Die andere Seite der Medaille

Die andere Seite der Medaille

Eidgenössische Volksabstimmung vom 10. Februar 2019

Nachtrag zur Zersiedelungsinitiative

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Die Initiative wurde ergriffen, weil die bisherige Schweizer Raumplanung nach Ansicht der Initianten zu wenig greife (vgl. Zeit-Fragen Nr. 2 vom 15.1.2019). Wer der Sache nachgeht, stösst jedoch auf eine zentral gelenkte Siedlungspolitik, die seit Jahren im Gange ist und unser Land derart umpflügt, dass man als Bürger geneigt ist zu sagen: Halt! Stopp! Vielleicht erinnern Sie sich an die Metro­politanräume, die in Bern um die Jahrtausendwende nach EU-Vorbild eingeführt wurden. Darauf gestützt betreibt der Bund seine kostspielige Agglomerationspolitik, welche die regionale Konzentration von Gewerbe und Industrie im «urbanen Raum» fördert – sozusagen das Gegenstück zu den ebenfalls von oben eingepflanzten Naturpärken im «ländlichen Raum». Beiden gemeinsam ist das Aufbrechen der kantonalen Souveränität durch die Schaffung von «Regionen», die angeblich der heutigen Zeit besser entsprechen als die vom Bund unabhängige Zusammenarbeit der Kantone untereinander. Beide lenken die Raumpolitik mit dem Köder millionenschwerer Subventionen in einer Art und Weise, die nicht nur dem durchaus erwünschten sparsameren Baulandverbrauch dient, sondern vor allem auch die eigenständige Planung der einst souveränen Kantone und autonomen Gemeinden schwächt. Es ist ratsam, an diese andere Seite der Medaille zu denken, bevor man sich für weitere Schritte in der Siedlungspolitik entscheidet.

Einer der massgeblichen Gründe für den wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz ist – neben dem direktdemokratischen Entscheidungsrecht der Bürger – der dezentrale Aufbau und die damit zusammenhängende Flexibilität unserer Wirtschaft. Anders als in vielen anderen Staaten waren Industrie und Gewerbe nie ausschliesslich auf die Städte konzentriert. Textilfabriken und später Maschinenbau- und Elektrobetriebe siedelten sich in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert auch in vielen Dörfern an. Erst recht gilt dies für das Gewerbe und die Dienstleistungsbetriebe: 99 Prozent der Schweizer Firmen sind nach wie vor kleine oder mittlere Unternehmungen (KMU), die vor allem in einem näheren Umkreis tätig und in ihrer Gemeinde verankert sind. Nicht nur zahlen sie ihre Steuern (neben den Leistungen an Bund und Kanton) in die Gemeindekasse, sondern Geschäftsleiter und Mitarbeiter sind oft auch im Vereinsleben und in der Gemeindepolitik aktiv. Deshalb ist die Wirtschaftsleistung pro Kopf in Stadt- und Landgebieten relativ ausgewogen und die Bevölkerung in Stadt und Land begeg­net einander in aller Regel auf Augenhöhe.

Agglomerationspolitik: Konzentration der Wirtschaft im «urbanen Raum»

Am aktuellen Beispiel «Wil West» wird deutlich, dass es heute immer weniger die Kantone und Gemeinden sind, welche die Bau- und Wirtschaftspolitik gestalten, sondern neu gebildete überregionale Organisationen, die ihre Projekte in erster Linie darauf ausrichten, die grosszügig fliessenden Bundesgelder zu ergattern. In der «Regio Wil» beispielsweise sitzen Vertreter aus 22 Thurgauer und St. Galler Gemeinden sowie aus der Wirtschaft, die Geschäftsstellenleiterin ist gleichzeitig Leiterin des Projekts «Wil West». Dieses Riesenareal von 158 000 Quadratmeter soll auf der heute noch grünen Wiese von 2023 bis 2038 (!) für die gewerbliche, industrielle und Dienstleistungsnutzung überbaut werden und bis zu 3000 Arbeitsplätze schaffen. Allein die Vorprojektarbeiten belaufen sich auf 1,45 Millionen Franken, ein separater Autobahnanschluss kostet 16,3 Millionen. Die gesamten Infrastrukturkosten werden auf 132 Millionen geschätzt (<link www.wilwest.ch projekt daten-fakten>www.wilwest.ch/projekt/daten-fakten/). Die Hauptattraktion: Der Bund beteiligt sich mit 37 Millionen Franken am Agglomerationsprogramm Wil.

Einschränkung der Gemeindeautonomie und Nachteile für das lokale Gewerbe

«Mit der Realisierung von Wil West setzen die beiden Kantone Thurgau und St. Gallen ein entscheidendes Signal für die langfristige volkswirtschaftliche Stärkung und Positionierung der gesamten Region. Gleichzeitig wird durch die Konzentration von Neuansiedlungen und Betriebserweiterungen von bestehenden lokalen Unternehmen auf einem zentralen Areal einer weiteren Zersiedlung der Landschaft in den Gemeinden entgegengewirkt.» (<link www.wilwest.ch wil-west vorhaben>www.wilwest.ch/wil-west/vorhaben/)
Klingt gut. Bei näherem Hinsehen zeigen sich jedoch gewichtige Nachteile eines solchen Riesenprojekts. Erstens liegen lediglich 103 000 der 158 000 Quadratmeter des Areals in der Bauzone. Der Rest würde also neu eingezont – das ist nicht im Sinne einer nachhaltigen Raumplanung. Da es ohnehin völlig offen ist, wie begehrt ein Platz in Wil West bei ansässigen und neuzuziehenden Unternehmungen ist, könnte man sich eigentlich auf die bereits eingezonte Fläche beschränken.
Zweitens werden die nicht direkt beteiligten Gemeinden der Region benachteiligt. Denn sie müssen sozusagen dafür büssen, dass in Wil West neues Gewerbe-Bauland geschaffen wird: Für ein im Dorf verankertes Unternehmen teilt der Kanton unter Umständen kein Bauland zu, weil die Grossüberbauung alle Reserven schluckt. So geschehen in Oberuzwil, wo ein Kleingewerbe-Betrieb mit acht Mitarbeitern von seinem Vermieter die Kündigung erhalten hat und deshalb einen andern Blätz Land suchte, um eine ­eigene Werkhalle zu errichten. Obwohl der Firmeninhaber im Dorf bleiben und der Gemeinderat ihm dies ermöglichen möchte, besteht wenig Hoffnung. Denn in der Gemeinde gibt es keine Bauland-Reserven, und die Geschäftsleitung der Regio Wil hat kaum Interesse, Neueinzonungen ausserhalb des Areals von Wil West zu bewilligen («Wiler Zeitung» vom 22.1.2019). Die Gemeinde wird also vielleicht einen Steuerzahler und acht Arbeitsplätze verlieren.
Drittens passt eine zentralistische Planung einfach nicht zur kleinräumigen, dezentral organisierten Wirtschaft der Schweiz. Dem Handwerker aus Oberuzwil kann man nicht den Rat geben, sich in Wil West anzusiedeln. Er hat seine Stammkundschaft über Jahre im Dorf und in den Nachbardörfern aufgebaut, während er an einem anderen Ort wieder von vorne anfangen müsste. Gerade auch vom ökologischen Standpunkt aus ist es am sinnvollsten, wenn die Kunden in der Nähe eines Betriebes leben – die Wege also kurz sind.

Woher nimmt der Bund die 37 Millionen?

Der Bund schöpft für Agglomerationsprojekte und Naturpärke mit der vollen Kelle aus dem früheren Investitionshilfefonds. Dieser war vom Bund und den Kantonen von 1974 bis 2008 durch regelmässige Beiträge ausgestattet worden, so dass ein Kapital von rund 1,5 Milliarden Schweizer Franken zur Verfügung stand.
Der Fonds unterstützte finanzschwache Berggemeinden bei ihren teuren Infrastrukturaufgaben (zum Beispiel Berg­strassen, Lawinenverbauungen), aber nicht à fonds perdu, wie dies heute üblich ist. Vielmehr erhielten die Gemeinden langfristig (auf 30 Jahre) rückzahlbare zinsfreie Darlehen. Fast alle Darlehen wurden jeweils durch die Gemeinden zurückbezahlt und konnten wieder anderen Gemeinden (insgesamt 1222!) ausgeliehen werden. «Es war ein Beispiel des föderalistischen Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzips», so würdigt wikipedia das Bundesgesetz über Investitionshilfe für Berggebiete (IHG) vom 21. März 1997 (<link de.wikipedia.org wiki solidarität>de.wikipedia.org/wiki/Solidarität).
Mit dem Inkrafttreten der Neuen Regionalpolitik (NRP) – im Stil der EU-Regionalpolitik – wurde das IHG per 1. Januar 2008 aufgehoben. Die 1,5 Milliarden gehen nur noch an von der Bundesverwaltung ausgewählte regionale Projekte wie Naturpärke und Agglomerationsprogramme. Wie die Berggemeinden zurechtkommen, müssen sie nun selbst schauen. Viele zahlen derzeit ihre früheren Darlehen zurück und füllen damit den Geldtopf. Im Tessin, im Wallis, im Glarnerland oder in Graubünden fusionierten deshalb ganze Täler zu Einheitsgemeinden, die zwar nicht mehr so gut in der Bevölkerung verankert sind, aber angeblich «effizienter», also kostengünstiger geführt werden könnten. Wie es sich längst herausgestellt hat, stimmt das nicht: Kleine Gemeinden haushalten immer noch am sparsamsten. Es ist bitter, dass nun Naturpärke und Grossgewerbezonen das Geld zugeteilt bekommen, das ursprünglich für die finanziell besonders belasteten Berggebiete bestimmt war.    •

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