«Nachts schlafen die Ratten doch!»

von Peter Küpfer

Jetzt ist die Zeit, wieder Wolfgang Borchert zu lesen. In meiner Studienzeit führte kein Weg am Werk des leider viel zu früh verstorbenen Schriftstellers vorbei. In seiner Nachkriegs-Kurzprosa aus der Betroffenen-Perspektive (der echten) ist uns eine ernste, zutiefst menschliche Warnung überliefert. Wir sollten sie ernst nehmen.

Viel Zeit blieb ihm nicht. Geboren 1921, war Wolfgang Borchert zwölf, als Hitler in Deutschland die Macht übernahm und behielt, dies besonders auch mittels der nun sofort durch-nazifizierten Schulen. 1939, bei Kriegsbeginn, auch damals schon propagandistisch vorbereitet durch die Lüge (diesmal war es ein von den Filmwochenschauen treu und stramm verbreiteter angeblicher «polnischer Angriff» auf Deutschland), war er 18. Eine Buchhändlerlehre wurde abgebrochen, es folgten erste schauspielerische Versuche, nach dem anfänglichen deutschen Taumel leichter Siege und der Niederringung des Erzfeindes Frankreich kam Stalingrad. Und dann der durch Goebbels Hetzrede im Sportpalast aus zehntausend NSDAP-Kehlen provozierte und prompt herbeigebrüllte «totale Krieg» mit Mobilisierung der letzten zivilen Reserven. Der Jung-schriftsteller wurde neben anderen Schicksalsgenossen, jung wie er, eingezogen und trotz festgestellter gesundheitlicher Einschränkungen zu den Panzergrenadieren an die russische Front geschickt. Kritische Briefe, die er seiner Mutter von der Front nach Hamburg schrieb, wurden entdeckt und bildeten den Vorwand, den nicht vorschriftsmässig Denkenden als Abweichler und «Wehrkraftzersetzer» zu verhaften.

Wettlauf mit dem Tod

Schon damals meldete sich die schwere Krankheit, der er schliesslich 1947 erliegen sollte. Dem über ihn verhängten militärgerichtlichen Todesurteil entging der Rilke-Verehrer nur durch mildernde Umstände. So mild waren sie auch wieder nicht: Ab zur «Frontbewährung», noch einmal an die russische Front. Dort zeigte sein angegriffener Gesundheitszustand auch Unbelehrbaren, dass mit diesem jungen Mann kein verlorener Krieg zu gewinnen war. Am Vorabend seiner Entlassung aus der Wehrmacht verpfiff ihn ein «Kamerad» wegen seiner gewagten Witze über den Militarismus. Neuerliche Einkerkerung, neuerliche Prozeduren, diesmal in Berlin-Moabit. Inzwischen rückten die alliierten Fronten näher. Als die Rote Armee im Frühjahr 1945 Teile Berlins besetzten, gelang dem Inhaftierten die Flucht. Im Schutz gegen Nordwesten vorrückender alliierter Panzer legte der Entkräftete die Strecke bis nach Hamburg zu Fuss zurück. Seelisch und körperlich am Ende, traf er in der zerbombten Stadt ein, «ein vom Tode Gezeichneter, aber dankbar empfangen wie ein vom Tode Befreiter», so schrieb es sein Freund und Mentor Bernhard Meyer-Marwitz in seinem Nachwort zum 350 Seiten starken einbändigen Gesamtwerk Borcherts, das 1949 bei Rowohlt erschienen ist. Ein Buch, leicht in der Hand zu halten, und von zeitweise niederdrückendem Gewicht, wenn man es liest.
  Nun setzte sich der hektische Wettlauf ums Überleben unter anderen Umständen fort. Diesmal standen dem werdenden Schriftsteller «nur» noch die Umstände des zertrümmerten Deutschlands entgegen, schwer genug, sowie zunehmend der Feind in ihm selbst, die Krankheit. Trotz widrigster Gegebenheiten im Jahre Null (zum Glück hatte er tatkräftige gute Freunde) raffte der junge Schriftsteller alle Kräfte zusammen, um zu schreiben. Das Thema war der Krieg, nicht so sehr seine Auswirkungen auf die seelischen Kräfte als das, was die Menschen in ihrem Innern dazu getrieben hatte, ihn zu «machen», ihm zu «dienen». Seine scharfkantigen Gedichte, seine fragmentarische Sprache hatte nur ein Ziel: die Zertrümmerung Deutschlands, die innere so gut wie die äussere, zu dokumentieren. Teilweise auch sprachlich an den Expressionismus erinnernd, der angesichts der ersten deutschen Gross-Katastrophe, des Ersten Weltkriegs, Ähnliches versucht hatte, war sein Schreiben oft ein einziger Schrei. Da beschrieb ein Rückkehrer nicht nur, was er gesehen und erlitten hatte, er war das sprachgewordene Leiden selbst. Viele trugen es in sich, waren davon gezeichnet, ob bewusst oder unbewusst, ob «gewollt» oder ungewollt – ein kollektives Trauma.

Draussen vor der Tür

Noch vor den Zeitungen, noch vor den Büchern, war das Radio da. Das Hörspiel erlebte seinen vorher ungeahnten Siegeszug. So war denn auch das in einer Kräfteaufwallung Borcherts in nur acht Tagen entstandene Stück «Draussen vor der Tür» mit dem bezeichnenden Untertitel «Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will» zuerst als Hörspiel am Radio zu hören. Der Nordwestdeutsche Rundfunk produzierte das Stück im Hamburger Studio als Hörspiel und sendete es am 13. Februar 1947. Es hinterliess eine ungeahnt starke Wirkung, wurde mehrmals wiederholt. Es stiess auf schroffe Ablehnung (Nihilismus!) so gut wie begeisterte Zustimmung gerade auch in Militär- und Soldatenkreisen (So war es, so ist es!). Da hatte einer eine Sprache gefunden für die äussere und seelische Not der damaligen Zeit, sowohl für die Hiergebliebenen als auch für die Heimkehrer, für die damals auch oft seelisch kaum Platz war. «Wir alle, die wir immer noch in umgefärbten Militärklamotten herumlaufen, Gasmaskenbrillen tragen, Trümmer räumen und tanzen gehen […], an deren Betten nachts die toten Kameraden hocken und uns mit dem Blick ihrer erloschenen Augen quälen, die wir überall im Wege sind und beiseite stehen, wir haben einmal wieder unsere eigene Stimme gehört, die einer von uns in Worte geformt hat», so schrieb einer der deutschen heimgekehrten Frontsoldaten in einem der zahlreichen Briefe an den Autor. Und ein anderer, angesichts des billigen Trostes «In fünfzig Jahren ist das alles vorbei»: «In fünfzig Jahren ist nicht alles vorbei. In fünfzig Jahren ist ebenso Gegenwart wie heute und gestern war. Nicht um über sie hinwegzutäuschen, nicht um sie zu vergessen ist sie da – vergessen ist das Schlimmste für den Menschen, nein, um sie zu meistern.» (Wolfgang Borchert. Das Gesamtwerk. Rowohlt 1947, Hamburg, Nachwort S. 342 f.) Im Zentrum der Handlung von «Draussen vor der Tür» steht der ehemalige Unteroffizier Beckmann. Er kommt nicht darüber hinweg, dass er bei einem sogenannten «Himmelfahrtskommando» elf seiner Leute im feindlichen Beschuss verloren hat. Dafür will und kann er nicht die Verantwortung übernehmen. Eine der eindrücklichsten Szenen ist der Besuch des obdachlosen Heimkehrers in der unversehrten Villa seines Obersten, der ihm damals den Befehl zur aussichtslosen Erkundungsaktion in die Feindeslinien gegeben hat. Der Kommandant soll seine Verantwortung zurücknehmen und sie tragen, er selbst kann es nun nicht länger. Er will wenigstens einmal wieder eine Nacht schlafen, ohne Alpträume. Der Oberst ist ganz auf Wiederaufbau und Anpacken eingestellt, die eigenen Kriegserlebnisse hat er erfolgreich verdrängt. Das ist doch alles vorbei, ein bisschen Optimismus, und dann kriegen wir das schon hin, das ist seine Linie, mit der er erfolglos gegen Beckmanns Hartnäckigkeit ankämpft. Beckmann soll sich in die Garage begeben, sich dort waschen und rasieren, sich vom Chauffeur einen alten seiner Anzüge geben lassen und sie dann in Ruhe lassen: «Werden Sie erst mal wieder ein Mensch!» sagt er zum körperlich und seelisch ausgebrannten Soldaten. Der hat diesen Kraftort des deutschen Wiederaufbaus allerdings schon verlassen.
  Borcherts Stück zeigt in beklemmender Symbolik das Ausmass der Zerstörung. Es geht unter die Haut, weil diese Zerstörung nicht nur äusserlich ist, sondern auch innerlich. Alle Stationen dieser Rückkehr Beckmanns in die Normalität missglücken, weil nicht nur die Soldaten, auch die Bewohner fern der Fronten (an der «Heimatfront», wie das damals hiess), unter dem Krieg gelitten haben, auch seelisch.

Unverschüttbare Mitmenschlichkeit

Borcherts seismographische Auskundschaftung dessen, was trotzdem an Mitmenschlichkeit überlebt hat, kommt so unpathetisch daher wie seine Inventarisierung des damaligen Leidens. Für mich am eindringlichsten in seiner kurzen Prosaskizze, Kurzgeschichte nannte man das damals, «Nachts schlafen die Ratten doch».
  Schauplatz ist eine jener Strassen Hamburgs, Berlins, Dresdens, auf denen links und rechts Trümmerhaufen anzeigen, dass hier einmal Häuser standen. Durch die Trümmerlandschaft führen Pfade, welche die Überlebenden gebahnt haben. Auf einem Trümmerhaufen sitzt der neunjährige Jürgen, mit trotzigem Gesicht, in der Hand einen starken Knüppel. Ein Alter bahnt sich mühsam seinen Weg durch die Trümmerlandschaft, einen Korb mit Deckel am Arm, sieht den Jungen, stutzt, spricht ihn vorsichtig an. Der Dialog ist so zerbrechlich wie das Umfeld und die Seele des Jungen, was der alte Mann sofort merkt. Nach und nach bahnen sich Inhaltsbrocken durch den brüchigen Dialog. Der Junge sitzt hier, weil er hier sitzen muss. Warum, sagt er nicht. Aber er muss hier sitzen, genau hier. Zwingend. Ja, auch nachts, gerade auch nachts. Der Alte probiert’s mit Neugierig-Machen. Ob er erraten kann, was er hier im Korb hat. Kein Problem für den Jungen, der das Leben schon kennt: Gras, Kaninchenfutter. So ist es. Ob der Junge seine Kaninchen nicht mal sehen möchte, der Stall ist nicht weit. Und jetzt sind Junge da. Nein, geht nicht. Na denn … Beim Wegwenden des Alten dann die schnell hingeworfenen Worte des Jungen: «Es ist wegen den Ratten.» Ratten? Ja, Ratten. Die essen doch von Toten. Von Menschen. Woher er das denn wissen wolle. Von seinem Lehrer. Da unten liegt sein Bruder. Ein Bombe traf das Haus. Da war alles weg, und dann der Bruder auch. Der war viel jünger als er, erst vier. Er muss doch da unten irgendwo liegen. Und da muss Jürgen nun sitzen und die Ratten verjagen. Der Alte greift zu einer Notlüge, um den Jungen zu erlösen, und schüttelt den Kopf über Lehrer, die ihren Kindern Unsinn erzählen, obwohl doch allgemein bekannt ist, dass die Ratten nachts schlafen. Beim Weggehen bahnt sich die Möglichkeit eines Mitkommens an. Wenn der Alte zurückkommt, nach dem Füttern. Dann kann auch der Junge zu den Eltern gehen (weil die Ratten je bekanntlich nachts schlafen). Und vorher zeigt er ihm noch seine Karnickel. Eines davon kann er dann mitnehmen. Ein weisses, wünscht sich der Junge …
  Borcherts Vermächtnis, sein Stück «Draussen vor der Tür», wurde dann doch aufgeführt. Premiere war am 21. November 1947 in den Hamburger Kammerspielen. Bald wurde es in die Spielpläne dreissig deutschsprachiger Bühnen aufgenommen. Vor der Uraufführung in Hamburg trat die Spielleiterin, sie hatte Borchert persönlich gekannt, vor das Publikum. Eben hatte sie die Nachricht ereilt, Wolfgang Borchert sei am Vortag in einer Privatklinik in Basel, in der er durch Vermittlung seiner Freunde betreut wurde, an den Folgen seiner schweren Erkrankung gestorben.  •

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