Kann Europa ohne Russland existieren?

von Michel Pinton

Die im Titel erscheinende Frage war diejenige, die ich den Teilnehmern eines Seminars stellte, das ich vor 30 Jahren organisiert habe. Das war 1994. Russland erstand damals mühsam aus den Ruinen des Sowjetreichs. Seine lange Gefangenschaft hatte es erschöpft. Angesichts der endlich erlangten Freiheit hatte es nur einen Wunsch: wieder sich selbst sein zu können. Dazu musste es wieder zurück zu seinen Stärken finden. Darunter verstehe ich nicht nur seinen materiellen Wohlstand, den die Bolschewiken zertrümmert hatten, sondern auch seine verwüsteten sozialen Beziehungen, seine zusammengebrochene politische Ordnung, seine verzerrte Kultur und auch seine verlorene Identität.

Ich war damals Abgeordneter im Europäischen Parlament. Es schien mir ein Gebot der Stunde zu verstehen, was das neue Russland war, welchen Weg es einschlagen würde und wie Europa und die westliche Welt mit ihm zusammenarbeiten könnten. Ich hatte dazu die Idee, mit einer Delegation von Abgeordneten nach Moskau zu reisen, um über diese Themen mit unseren Kollegen von der nationalen Duma zu diskutieren. Ich setzte davon auch Philippe Séguin in Kenntnis, der damals Präsident der französischen Nationalversammlung war. Er unterstützte mein Projekt sofort. Die russischen Abgeordneten antworteten positiv auf unseren Vorschlag und luden uns ein, zu ihnen zu kommen. Wir stimmten beiderseits überein, unsere Delegationen noch mit Experten zu erweitern aus den Bereichen Wirtschaft, Verteidigung, Kultur und Religion, und ihre Gedanken in unsere Debatten einzubeziehen.

«Wir wollten die Politik der Verständigung weiterführen»

Séguin und ich waren nicht nur von der Neugierde getrieben, welche die damals noch unentschiedene Nation in uns weckte. Wir betrachteten uns als die geistigen Erben einer französischen Denkschule, der zufolge Europa sich vom Atlantik bis zum Ural erstreckt und seine Einheit nicht nur geographisch zu verstehen ist, sondern auch in ihrer menschlichen Dimension. Auch wir teilten die Einschätzung, dass der Friede, die wirtschaftliche Entwicklung und die Fortschritte in unseren geistigen Errungenschaften nur dann dauerhaft unseren Kontinent prägen werden, wenn seine Nationen ein Ende machten damit, sich gegenseitig zu zerstören oder sich gegenseitig zu ignorieren. Wir wollten die Politik der Verständigung weiterführen, wie sie Charles de Gaulle von 1958 bis 1968 begonnen hatte und wie sie dann, nur kurz, von François Mitterrand aufgenommen wurde mit seinem Konzept der «Grossen Europäischen Konföderation» [«Grande confédération» européenne].
  Wir kannten das Hindernis, das unserem Projekt im Wege stand. Es hiess Nato.

De Gaulle hatte vor der Nato gewarnt

De Gaulle hatte als erster und unermüdlich vor dem System gewarnt, «mittels dessen Washington über die Verteidigung und damit über die Politik und damit sogar über die Territorien seiner europäischen Verbündeten verfügt». Er hat betont, dass es niemals «ein wirklich europäisches Europa» geben könne, solange sich die westlichen Nationen nicht von der «schwerwiegenden Bevormundung» befreien würden, welche die Neue Welt der Alten aufdrückte. Er zeigte auch, wie dieser Weg einzuschlagen war, indem er «Frankreich aus einem Bündnis unter amerikanischem Kommando» herausführte. Die anderen Regierungen hatten es nicht gewagt, seinem Beispiel zu folgen. Aber der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und die Auflösung des Warschauer Paktes schienen uns die Politik des französischen Präsidenten zur Genüge zu rechtfertigen: Es war mit Händen zu greifen, dass die Nato, die damit ihre Existenzberechtigung verloren hatte, nun aufgelöst werden musste.
  Nichts stand einer engeren Verständigung zwischen allen Völkern Europas mehr im Wege. Séguin, ein Staatsmann mit der Fähigkeit vorauszudenken, sah schon die Konturen einer «europa-eigenen neuen Sicherheits-Organisation» in Form eines «europäischen Sicherheitsrates, innerhalb dessen die vier oder fünf Hauptmächte, darunter Russland und Frankreich, ein Vetorecht ausübten».

Ein Seminar in Moskau, 1994

Den Kopf voll von diesen Ideen bestieg ich das Flugzeug nach Moskau. Séguin wurde durch eine ausserordentliche parlamentarische Session in Paris festgehalten. Unser Seminar dauerte drei Tage. Die russische Elite nahm daran mit ebenso grossem Eifer teil wie die Vertreter aus Westeuropa. Von unserem Austausch blieb mir eine Haupterkenntnis unvergesslich. Unsere Gesprächspartner zeigten sich besorgt über den Ausgang zweier Fragen von prinzipiellem Gewicht für die Zukunft ihrer Nation: Welche Völker gehören zu Russland? Wie kann die Sicherheit der neuen Nation gewährleistet werden?
  Die erste Frage fächerte sich auf in eine Vielzahl kniffliger Grenzprobleme und solchen von Vorrechten, welche die ehemalige Sowjetunion gewährt hatte. Die zweite war überschattet vom Wiederaufleben tragischer Erinnerungen an die vergangenen Invasionen. Einige vertraten die Ansicht, dass die Antworten auf diese Fragen in brüderlichem Austausch mit Westeuropa zu finden seien, dessen Nationen gelernt hätten, in Frieden nebeneinander zu leben. Andere, welche die Idee zurückwiesen, Russland habe eine europäische Mission zu erfüllen, sahen für Russland eher eine eigene Entwicklung voraus, welche sie «euroasiatisch» nannten. Natürlich waren wir mehr von der ersten Gruppe angetan. Ihr unterbreiteten wir unsere Vorschläge. Damals war diese Gruppe eindeutig die stärkere.

Wenn Russland nicht verstanden wird

Wenn ich mir, 30 Jahre später, die Entwicklungen dieses Seminars wieder in Erinnerung rufe, erkenne ich schweren Herzens, wie recht ein herausragender Akademiker, Mitglied des Präsidialrates, bekommen sollte, als er damals sagte: «Wenn der Westen keinerlei Absicht zeigt, Russland zu verstehen, wenn Moskau nicht das erreicht, was ihm so am Herzen liegt – ein effektives europäisches Sicherheitssystem –, wenn Europa unsere Isolation nicht vermeidet, dann wird sich Russland unvermeidlich in eine revisionistische Macht verwandeln Es wird sich nicht mit dem Status quo zufriedengeben und aktiv versuchen, den Kontinent zu destabilisieren.»

Warum hat unsere Generation so jämmerlich versagt?

2022 passiert genau das. Aus was für Gründen hat unsere Generation in diesem Vereinigungswerk so jämmerlich versagt? 1994 schien es uns doch so greifbar.
  Bei uns herrscht nun die Tendenz vor, die Verantwortung für dieses Versagen einzig und allein einer Person zuzuschieben: Wladimir Putin. Putin sei ein «unerbittlicher Diktator, chronischer Lügner und darauf aus, ein verschwundenes Reich wieder herzustellen». Ihn müsse man bekämpfen, sogar «eliminieren». Nur dann könne die Demokratie, dieses Glanzstück des Okzidents, den Sieg über den Orient davontragen.
  Das ist die Aufgabe, vor die uns der amerikanische Präsident Joe Biden stellt. Seine Erklärungen dazu haben den Vorteil, dass sie einfach sind, aber sie sind so stark den eigenen Interessen verpflichtet, dass sie nicht einfach so hingenommen werden können. Wer auch immer sich nicht von den hochgepeitschten Emotionen des Augenblicks dominieren lässt, kann ohne weiteres erkennen, dass das Problem Europas sehr viel vielschichtiger ist und tiefer geht.

Der Westen hat sich zunehmend vom Osten distanziert

Man kann die Geschichte unseres Kontinents der letzten 30 Jahre dahingehend resümieren, dass sich der Westen zunehmend von seinem Osten distanzierte.
  Im ehemaligen Sowjetreich bestand das Hauptproblem darin, und es besteht immer noch, Nationen zu schaffen, die wieder an ihre eigene Vergangenheit anknüpfen, wieder sich selbst werden und in Sicherheit leben können. Für Russland heisst das: alle Völkerschaften um sich zu einen, die sich dem Mutterland zugehörig fühlen, sowie stabile und vertrauensvolle Beziehungen mit den Bruderländern Weissrussland, der Ukraine und Kasachstan zu gestalten, gleichzeitig dazu ein Sicherheitssystem aufzubauen, das sie gegenüber äusseren Anfeindungen und Gefahren schützt.
  Für die Führungskräfte der Länder Westeuropas sahen die vordringlichen Probleme ganz anders aus. Seit dem Fall der Berliner Mauer haben sie ihre Aufmerksamkeit, ihre Verausgabungen und ihr Vertrauen ganz dem gewidmet, was sie «Europäische Union» nannten. Der Vertrag von Maastricht, die Schaffung ihrer Einheitswährung, der Vertrag von Lissabon (eine Art europäischer Verfassung), das war, was sie beschäftigte, und zwar in einem Intensitätsgrad, der nicht viel anderes mehr zuliess.

Die Eliten im Westen hielten die Existenz von Nationen für überholt

Während es im Osten darum ging, alle Energie darauf zu konzentrieren, die verlorene Zeit in der nationalen Geschichte aufzuholen, wurden die Eliten im Westen von einem unwiderstehlichen Trieb geleitet, die Existenz von Nationen zu überwinden und statt ihrer den «espace européen» (europäischen Raum) in rationelle Organisationsbereiche einzuteilen. Das Problem der nationalen Sicherheit stelle sich nicht mehr, weil alle Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedsstaaten von supranationalen Instanzen geregelt werden. Der Friede in Europa habe sich durchgesetzt und sei endgültig. Man kann zusammenfassend sagen, dass der europäische Westen davon ausgeht, er habe die Idee der Nation überwunden und ein stabiles System geschaffen, das gleichbedeutend ist mit einem Happy-End seiner Geschichte.
  Dagegen steht Russland vor brennenden Fragen bezüglich der Idee der Nation und hat ein starkes Gespür für schmerzhafte Begegnungen mit der Geschichte. Aus diesen Bedingungen heraus verfügen heute der Osten und der Westen Europas nicht mehr über vieles, das miteinander ausgetauscht werden könnte, ausser Erdöl und Werkzeugmaschinen, ein Austausch, der allerdings auf einem zu tiefen Niveau angesiedelt ist, als dass er die bestehenden Divergenzen in ihrer verschiedenen Welt- und Selbstsicht abbauen könnte.

Heute ist die Nato weitaus gefährlicher als zu Zeiten der beiden Blöcke

Aus diesen Gründen ist die Nato zu einem Stein des Anstosses geworden, weitaus gefährlicher als noch zu Zeiten der beiden Blöcke. Im Westen Europas wird die militärische Organisation unter Aufsicht Washingtons wie eine gütige Vorsehung angesehen, die es davor bewahren wird, dass sich die Geschichte auch wieder einmal zurückmelden könnte. Sie erlaubt es den Bevölkerungen der Mitgliedsländer, ohne irgendwelche Beunruhigung «die Dividenden des äusseren Friedens» einzustreichen, so wie sie es, was den inneren Frieden betrifft, durch die Existenz der EU tun. In Russland dagegen erscheint die Nato als tödliche Gefahr. Sie ist ganz in der Hand einer Grossmacht, die seit dem Fall der Berliner Mauer mehrfach gezeigt hat, dass sie die Weltherrschaft sowie die Hegemonie über Europa will. Die Vereinnahmung Polens, der drei baltischen Staaten und Rumäniens, alle in unmittelbarer Nähe Russlands, in einen Raum, der von den Amerikanern geschützt wird, wurde im Westen stürmisch gefeiert. In Moskau löste der Streich Alarm und Zorn aus.

Was ist mit Frankreich?

Und was ist mit Frankreich? Warum hat es das voranschreitende Auseinanderdriften unseres Kontinents nicht verhindert? Aus dem einfachen Grunde, dass seine Führungsschicht entschieden hat, ein für allemal dem Mythos «Europäische Union» die absolute Priorität einzuräumen. Da war es nur logisch, dass es sich in sein natürliches Anhängsel mit hineinziehen liess, die Nato. Jacques Chirac hat die militärische Expedition gegen Serbien gutgeheissen, zwar mit teilweisem Widerspruch, aber durchaus explizit.
  Sarkozy vollzog dann den Schritt des Wiedereintritts. Hollande und Macron haben uns immer enger in die Organisation eingebunden, die den Befehlen von jenseits des Atlantiks gehorcht. Von diesem Zeitpunkt an haben unsere Präsidenten viel Kredit verloren, wenn sie vorgaben, für den Frieden und die Verständigung in Europa zu handeln. Dazwischen gab es immer wieder Anläufe, die amerikanische Vormundschaft abzuschütteln und sich auf die Mission zu besinnen, die de Gaulle vorgezeichnet hatte. Als Chirac sich weigerte, sich an der amerikanischen Aggression gegen den Irak zu beteiligen, als Sarkozy mit Moskau die Bedingungen eines Waffenstillstands in Georgien aushandelte, als Hollande die Minsker Vereinbarungen aufgleiste, um den Kämpfen in der Ostukraine ein Ende zu setzen, waren das alles Taten, die sich unserer Aufgabe in Europa als würdig erwiesen. Es ist uns sogar gelungen, Deutschland mitzubeteiligen. Aber leider waren diese Ansätze improvisiert, partiell und von kurzer Dauer.

«Ein Abgrund des Nichtverstehens teilt Europa»

Die geschilderten Abläufe zeigen, dass Europa sich abermals in zwei Teile gespalten hat. Die Ukraine hat das Unglück, genau auf der neuen Bruchlinie des Kontinents zu liegen und bezahlt dafür nun einen bitteren Preis mit Blut, Tränen und Zerstörung. Russland erhebt Anspruch auf die Ukraine im Namen seiner Geschichte. Die EU tut das gleiche und beschwört die demokratischen Rechte, welche ihr zufolge stärker sind als die Geschichte. Die Nato profitiert von diesem unlösbaren Streit, um ihre Schachfiguren in aller Stille weiter nach vorne zu rücken und damit das Ende des Krieges weiter zu komplizieren.
  Ein Abgrund des Nichtverstehens teilt Europa; ein grausamer Krieg zerreisst es; ein neuer Eiserner Vorhang legt sich über sein Gebiet; das Wettrüsten geht weiter, und, schlimmer noch als der schwindelerregende Zusammenbruch des wirtschaftlichen Austauschs, es gibt auch einen Abbruch des Austauschs von Ideen, etwas, das beide Seiten dieses Konflikts bedroht. Johannes Paul II, ein grosser Europäer, sagte einmal, unser Kontinent könne nur mittels seiner beiden Lungenflügel atmen. Dabei verdammen sich heute sein Osten und sein Westen dazu, nur mit einem zu atmen. Das ist ein schlechtes Omen für beide.  •

(Übersetzung Zeit-Fragen)

zf. Michel Pinton, geboren 1937, ist Ingenieur und ein französischer Politiker, Buchautor und Publizist. In den sechziger Jahren arbeitete er in den USA für Robert Kennedy und später an der Princeton University, wo ihn Valéry Giscard d'Estaing – damals französischer Finanzminister – 1968 bei einem Vortrag kennenlernte. Als Spezialist für Meinungsumfragen und Wahlkampagnen wurde Michel Pinton einer der Mitarbeiter von Valéry Giscard d'Estaing, der 1974 zum Präsidenten der Republik gewählt wurde. Er war Gründungsmitglied der UDF (L’Union pour la démocratie française) und wurde 1978 Generaldelegierter und 1981 Generalsekretär. Als Gegner der militärischen Abschreckung trat er 1983 von seinem Amt als Generalsekretär der Partei zurück und aus der Partei aus. 1992 nahm er gegen die Einheitswährung Euro Stellung, 1993 und 1994 war er Abgeordneter im Europäischen Parlament. Von 1995 bis 2008 war er Bürgermeister der französischen Gemeinde Felletin. 1998 trat er dem Pôle républicain von Jean-Pierre Chevènement bei.

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