Erweiterte Zustimmungsregelung versus erweiterte Widerspruchsregelung – worum geht es eigentlich?

Referendum zur Änderung des Transplantationsgesetzes

von Ursula und Walter Knirsch*, Vorstand Hippokratische Gesellschaft Schweiz

Transplantationsmedizin ist aus der modernen Medizin nicht mehr wegzudenken. Dank ihr können heute schwerstkranke Menschen die Chance erhalten, mit einem gespendeten Organ weiterzuleben. Menschen, die eine Organspende erhalten haben, sind sich des einmaligen Charakters dieses Geschenks an ihr Leben bewusst. Am 1.10.2021 wurde das Transplantationsgesetz durch das Schweizer Parlament grundlegend revidiert. Wie kam es dazu? Was hat sich geändert?

Seit 2013 wurden in der Schweiz mit dem Aktionsplan «Mehr Organe für Transplantationen» verschiedene Massnahmen ergriffen, um die Spendebereitschaft in der Bevölkerung zu erhöhen.1 Bisher gilt in der Schweiz die erweiterte Zustimmungsregelung. Der betroffene Mensch selbst entscheidet freiwillig zu Lebzeiten oder aber seine nächsten Angehörigen entscheiden gemäss seines mutmasslichen Willens über die Möglichkeit der Organspende.
  Nachdem Bundesrat und Parlament wiederholt der Widerspruchsregelung eine Absage erteilt hatten, wurde die Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten», lanciert von einer Untergruppe einer internationalen Non-Profit-Organisation, Junior Chamber International Riviera JCI, im März 2019 eingereicht. Sie beinhaltete im wesentlichen eine Verfassungsänderung des Artikels Nr. 119a mittels der Ergänzung von Abs. 4: «Die Spende von Organen, Geweben und Zellen einer verstorbenen Person zum Zweck der Transplantation beruht auf dem Grundsatz der vermuteten Zustimmung, es sei denn, die betreffende Person hat zu Lebzeiten ihre Ablehnung geäussert.» Das Initiativkomitee hat nun im Oktober die Initiative zu Gunsten des indirekten Gegenvorschlages bedingt zurückgezogen, d. h. der Rückzug gilt nur, wenn der Gegenvorschlag rechtsgültig wird. Über die Verfassungsinitiative hätten wir abstimmen können, der indirekte Gegenvorschlag hingegen untersteht dem fakultativen Referendum. Aus diesem Grund hat ein überparteiliches Komitee «Nein zur Organspende ohne explizite Zustimmung» das Referendum ergriffen. Damit es zur Volksabstimmung kommt, werden bis am 20. Januar 2022 50 000 beglaubigte Unterschriften benötigt.
  Warum spielt es eine Rolle, ob im Transplantationsgesetz die erweiterte Zustimmungsregelung oder Widerspruchsregelung verankert ist?
  Die im revidierten Transplantationsgesetz neu festgeschriebene erweiterte Widerspruchsregelung gibt die bisherige Freiwilligkeit der Organspende auf, wie sie bisher in der erweiterten Zustimmungsregelung sinnvollerweise festgehalten war. Die Freiwilligkeit der Organspende ist mit Vorliegen eines Spendeausweises dokumentiert.
  Wenn kein Organspendeausweis oder anders dokumentierter Wille zur Organspende vorliegt, gilt bis jetzt, dass die Angehörigen eines sterbenden potentiellen Organspenders nach dessen mutmasslichem Willen befragt werden und einer Organentnahme nach dem Hirntod oder Tod nach Herzkreislaufstillstand zustimmen können. Neu würde mit dem revidierten Transplantationsgesetz gefragt werden, ob ein Widerspruch des Sterbenden bekannt ist.

Wo liegt der Unterschied zwischen einer Zustimmung und einem Widerspruch?
Während die Zustimmungsregelung den Sterbenden als unantastbar durch den Staat betrachtet, wird dieser durch die Widerspruchsregelung dem Staat überantwortet. Es kommt so zu einer staatlich verordneten Verfügbarkeit für die Organentnahme. Dadurch wird eine Art «Organabgabepflicht» unterstellt, der man sich nur durch Widerspruch entziehen kann. Der Unterschied zwischen Zustimmungsregelung und Widerspruchsregelung ist somit nichts weniger als ein Paradigmenwechsel. Der Staat greift damit neu in die körperliche Integrität seiner Bürger ein. Die Würde des Menschen wird angetastet. Dies ist mit Grund- und Persönlichkeitsrechten nicht vereinbar und widerspricht dem in Artikel 10 Abs 2 der Bundesverfassung zugrunde gelegten Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung.

Gibt es einen Anspruch auf Organe, gibt es eine Pflicht zur Organspende?
In unseren Medien wird oft erwähnt, dass Menschen, die auf Wartelisten für Organe stehen, sterben, da ihnen keine Organe gespendet wurden. Diese Argumentation vergisst, dass schwerstkranke Menschen nicht am «Organmangel», sondern leider an den Folgen ihrer schweren Erkrankung sterben. Gleichzeitig suggeriert der Begriff Organmangel, es gäbe einen Anspruch auf ein Organ und dass doch eine gewisse Pflicht besteht, als möglicher Organspender auch zu spenden. Hier sollte man sich dem Kerngedanken jedweder Spende zuwenden. Der Begriff Spende impliziert die Freiwilligkeit und hat Schenkungscharakter. Es besteht demnach keine Pflicht zur Organspende. Da der Leib eines Menschen nur diesem selbst gehört, kann ein potentieller Empfänger keinen Anspruch auf dessen Organe stellen. Er kann nur annehmen, was aus altruistischen Motiven gespendet wurde. Übrigens gilt in der Schweiz, dass die in die Prozesse von Organentnahme und -transplantation involvierten Ärzte unabhängig voneinander sein müssen und nicht unter Druck gesetzt werden dürfen, was auch heisst, dass eine Organspende nicht in direktem Zusammenhang mit einem Bedarf erfolgen darf.2 
  Wir unterstellen, dass kein Mensch ein Organ eines anderen annehmen würde, welches nicht aus freiwilligen Motiven gespendet wurde.

Wie kann die Transplantationsmedizin unterstützt werden?
Transplantationsmedizin gehört zu den grossen Errungenschaften der Medizin. Sie ist prinzipiell zu unterstützen. Transplantationsmedizin basiert auf dem Vertrauen eines potentiellen Spenders in die durch den Staat gewährte Garantie für einen würdigen Umgang mit seinem Leben, seinem Sterben und seinen gespendeten Organen. Transplantationsmedizin basiert auf Freiwilligkeit, auf der aktiven Zustimmung des Spenders zu Lebzeiten oder in der mutmasslichen Zustimmung, die seine Angehörigen nach Beendigung der bestmöglichen medizinischen Behandlung zum Ausdruck geben können. Möglicherweise könnte Transplantationsmedizin auch entsprechend der Vorschläge der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK) unterstützt werden. Sie spricht sich für einen «dritten Weg» mit einer sogenannten Erklärungsregelung aus. Demnach sollten die Menschen regelmässig aufgefordert werden, sich mit der Frage der Organspende auseinanderzusetzen und anzugeben, ob sie zu einer Spende bereit sind oder nicht.3 Die NEK lehnt die Widerspruchsregelung ab.
  Solidarität und Altruismus werden durch staatliche Vereinnahmung und Verpflichtung nicht gefördert. Auch die Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient, Grundlage unserer ärztlichen Tätigkeit, wird dadurch belastet. Stattdessen braucht es eine gut informierte und über Transplantationsmedizin aufgeklärte Bevölkerung, deren Fragen und Bedenken zu diesem Thema auf ehrliche Weise ernstgenommen werden. Nur so kann eine vertrauenswürdige Transplantationsmedizin unterstützt werden.
  Diese vielschichtigen Aspekte der Transplantationsmedizin müssen diskutiert werden, das neue Gesetz gehört deshalb vor das Volk.  •



1 https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/politische-auftraege-und-aktionsplaene/aktionsplan-transplantationsmedizin.html
2 Medizinisch-ethische Richtlinien «Feststellung des Todes im Hinblick auf Organtransplantation und Vorbereitung der Organentnahme, SAMW 2019
3 https://www.nek-cne.admin.ch/inhalte/Themen/Stellungnahmen/NEK-Stellungnahme_Organspende_DE.pdf (Stellungnahme Nr. 31/2019 Bern, 27.6.2019)

* Dr. med. Ursula Knirsch, FMH Neurologie
  Prof. Dr. med. Walter Knirsch, FMH Kinder- und Jugendmedizin/Kinderkardiologie

Referendum: Für eine vertrauenswürdige Transplantationsmedizin

Organspende ist ein Geschenk und muss freiwillig bleiben, daher: Nein zur Organspende ohne explizite Zustimmung!
  Das Parlament hat Ende Herbstsession 2021 eine grundsätzliche Änderung des Transplantationsgesetzes im Sinne einer «erweiterten Widerspruchslösung» verabschiedet. Künftig sollen prinzipiell allen Personen am Lebensende ihre Organe entnommen werden dürfen, sofern sie nicht zu Lebzeiten ausdrücklich der Organspende widersprochen haben oder ihre Angehörigen dies zum Todeszeitpunkt nicht tun.
  Gegen dieses Gesetz hat ein überparteiliches Komitee von Ärzten, Pflegefachleuten, Theologen, Juristen und Ethikern das Referendum ergriffen. Der Vorstand der Hippokratischen Gesellschaft Schweiz unterstützt dieses Referendum. Über einen derartigen Paradigmenwechsel, durch den der Staat die körperliche Unversehrtheit nicht mehr in jedem Fall schützen würde, müssen die Bürger entscheiden können!

Weitere Informationen, Argumente und Unterschriftenbogen finden Sie unter:
https://organspende-nur-mit-zustimmung.ch/

«Indirekter Gegenentwurf» umgeht das obligatorische Referendum

mw. Die Schweizer Stimmberechtigten können gemäss der Bundesverfassung mit 100 000 gültigen Unterschriften, die sie innert einer Frist von 18 Monaten gesammelt haben, eine Änderung der Bundesverfassung verlangen (BV Art. 139 Abs. 1). Darüber entscheiden Volk und Stände in einer Abstimmung (obligatorisches Referendum, BV Art. 139 Absatz 5 und Art. 140 Abs. 1 a.). Falls die Bundesversammlung einen Gegenentwurf zur Initiative auf Verfassungsebene ausarbeitet, dann stimmen die Bürger über beide gleichzeitig ab (BV Art. 139 Abs. 5 und Art. 139b).
  So ist es jedenfalls in der Bundesverfassung vorgesehen. Das Parlament kann aber die obligatorische Volksabstimmung umgehen, indem es einen sogenannten «indirekten Gegenvorschlag» in der Form eines Gesetzes beschliesst, um die Initianten zum Rückzug ihrer Initiative zu bewegen. Damit die Bürger über das Gesetz abstimmen können, müssen sie das fakultative Referendum ergreifen, das heisst innert 100 Tagen ab Veröffentlichung 50 000 Unterschriften einreichen.
  Zum Trick des «indirekten Gegenvorschlags» griff die Bundesversammlung auch früher ab und zu, in den letzten Jahrzehnten jedoch gehäuft. So auch im Fall der Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten». Tatsächlich entspricht die von National- und Ständerat beschlossene Änderung des Transplantationsgesetzes (Art. 8a und 8b) inhaltlich im Kern der zurückgezogenen Volksinitiative: Liegt kein ausdrücklicher Widerspruch eines Menschen gegen die Entnahme seiner Organe (oder eines Teils seiner Organe) vor, so wird seine Zustimmung zur Organspende gesetzlich vermutet, ausser seine nächsten Angehörigen können den gegenteiligen Willen des Verstorbenen glaubhaft machen. Ein happiger Eingriff in die grundlegenden Rechte der Persönlichkeit. Trotzdem wird es nur zu einer Volksabstimmung kommen, wenn es uns gelingt, rechtzeitig genügend Unterschriften abzuliefern.
  Der Griff des Parlaments zum indirekten Gegenentwurf ist ein wesentlicher Eingriff in die politischen Rechte der Bürger und schmälert das – in der direkten Demokratie unverzichtbare – Vertrauen zwischen Bevölkerung und Behörden. Denn das Sammeln von 50 000 gültigen Unterschriften (also faktisch etwa 60 000) ist kein Pappenstiel. Zudem wird damit das Erfordernis des von manchen Politikern ungeliebten doppelten Mehrs (Volks- und Ständemehr) bei Verfassungsänderungen umgangen, dank dem eine Mehrheit der kleineren Kantone das Stimmenmehr der bevölkerungsreichen Kantone überstimmen kann. Und ganz konkret: Wir Bürger bekommen die beiden Vorlagen (Initiativtext und Gegenentwurf) nicht offen und ehrlich im Abstimmungsbüchlein nebeneinandergestellt. Ist es nicht erwünscht, dass wir sie genau vergleichen können und dann vielleicht darauf stossen, dass in beiden etwa dasselbe steht?
  Keine demokratische Glanzleistung unserer «Diener des Volkes» im Bundeshaus.

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