstimmung erst gar nicht zu, weil sie die gleiche Antwort befürchten.
Die etablierten Parteien können sich nicht mehr darauf beschränken, Kritiker des Systems EU abzuqualifizieren. Die Menschen hören deshalb nicht auf, selbst zu denken. Es braucht über alle Parteigrenzen hinweg ehrliche Lösungen, bevor es zu spät ist. In dieser Situation bietet sich das System EFTA als realistische Alternative an, und zwar nicht nur für Europa. •
1 Werner Wüthrich. Das Europäische Orchester wieder zum Klingen bringen. Die Geschichte der Europäischen Union und ihre Zukunft – aus Schweizer Sicht, 2015. Der Autor stützt sich hauptsächlich auf Dokumente aus dem schweizerischen Bundesarchiv.
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