Der föderale Staatsaufbau bietet Spielraum für differenzierte Lösungen

Überlegungen zu Oliver Zimmers Buch «Wer hat Angst vor Tell? Unzeitgemässes zur Demokratie»

von Urs Graf

Professor Oliver Zimmer wirft mit seinem neu erschienenen Buch «Wer hat Angst vor Tell? Unzeitgemässes zur Demokratie»1 grundlegende Fragen zur politischen Entwicklung unserer Gesellschaft auf. Er tut dies im Vergleich von Beobachtungen aus Grossbritannien und der Schweiz, wo er jeweils die Hälfte seiner bisherigen Lebenszeit verbracht hat. Der in Thalwil aufgewachsene und seit über zwanzig Jahren in Oxford lehrende Historiker bezeichnet seine Darlegungen als «unzeitgemäss», weil sie nicht im Mainstream des veröffentlichten Zeitgeistes liegen. Seine geschichtlichen und staatsphilosophischen Ausführungen sind daher sehr interessant.

Intellektuelle Eliten im «goldenen Dreieck»

Da ist einmal das Spannungsverhältnis zwischen «Liberalismus» und «Demokratie», welches schon im 19. Jahrhundert existierte, als der Schweizer Bundesstaat gegründet wurde. Zimmer bezeichnet den «radikalen» Jakob Stämpfli und den «liberalen» Alfred Escher als Antipoden der damaligen Auseinandersetzung, wobei ersterer vor allem für die Mitbestimmung (Demokratie) und letzterer für das freie Unternehmertum eingetreten sei. Beide Ansätze hält er im Interesse unserer politischen Kultur für existentiell in dem Sinne, dass gerade dieses fortwährende Spannungsverhältnis die Balance zwischen Freiheit und Verantwortung am besten ausgleiche.
  Zimmer beschreibt die Geisteshaltung heutiger (liberaler) intellektueller Eliten im «goldenen Dreieck» London-Oxford-Cambridge, wo sich eine Gesellschaft von höher bezahlten Dienstleistern im privaten und im öffentlichen Sektor konzentriert hat, die sich kosmopolitisch versteht und zur einheimischen Bevölkerung kaum mehr Fühlung hat. Sie unterliegt dem Missverständnis, ihre privilegierte Stellung ausschliesslich der eigenen Leistung zu verdanken (Meritokratie), ohne das Zutun anderer im ganzen Lande, die für ihr Tagewerk weniger Ansehen und Vorteile geniessen. Dies zeige sich vor allem anhand der scharf polarisierten Debatte um den Brexit, wovon man auch hierzulande eigentlich nur die Stimmen der «Remainers» vernimmt, derjenigen Briten also, die in der EU verbleiben möchten. In der Schweiz gibt es diese soziale Polarisierung auch – und zwar in durchwegs verschiedener Parteicouleur.

Entwicklungslinien der Demokratie

Zimmer weist auf die unterschiedlichen Auffassungen von Aufbau und Funktion des Staates (punkto Verfassungsgerichtsbarkeit versus Volkssouveränität) hin, wie sie in den Nationen im Verlauf ihrer Sozialgeschichte entstanden sind. Sie bestimmen das Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Die Liberalen traten für die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte, die Gewaltenteilung und die Verfassung ein, aber sie miss-trauten dem Volk (Demos), dem sie lieber keine legislative Gewalt zugestehen wollten. In der Schweiz wurden die sogenannten Volksrechte (Referendum und Initiative) – damals noch ohne Beteiligung der Frauen – im Verlaufe des 19. Jahrhunderts unter dem Druck vorwiegend ländlich verankerter (konservativer) Demokratiebewegungen allmählich eingeführt. Die Entwicklungslinien der Demokratien auf dem europäischen Festland verlaufen bis heute nicht gleich wie in der Schweiz oder im United Kingdom. Und davon abhängig ist auch die Auffassung von Gesetzen – als demokratisch ausgehandelte kollektive Verträge – oder als Dekrete von übergeordneten Instanzen: die politische Realität der EU.
  Eine Ähnlichkeit zwischen der Schweiz und Grossbritannien hinsichtlich ihrer demokratischen Traditionen und ihrer Eigenständigkeit gegenüber der EU entspricht heute durchaus dem Sinnbild der «Insel».

Richterstaat statt Demokratie

Kritisch beleuchtet wird auch die Tendenz zur Verrechtlichung der Politik. Zimmer stützt sich beispielsweise auf die Expertise des britischen Richters Lord Hoffmann, der seit Jahrzehnten auf dieses Problem hinweist: Der Europäische Gerichtshof EuGH in Luxemburg und zunehmend auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg fällen politische Entscheide im Sinne einer weiteren Vereinheitlichung aller Mitgliedsstaaten.2 Gerichte, die selber Recht setzen, machen die demokratische Errungenschaft der Gewaltenteilung rückgängig. An die Stelle der Demokratie tritt der «Richterstaat», die Top-Down-Verwaltung – der weise Tyrann?
  Zimmer vermisst eine kritische Debatte über diese Thematik auch unter schweizerischen Rechtsgelehrten. Diese müssten sich der kulturell-historischen Bedingtheit von Entscheiden durch EU-Gerichtshöfe, auf die sie sich berufen, mehr bewusst sein. Sonst wird unsere Bundesverfassung als oberste Rechtsquelle bald von Richtern ausgehebelt, die nicht einmal unsere Sprache sprechen …
  Die politische Debatte wird immer von einem bestimmten geschichtsphilosophischen Ansatz geprägt. Wer der Kulturgeschichte eine Gesetzmässigkeit unterstellt, zu welchem «Fortschritt» sie führen müsse, und für diese Position eine wissenschaftliche Objektivität beansprucht, wie Hegel und Marx dies taten, wird leicht zur elitären Haltung verleitet, andere Meinungen zu unterscheiden in solche, die man übernehmen, und solche, die man überhören soll.

Gefordert: Ehrliche Debatte zum Rahmenabkommen

Dem Wunsch des Autors nach einer ehrlichen Debatte über die Bedeutung des Rahmenabkommens (InstA) kann man sich nur anschliessen. Ein Beitritt der Schweiz wäre nicht, wie seine Befürworter behaupten, eine «Fortsetzung des bilateralen Weges», sondern eine Einbahnstrasse in die EU – mit allen negativen Konsequenzen für unsere schweizerische «Lebensform» der direkten Demokratie mit dem dreistufigen föderalen Staatsaufbau und der ehrenamtlichen Mitarbeit der Bürger bei vielen öffentlichen Aufgaben und Ämtern nach dem Milizprinzip.
  Es gibt aber einen Teil der Bevölkerung und auch gewisse Wirtschaftszweige, die sich von einer solchen Entwicklung – zu Recht oder nicht – besondere Vorteile erhoffen. Sie sollten offen dazu stehen und damit aufhören, die berechtigte Sorge anderer Mitbürger um die demokratische Mitbestimmung als -«populistisch» abzutun.

Zerrbild der Schweiz

In seinem Buch befasst sich Oliver Zimmer mit Schweizer Historikern, die den sogenannten kritischen Patriotismus vertreten. Sie verdrehten den Sonderfall Schweiz, die sich dank ihrer politischen Kultur aus drei mörderischen Kriegen zwischen ihren Nachbarstaaten heraushalten konnte, ins Negative: Als abgeschottetes, rückständiges Land, das von den Entwicklungen in der Welt nur profitiere, aber keinen Beitrag dazu leiste.
  Das gleiche Zerrbild vertreten auch jene Kulturschaffenden, die sich 1991 mit dem Slogan «700 Jahre sind genug» völlig ungeniert als Nestbeschmutzer aufführten. Oliver Zimmer ist zu verdanken, dass er diesen sogenannten kritischen Patriotismus der Nachkriegsgeneration einzuordnen hilft.

Die EU – ein Produkt amerikanischer Nachkriegspolitik

Lebensgeschichtlich bedeutsam erscheint mir persönlich die im Buch aufgearbeitete ironisierende Attacke auf das Selbstverständnis der Schweizer, beispielsweise durch Max Frisch. Dieser trat 1970 mit seinem «Wilhelm Tell für die Schule» als Schulmeister der Nation auf. Der Literat wollte den Mythos vom widerspenstigen Freiheitskämpfer brechen (Und erntete dafür 1974 ausgerechnet den Grossen Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung!).
  Für viele Gymnasiasten schuf er ein Kultbuch. Und von den meisten Zeitgenossen unbemerkt, unterstützte er einen neuen Mythos, denjenigen der Supranationalität, Kernideologie der Europäischen Union.
  Die EU war immer ein politisches und nicht ein wirtschaftliches Projekt auf dem europäischen Kontinent. Das geht aus vielen Dokumenten seit ihrer Gründungszeit hervor.
  Und man sollte aufhören, sie als «Friedensprojekt» anzupreisen. Sie wurde im Zuge der amerikanischen Nachkriegspolitik von Washington Schritt für Schritt gegen vorbestehende Initiativen europäischer Länder durchgesetzt. Wer geglaubt hatte, dass sie zum Zweck der Friedenssicherung in Europa geschaffen wurde, sollte spätestens seit den 1990er Jahren enttäuscht sein, als die führenden Länder der damaligen EU fünfzig Jahre nach 1945 wieder Krieg auf den Balkan trugen.

Ausblick

Nach der Analyse folgt der Ausblick: Die Schweizer sollten dem Integrationsdruck der EU mit mehr Selbstbewusstsein widerstehen, denn sie haben gute Gründe dafür. Wer die Völker nur nach ihrem Handelsvolumen respektiert, kann sowieso keine «Gemeinschaft» bilden.
  Unsere politische Kultur hat sich bewährt, und sie ist entwicklungsfähig. Unser duales Berufsbildungssystem gibt der ganzen Bevölkerung eine Chance im Erwerbsleben. Es hilft, die soziale Schere zwischen Bevorteilten und Benachteiligten zu schliessen. Und der föderale Staatsaufbau bietet Spielraum für differenzierte Lösungen, die sich im Vergleich unter den Verwaltungseinheiten bewähren müssen. Darauf besteht nicht einmal ein Copyright. •



1 Zimmer, Olvier. Wer hat Angst vor Tell. Unzeitgemässes zur Demokratie. Basel 2020. Echtzeit. ISBN 978-3–906807-21-8, Neuauflage (unverändert) erscheint am 31.1.2021
2 Oliver Zimmer zitiert Lord Hoffmann mit den Worten: «So wird versucht, die Herderianische Vielfalt der Institutionen und Gebräuche, dieses Merkmal einer lebendigen europäischen Kultur, in eine Voltairesche Unité de Doctrine zu verwandeln.» (Aus: The modern Law Review, Bd. 62, Nr. 2, 1999; zit. nach Zimmer, S. 158)

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