«Hat China schon gewonnen? – Chinas Aufstieg zur neuen Supermacht»

von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich

US-Präsident Biden hatte Ende letzten Jahres einen sogenannten «Gipfel für Demokratie» einberufen mit ausgewählten Ländern, unter anderem auch Taiwan. Die chinesische Regierung hatte scharf reagiert. Die Ausrichtung des Gipfels stelle einen gefährlichen Versuch dar, die «Mentalität des Kalten Krieges» wieder aufleben zu lassen. Ebenfalls haben die USA, Kanada und Australien bekanntgegeben, dass sie im Februar keine politischen Vertreter an die Winterolympiade in Peking schicken werden. Daraufhin veröffentlichte China das Weissbuch «China: Democracy That Works» mit folgender Kernaussage: Die kommunistische Partei KPCh besitzt zwar das Monopol der Macht (mit der Hauptaufgabe, das Riesenland mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern zusammenzuhalten). Aber in den Gemeinden, Kreisen, Städten, in den zahlreichen autonomen Gebieten, in den zahlreichen Volkskongressen mit ihren Ausschüssen hat jeder einzelne Bürger eine Vielzahl von Möglichkeiten (die auch genutzt werden), sich einzubringen, mitzureden, die Behörden selbst zu wählen und in Sachfragen mitzuentscheiden. Ideen und Vorschläge werden gesammelt und fliessen in die Entscheidungen der Behörden ein. Auf dieser Basis kann die Regierung sinnvolle Entscheidungen treffen, und das Land bleibt stabil. – Auf die Anwürfe aus den USA reagierte China mit dem US-kritischen Papier «Der Zustand der Demokratie in den USA» (Radio China International vom 4. und 5. Dezember 2021). – Damit wird wohl eine grosse globale Demokratiedebatte angestossen. – Ich hoffe es.

Das Buch von Kishore Mahbubani «Hat China schon gewonnen? – Chinas Aufstieg zur neuen Supermacht» zeigt hervorragend die Hintergründe der erneuten, gefährlichen Zuspitzung im Verhältnis der beiden Länder China und USA auf. China hat in den letzten 30 Jahren eine gewaltige wirtschaftliche Entwicklung erlebt und gegen 800 Millionen seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger aus extremer Armut befreit. Es hat Millionen von Unternehmern hervorgebracht. Tausende Unternehmen werden jedes Jahr neu gegründet, die die Welt mit hochwertigen Gütern versorgen. – Ohne Freiheit geht das alles nicht. Eine grosse Mittelschicht ist entstanden, so dass das Land heute in bescheidenem Wohlstand lebt. Erstaunlicherweise sind die Zeitungen im Westen und insbesondere in den USA jedoch voll von chinakritischen Kommentaren und einseitig negativen Artikeln.
  Kishore Mahbubani erwähnt als Beispiel in seinem Buch die Rede des US-Vizepräsidenten Mike Pence vom 4. Oktober 2018, die er China gewidmet hatte. Sie stelle einen neuen Tiefpunkt in der amerikanisch-chinesischen Beziehung dar. Mahbubani: «Es war eine boshafte, herablassende Rede, wie sie keiner seiner Vorgänger gehalten hat.» Er stellt fest: «Die Atmosphäre gegenüber China ist dermassen vergiftet, dass es für jeden amerikanischen Politiker oder öffentlich agierenden Intellektuellen unklug wäre, sich für einen vernünftigen Umgang mit China auszusprechen.» (S. 254, 257) Mahbubani vergleicht die Situation mit dem Kalten Krieg in den fünfziger Jahren.
  Kishore Mahbubani sieht vieles anders. Sein Buch «Hat China schon gewonnen? – Chinas Aufstieg zur Supermacht» ist vor ein paar Wochen auf Deutsch erschienen. Angesichts des chinakritischen Stakkatos in den westlichen Medien ist sein Buch wertvoll als Gegenposition. Es regt den Leser an, sich mit der einseitigen Sichtweise nicht zufrieden zu geben, die in Politik und Medien dominiert, sondern auch die andere Seite der Medaille zu betrachten. Meine Buchbesprechung wird deshalb anders aussehen als eine «normale» Buchbesprechung. Ich gehe von den Hauptpunkten der westlichen Chinakritik aus und stelle ihnen vor allem einige wörtliche Textpassagen aus Mahbubanis Buch gegenüber. (Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Buch.)
  So viel vorweg: Die im Westen weit verbreitete Hoffnung, China werde sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung und Öffnung auch politisch den USA und dem Westen annähern, hat sich als falsch erwiesen. Der wirtschaftliche Aufstieg Asiens führt laut Mahbubani dazu, dass andere Nationen lernen müssen, «unterschiedliche gesellschaftliche und politische Systeme zu akzeptieren, um grössere Konflikte zu vermeiden». (S. 125)
  Zuerst aber einige Worte zum Autor Kishore Mahbubani: Er ist in Singapur aufgewachsen. Seine Familie hat indische Wurzeln. «Als ich klein war, ging meine Mutter zum Beten mit mir genauso in buddhistische Tempel wie in Hindutempel.» (S. 30) Mahbubani war viele Jahre im Dienste des Aussenministeriums von Singapur tätig. Er war unter anderem Botschafter in Kambodscha, Malaysia, den Vereinigten Staaten und zehn Jahre bei den Vereinten Nationen. Derzeit ist er Professor für Politikwissenschaften an der Lee Kuan Yew School of Public Policy an der National University in Singapur. Er hat das Buch in Zusammenarbeit mit Politologen von namhaften amerikanischen und britischen Universitäten geschrieben.
  Das Buch ist angenehm zu lesen, weil Mahbubani mit beiden Welten vertraut ist und nicht einseitig Position bezieht. Er schreibt als Freund Amerikas und Chinas. So beginnt der Text nach der Einleitung mit zwei ausführlichen Kapiteln «Chinas grösster strategischer Fehler» (S. 41–62) und «Amerikas grösster strategischer Fehler» (S. 63–90). Amerika fehle eine umfassende Strategie für den Umgang mit China, schreibt er, und es sei im Umgang mit der amerikanischen Geschäftswelt aus verschiedenen Gründen oft zu Missverständnissen gekommen, deren Ursachen im System liegen und denen chinesische Funktionäre oft nicht entgegengewirkt haben. Mahbubani analysiert als Globalisierungsbefürworter beides gründlich und zeigt die Folgen auf. Im folgenden kommt er immer wieder darauf zurück.

Ist die kommunistische Partei auch in China ein Auslaufmodell?

Mahbubani: «Die kommunistische Partei Chinas wird nicht von tattrigen alten Apparatschicks geführt, sie hat sich statt dessen zu einem leistungsorientierten Verwaltungssystem gewandelt, bei dem es nur die Besten und Klügsten auf die höchsten Posten schaffen. Die KPCh ist nicht perfekt. Keine von Menschen geschaffene Institution ist das. […] Und dennoch ist es Tatsache, dass die chinesische Regierungsklasse, wenn es darum geht, das Wohlergehen ihrer Bürger zu verbessern, bessere Arbeit leistet als praktisch jede andere Regierung auf der Welt. Weil die Kommunistische Partei Chinas in den westlichen Medien ständig verteufelt wird, ist nur sehr wenigen Menschen im Westen bewusst, dass die Mitglieder der Kommunistischen Partei die beste Regierungsarbeit leisten, die China in seiner gesamten Geschichte je geniessen durfte.» (S. 149f.)
  «Zu den grössten Missverständnissen beim Thema ‹Kommunistische Partei Chinas› kommt es, wenn der Westen sich auf das Wort ‹kommunistisch› versteift, anstatt auf das Wort ‹China›. Nun ist es den Chinesen auch nicht gelungen, ein vollkommenes Regierungssystem zu erschaffen, aber in ihres fliessen Tausende Jahre politischer Traditionen und Erkenntnisse ein. Der Druck, den die chinesische Regierung auf das Volk insgesamt ausübt, ist kein schwerer. Die KPCh mischt sich nicht aktiv in den Alltag ihrer Bürger ein, vielmehr haben Chinesen unter der KPCh mehr persönliche Freiheit erfahren als unter jeder vorigen Regierung.» (S. 179)
  «Für viele objektive asiatische Betrachter […] fungiert die KPCh in Wahrheit als chinesische Kulturpartei. Ihre Wurzeln liegen nicht in der ausländischen Ideologie des Marxismus-Leninismus, sondern in der chinesischen Kultur.» (S. 25)

Bedroht China wirklich die freie Welt?

Mahbubani: «Von Zeit zu Zeit taucht in der Literatur die latente Angst vor der gelben Gefahr auf. Ich bin in einer britischen Kolonie aufgewachsen und habe dort die beliebten Fu-Manchu-Romane gelesen. Sie machten grossen Eindruck auf mich. Unbewusst begann ich zu glauben, das Böse in der menschlichen Gesellschaft werde durch einen schlitzäugigen gelben Menschen personifiziert, dem jegliche moralische Skrupel fremd waren.» (S. 259)
  «In Amerika wird der politische Kurs gegenüber China von einer düsteren Betrachtungsweise dominiert – von China als Unterdrücker, ein Bild, das durch eine sehr reale, unterbewusste Furcht verstärkt wird, eine Furcht, die die amerikanische Öffentlichkeit früher als ‹gelbe Gefahr› bezeichnete. Die Bezeichnung hört man heute nicht mehr häufig, aber das Gefühl schwingt weiterhin stark mit.» (S. 8)
  «Die Amerikaner neigen zum Glauben, dass das Gute stets über das Böse triumphiert und kein politisches System von Natur aus so gut ist wie das, was den Gründern ihrer Republik vorschwebte. Das könnte auch erklären, warum die Verteufelung Chinas in den vergangenen Jahre so stark zugenommen hat. Je mehr China als böser Akteur hingestellt wird (vor allem, weil sich China über Amerikas Erwartung hinwegsetzte, dass sich das Land progressiv öffnen und sich im Verlauf der Annäherung an Amerika in eine demokratische Gesellschaft verwandeln würde), desto einfacher ist es für Amerika geworden, sich an den Glauben zu klammern, dass man früher oder später über China triumphieren werde, unabhängig davon, wie die Chancen dafür tatsächlich stehen.» (S. 27)

Fehlen in China politische und persönliche Freiheiten?

Mahbubani: «Amerika ist die einzige Industrie-nation, in der im Verlauf der vergangenen 30 Jahre das Durchschnittseinkommen der unteren 50 Prozent gesunken ist.» (S. 86) «In derselben Zeitspanne ist der Lebensstandard des chinesischen Volkes so rasch gestiegen wie nie zuvor in der Geschichte des Landes. Amerikaner würden darauf erwidern, dass die Chinesen noch immer nicht dieselben politischen Freiheiten wie sie geniessen. Das stimmt. Es stimmt aber auch, dass das chinesische Volk soziale Harmonie und soziales Wohlergehen über die Rechte des Einzelnen stellt.» (S. 161)
  «In China gib es keine politische Freiheit. Die Chinesen haben nicht das Recht, politische Parteien zu gründen, sich in freien Medien offen zu äussern und ihre Führung frei zu wählen. Im Westen unterstellt man deshalb, dass sich die Chinesen gewiss unterdrückt fühlen. Doch das chinesische Volk vergleicht seinen Zustand nicht mit dem anderer Gesellschaften, sondern zieht statt dessen Vergleiche dazu, wie es früher einmal war. Und da sehen die Menschen vor allem eines: Ihre persönliche Freiheit hat so stark zugenommen wie nie zuvor in Chinas Geschichte. Als ich 1980 zum ersten Mal China besuchte, konnten die Menschen nicht frei wählen, wo sie wohnen, was sie anziehen, wo sie studieren (und zu den Möglichkeiten zählt auch das Ausland) und welchen Job sie annehmen.» (S. 162)
  «Das heutige China ist eine glückliche Gesellschaft. Das ist auch der Grund, warum die 130 Millionen Touristen, die 2019 ins Ausland reisten, freiwillig und mit einem guten Gefühl in ihre Heimat zurückkehrten. Doch in Amerika wird der politische Kurs gegenüber China von einer düsteren Betrachtungsweise dominiert – von China als Unterdrücker.» (S. 8)
  «Was auffällt: Die Wahrscheinlichkeit, in Amerika ins Gefängnis zu kommen, liegt mindestens fünfmal höher als in China.» (S. 169)

Muss der Westen China Demokratie und Menschenrechte beibringen?

«Für Amerikaner sind die Ideale der Meinungsfreiheit, der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit und der Religionsfreiheit heilig, ausserdem vertreten sie die Ansicht, dass jedes menschliche Wesen Anspruch auf dieselben grundlegenden Rechte hat. Die Chinesen wiederum glauben, dass soziale Bedürfnisse und soziale Harmonie wichtiger als die individuellen Bedürfnisse und Rechte des Einzelnen sind, und dass die Hauptaufgabe der Regierung darin besteht, Chaos und Turbulenzen abzuwenden.» (S. 274)
  «Eine grundlegende Widersprüchlichkeit würde in diesem Bereich nur dann entstehen, wenn China versuchen würde, seine Werte nach Amerika zu exportieren. […] Chinas Anführer sind Realisten. Sie würden keine Zeit und keine Ressourcen für eine unmögliche Aufgabe verschwenden. Leider lässt sich so etwas nicht von Amerikas Politik sagen.» (S. 274 f.)
  In Wirklichkeit kann die sogenannte Demokratieförderung aus dem Westen in der Praxis «die entgegengesetzte Wirkung haben, als die Theorie vermuten lässt. Dieses Vorgehen kann Gesellschaften destabilisieren und schwächen, anstatt sie zu stärken. […] Vor diesem Hintergrund der neueren Geschichte wäre aus Sicht vieler chinesischer Anführer vermutlich vernünftig anzunehmen, dass Amerika nicht die Stärkung Chinas im Sinn hat, wenn es für mehr Demokratie in China wirbt. Vielmehr geht es Amerika darum, ein gespaltenes, uneiniges China herbeizuführen, ein China, in dem das Chaos regiert. Wäre das Chinas Schicksal, könnte Amerika noch ein Jahrhundert lang oder länger Nummer eins der Welt bleiben. Ein derartiges Ziel, das eines Machiavelli würdig wäre, wirkt weit hergeholt, aber es wäre ein absolut vernünftiger Schachzug für eine Grossmacht, die ihre Vormachtstellung gefährdet sieht.» (S. 186 f.)
  Zum Thema «Menschenrechtsverletzungen»: «Den meisten Amerikanern ist nicht bewusst, dass auch China Inlandterrorismus erlebt hat.» (S. 278) Es hat in Xinjiang zahlreiche Anschläge mit mehreren hundert Toten gegeben. Mahbubani zeigt detailliert auf, dass die zum Teil rigorosen Massnahmen, die China ergriffen hat, massvoller sind als der für Millionen lebensbedrohende «Krieg gegen den Terror», den die USA geführt haben. Viele unschuldige Zivilisten haben ihr Leben verloren. Amerika habe keinerlei Grund, China irgendwelche Vorwürfe zu machen. Angebrachter sei, so Mahbubani, dass die USA selbst vermehrt auf die Menschenrechte achten und ihre eigene Demokratie erneuern und pflegen. (S. 276–280)

Ist die chinesische Regierung so autoritär, dass sie kein Vertrauen verdient?

Mahbubani: «Das chinesische Volk vertraut seiner Regierung. Unabhängige internationale Umfragen bestätigen das. Für den US-amerikanischen Bericht ‹Edelmann Trust Barometer› wurde in diversen Ländern erhoben, wie gross das Vertrauen der Menschen ist. Für 2018 rangierte China an erster Stelle, während Amerika auf Platz 15 kam.» (S. 163)
  «Eine kluge chinesische Regierung weiss im 21. Jahrhundert, dass sie drei sich teilweise widersprechende Teile im Gleichgewicht halten muss, um für eine gesunde Gesellschaft zu sorgen: Wachstum, Stabilität und persönliche Freiheit. […] Eine Umfrage des Instituts Pew aus dem Jahr 2015 ergab, dass 88 Prozent der Chinesen glauben, ihre Kinder werden als Erwachsene besser als sie dastehen. In anderen Schwellenländern lag dieser Wert bei 51 Prozent, in den Vereinigten Staaten bei 32 Prozent.» (S. 166)
  «Seit Jahrtausenden weiss jede chinesische Regierung: Beschliesst die grosse Mehrheit des Volkes eine Revolte, wird selbst das grösste Mass an Repression die Menschen nicht aufhalten können.» (S. 165)
  Bricht eine weitreichende Revolte los, hat der chinesische Kaiser das «Mandat des Himmels» verloren. Mahbubani erwähnt als Beispiel Menzius, einen Schüler des Konfuzius. Menzius erklärte das chinesische Konzept vom Mandat des Himmels wie folgt: Der Herrscher eines Staates sei vom Himmel zum Wohle des Volkes an die Macht gebracht worden. «Der Herrscher besass das Mandat des Himmels nur solange, wie er die Unterstützung des Volkes hatte, denn durch das ‹Herz› des Volkes tat der Himmel seinen Willen kund. Das Volk hat wiederum das Recht, seine Herrscher zur Verantwortung zu ziehen. Es hätte das Recht, einen schlechten Herrscher zu verbannen, und könnte einen Tyrann sogar töten.» (S. 165)

Bedroht China wirklich seine Nachbarn …?

«Je mächtiger China geworden ist, desto weniger hat sich das Land in die Belange anderer Staaten eingemischt.» (S. 153)
  Mahbubani: «Berücksichtigt man die Grösse und den Einfluss des Landes, ist China unter den Grossmächten wohl diejenige, die sich am wenigsten interventionistisch verhält. Von den fünf ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist China das einzige, das seit dem Zweiten Weltkrieg an keinem Krieg fernab seiner Grenzen beteiligt war, anders als Amerika, Russland, Grossbritannien und Frankreich. Wie dieses Buch wiederholt aufzeigt, verfolgen Chinas Herrscher an allererster Stelle das Ziel, den Frieden und die Harmonie unter den 1,4 Milliarden Menschen in China zu bewahren, und sie sind nicht darauf aus, das Leben der sechs Milliarden Menschen zu beeinflussen, die ausserhalb Chinas leben. Das ist der zentrale Grund, warum sich China wie eine Status-quo-Macht und nicht wie eine revolutionäre Macht verhält. Dadurch steuert es ein globales Gemeinschaftsgut zum internationalen System bei.» (S. 158)
  «Alle unmittelbaren Nachbarn leben seit Jahrtausenden neben China und haben längst hoch entwickelte und sensible Instinkte dafür entwickelt, wie sie mit dem aufstrebenden China umzugehen haben. Und die chinesische Elite besitzt (anders als die amerikanische Elite) ein weitreichendes Verständnis für die lange Geschichte mit den Anrainerstaaten. Es wird zwischen China und seinen Nachbarn viel Hin und Her geben. […] Aber Kriege wird es nicht geben.» (S. 104)

… und insbesondere Taiwan und Japan?

Zur Vorgeschichte: Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Raubzüge des Westens und auch von Japan. Dazu einige Stichworte: Britische, französische, deutsche und amerikanische Truppen sind in China eingefallen und haben Teile Chinas besetzt. Das über Jahrhunderte auf sich selbst bezogene, friedliebende China war ihnen nicht gewachsen. Die Briten haben China in zwei Kriegen gezwungen, Opium (aus Indien) als Zahlungsmittel für ihre Importe aus China zu akzeptieren (Tee, Porzellan). China musste Hongkong abtreten und später vertraglich für 100 Jahre (bis 1997) Grossbritannien überlassen. 1860 zerstörten, brandschatzten und plünderten 4500 britische und französische Soldaten den riesigen Kaiserpalast mit Tausenden von Heiligtümern und Kulturgütern vollständig. Der Palast war etwa acht Mal so gross wie der Vatikan. (S. 148)
  Kein anderes Land hat jedoch ein derart belastetes Verhältnis zu China wie Japan. Langjährige militärische Besetzung und Massaker unter der Zivilbevölkerung sind dazu Stichworte. Dazu gehörte auch die Annektierung von Taiwan. (S. 225 f.)
  Mahbubani: «Nahezu alle historischen Überbleibsel dieses Jahrhunderts der Erniedrigung sind inzwischen beseitigt und aus der Welt geschafft, inklusiv Hongkong und Macao. Nur ein einziger Überrest ist geblieben. Taiwan war chinesisch, bis China nach der Niederlage im ersten Japanisch-Chinesischen Krieg von 1894/95 gezwungen war, Taiwan an Japan abzutreten.» (S. 105) Im Vertrag von Versailles nach dem Ersten Weltkrieg wurde diese Annexion später von den Alliierten anerkannt.
  «Amerika kann nicht behaupten, die Bedeutung von Taiwan nicht zu kennen. Es war eindeutig das heisseste Eisen, als Nixon und Kissinger sich daran machten, eine Versöhnung mit China auf den Weg zu bringen. Amerika und China erreichten viele klare Übereinkünfte und die deutlichste besagt, dass Taiwan und China ein Land seien. In der gemeinsamen Abschlusserklärung hiess es 1972: ‹Die Vereinigten Staaten erkennen an, dass alle Chinesen auf beiden Seiten der Formosastrasse erklären, dass es nur ein China gibt und Taiwan ein Teil Chinas ist.› […] Chinas Wunsch nach einer Wiedervereinigung Taiwans mit dem Festland stellt eine Restitution dar, keine Expansion.» (S. 106 f.)
  Dass das heutige China Japan bedrohen könnte, ist – auch angesichts der engen Einbindung in die Militärstruktur der USA – absurd.

Wird die Welt in Barbarei und Chaos versinken, wenn sich Amerika zurückzieht?

Mahbubani: «Seit ich 1971, vor nahezu 50 Jahren, meine diplomatische Karriere begann, hat mich immer wieder erstaunt, wie sehr sich mit jedem Jahrzehnt die geistigen Fähigkeiten der chinesischen Diplomaten verbessert haben. Verschiedenste Gründe haben unglücklicherweise dazu geführt, dass die Entwicklung im diplomatischen Dienst Amerikas entgegengesetzt verlief.» (S. 150)
  Die nach wie vor starke Militarisierung der Aussenpolitik gibt der Diplomatie wenig Raum. Schnell werden Sanktionen gegen Länder verhängt, die sich unbotmässig verhalten. Schnell werden Waffen geliefert und militärische «Lösungen» favorisiert (die die Situationen meist noch schlimmer machen). Dies äussert sich in den Finanzen der US-Regierung: «Der Haushalt des Aussenministeriums ist mit 31,5 Milliarden geradezu winzig im Vergleich zum Budget des Verteidigungsministeriums von 626 Milliarden Dollar.» (S. 133) Die USA geben für das Militär und für ihre riesige Rüstungsindustrie (militärisch-industrieller Komplex) mehr aus als alle anderen Länder auf dieser Welt zusammengenommen, was – so Mahbubani – gesellschaftlich und wirtschaftlich nicht unbedingt von Vorteil ist: «Amerikas gewaltiger Rüstungshaushalt verleiht dem Land denselben Vorteil, den ein Dinosaurier von seinem gewaltigen Leib hat – keinen sehr grossen.» (S. 10)
  «Nachdem sich Amerika im Irak und in Afghanistan die Finger verbrannt hatte, hätte die logische Reaktion eines beweglichen, flexiblen und vernunftgesteuerten Landes darin bestanden, sich fortan aus unnötigen Konflikten in der islamischen Welt herauszuhalten. Dass Amerika nicht zu dieser Kehrtwende imstande war, belegt, dass Amerika wie die alte Sowjetunion starr, unflexibel und doktrinär geworden ist.» (S.  125)
  «Es besteht keine Gefahr, dass Amerika ähnlich wie die ehemalige Sowjetunion kollabiert. Amerika ist ein viel stärkeres Land, gesegnet mit grossartigen Menschen, Einrichtungen und vielen natürlichen Vorzügen. Aber auch wenn Amerika nicht komplett zusammenbrechen wird, kann es deutlich schwächer werden […].» (S. 137)
  «Amerika hat mehr richtig als falsch gemacht, was auch erklärt, warum Amerika zu den allermeisten Ländern dieser Welt ein gutes Verhältnis hat. Gleichzeitig trifft es auch zu, dass Amerika mehrere vermeidbare und schmerzhafte Fehler gemacht hat, insbesondere gegenüber der islamischen Welt und Russland.» (S. 251)
  «Würde George Kennan noch leben, würde er zweifelsfrei erkennen, dass die unnötige Beteiligung an Konflikten in der islamischen Welt Amerika zu tiefst verwundet hat, und zwar innerlich und äusserlich.» George Kennan hat in den fünfziger Jahren als angesehener Stratege die Containment-Politik der USA gegen die Sowjetunion im Kalten Krieg entworfen. (S. 125)

Bekommt China mit Xi Jinping einen Diktator auf Lebenszeit?

Mahbubani: «Dass Xi Jinping die Begrenzung seiner Präsidentschaft aufgehoben hat, tat seiner Beliebtheit in China keinen Abbruch. Chinas lange Geschichte hat das Volk etwas Wichtiges gelehrt: Hat das Land schwache Führer, wird es auseinanderfallen. […] Dafür, dass er die Amtszeitbegrenzung aufgehoben hat, wurde Xi Jinping heftig kritisiert, aber der Schritt könnte sich als eine der grössten Segnungen in der Geschichte Chinas erweisen. Und es könnte ein zentraler Grund sein, dass China die Auseinandersetzung mit Amerika gewinnt.» (S. 188)
  Mahbubani erwähnt Platon (427–347 v. Chr.), den «Urvater der westlichen Philosophie». Im Westen vertreten heute viele die Ansicht, dass die Demokratie die beste Regierungsform darstellt. Platon kam nach den durchzogenen Erfahrungen mit der Volksherrschaft in Griechenland zum Schluss, «die beste Herrschaftsform sei die eines Philosophenkönigs». Mahbubani: «Sehr viel spricht dafür, dass Xi Jinping China die wohltuende Art der Herrschaft eines Philosophenkönigs bringen könnte.» (S. 187)

Bedroht Chinas Entwicklungspolitik die freie Welt?

«Heute ist es China und nicht Amerika, das die Führung beim Aufbau einer globalen multilateralen Architektur übernommen hat, sei es bei der Asiatischen Infrastruktur-Investmentbank (AIIB) oder der Belt&Road-Initiative (BRI). Amerika stellt sich gegen beide Initiativen. Was viele wichtige Freunde und Verbündete aber nicht davon abhält, sich dem Vorhaben anzuschliessen.» (S. 65)
  «Damit Amerika wirksam auf die neue geopolitische Herausforderung durch China reagieren kann, muss es eine gewaltige Kehrtwendung vollziehen – dazu gehören eine Kürzung der Rüstungsausgaben, die Abkehr von allen militärischen Interventionen in der islamischen Welt und die Verbesserung der diplomatischen Fähigkeiten. Mächtige Lobbygruppen werden es allerdings unmöglich machen, auch nur eine einzige dieser empfehlenswerten Kurskorrekturen vorzunehmen.» (S. 137)
  «Der beste Partner für eine gemeinsame Entwicklung Afrikas ist China. Tatsächlich hat sich China mittlerweile zum grössten Wirtschaftspartner Afrikas entwickelt. Chinas Aufstieg stellt für Europa keine Bedrohung dar. Tatsächlich könnte es für Europas längerfristige Sicherheit von Nutzen sein, wenn China die Entwicklung Afrikas vorantreibt. […] Sollten sich im 21. Jahrhundert die wirtschaftlichen und politischen Zustände auf dem afrikanischen Kontinent nicht bessern, kann sich Europa darauf einstellen, dass Dutzende Millionen, wenn nicht Hunderte Millionen Afrikaner auf der Suche nach einem besseren Leben vor der Türe stehen werden.» (S. 223)

Fazit: «Machen wir die Welt sicherer für die Vielfalt» (John F. Kennedy)

«Chinas Kommunismus ist keine Bedrohung für Amerikas Demokratie – die wahre Herausforderung sind der Erfolg und die Konkurrenzfähigkeit von Chinas Wirtschaft und Gesellschaft.» (S. 270)
  «Zweifelsohne werden Chinas Rolle und Chinas Einfluss zunehmen, wenn die Volkswirtschaft weiter wächst. Aber China wird seinen Einfluss nicht darauf verwenden, Ideologien oder politische Gepflogenheiten anderer Kulturen zu verändern. Es fällt der chinesischen Führung leichter als der amerikanischen, sich auf eine vielfältige Welt einzustellen, denn sie hängt nicht der Erwartung an, dass andere Gesellschaften so wie sie werden. Sie hat keinen missionarischen Drang, alle Menschen in Chinesen zu verwandeln.» (S. 254)
  Kishore Mahbubani versteht es in seinem umfassenden Werk ausgezeichnet, die von der Geschichte und von der Kultur geprägte «Seele» Chinas in seine Analyse einzubeziehen. Insbesondere den amerikanischen Politikern und Medien – aber auch insgesamt der westlichen Welt – ist zu wünschen, dass sie dieses Buch lesen und dazulernen.
  In Zeiten schwelender Handelskriege und Konflikte ist Mahbubanis Buch ein Appell an die Vernunft und ein unverzichtbarer Leitfaden für ein besseres Verständnis des Aufsteigers China. Mahbubani: «Wenn sich Amerika und China auf das zentrale Interesse konzentrieren, das Wohlergehen ihrer Bürger zu verbessern, wird ihnen auch klar werden, dass es bei den langfristigen nationalen Interessen der beiden Staaten keine grundlegenden Widersprüche gibt.» «Wenn die beiden Supermächte kooperieren, könnten Wunder wahr werden!» (S. 17) «Die Welt ist gross genug, um sowohl Amerika als auch China Platz zum Blühen und Gedeihen zu geben.» (S. 279)  •

Quellen:

Mahbubani, Kishore. Hat China schon gewonnen? Chinas Aufstieg zur neuen Supermacht. Deutsche Übersetzung 2021; ISBN 978-3-86470-773-5

Kissinger, Henri. China. New York 2011

Nass, Mathias. Der Drachen Tanz – Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er für uns bedeutet. München 2021

Durant, Will und Ariel. Kulturgeschichte der Menschheit. Bd. 2, New York 1963

Seitz, Konrad. China. Berlin 2002

Zur Bedeutung der konfuzianischen Kultur

ww. Kishore Mahbubani weist an mehreren Stellen darauf hin, dass China die einzige der grossen Kulturnationen in der Geschichte ist, die auch nach vier Zusammenbrüchen heute noch existiert. Zentral für unser Verständnis ist Konfuzius mit seiner Lehre.
  Konfuzius war ein chinesischer Weiser, der in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. gelebt hat. Nach ausgedehnter Lektüre und Meditation entschloss sich der Gelehrte, seine amtliche Tätigkeit aufzugeben, um sich der Erziehung seiner Mitmenschen zu widmen. Seine Weisheit und seine Philosophie machten ihn im ganzen Land berühmt. Seine Lehre, die auf der Beobachtung und dem gesunden Menschenverstand aufgebaut ist und immer die praktische Anwendung im Auge behält, beherrscht die chinesische Gesellschaft bis heute. Die Lehre des Anstandes und des Respekts seinen Mitmenschen gegenüber war bestimmt, den Charakter und eine soziale Ordnung zu entwickeln. Die chinesischen Kaiser liessen seine Lehre in Stein meisseln und erklärten sie zur Staatsreligion. Dazu der Amerikaner Will Durant, der in zwanzig Bänden die vielfältige Kulturgeschichte der Menschheit untersucht und verglichen hatte: «Der stoische Konservatismus des alten Weisen ging dem Volk beinahe in Fleisch und Blut über und verlieh der Nation und jedem ihrer Bürger eine Würde und Tiefe, die sonst nirgends in der Welt und in der Geschichte wieder erreicht worden sind.» Eine hochgebildete Beamtenschaft, zu der jedermann nach langwierigen, anspruchsvollen Prüfungen Zugang hatte, war für die Verwaltung zuständig. Feudalistische Strukturen oder eine Kirche wie im Westen gab und gibt es nicht.
  «Mit Hilfe dieser Philosophie entwickelte China ein harmonisches Gemeinschaftsleben, eine glühende Bewunderung des Lernens und der Weisheit und eine ausgeglichene und stetige Kultur, die die chinesische Zivilisation stark genug machte, um jede Invasion zu überleben und jeden Eindringling zu assimilieren.» (Durant, Bd. 2, S. 52) Interessant ist, dass der Venetianer Marco Polo, der 800 Jahre vor Durant nach China gereist war, ganz ähnliches berichtete.
  «Auch für Menzius [Schüler von Konfuzius] wie für alle seine Nachfolger blieb Regierung stets Regierung für das Volk, niemals durch das Volk. Die Tugendhaften und Gebildeten sorgen für das Volk. Der Gedanke, das (ungebildete) Volk könne in einem demokratischen Staat selbst für sich sorgen, wäre keinem Konfuzianer jemals in den Sinn gekommen.» (Seitz 2002, S. 46)

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