Welche Schweiz wollen wir? – Nachdenken tut not!

von Dr. Eliane Perret, Psychologin und Heilpädagogin

Auf Grund der Einschränkungen während der akuten Phase der Covid-19-Pandemie verbrachten viele Familien ihre Ferien in der Schweiz. Gut so! Für die Kinder war es eine Chance, die vielfältige, manchmal versteckte Schönheit unseres Landes kennenzulernen. Und vielleicht hatten sie sogar das Glück, dass ihnen Eltern oder Grosseltern ihr Wissen über die Geschichte, Geografie und Biologie der jeweiligen Standorte weitergaben – schliesslich sollten diese noch auf den entsprechenden, fachlich fundierten Schulunterricht zurückgreifen können. Zum Beispiel, wenn eine Familie auf dem Weg in den Tessin die St.-Bernardino-Route wählte, in Avers von der Autobahn abging und einen Zwischenhalt in der Rofflaschlucht machte. Das hatte vor mehr als fünfzig Jahren auch die Kinderbuchautorin Margret Rettich gemacht und dann beschlossen, ein Bilderbuch über die Geschichte dieses Ortes zu verfassen, wie aus einem Briefwechsel zwischen dem damaligen Verlag und der Familie Gubser-Pitschen zu erfahren ist.

Eine geschichtsträchtige Pause

Der Verleger schreibt: «Die Künstlerin und Autorin, Frau Margret Rettich, hat den Inhalt dieses Schicksals und seiner Ereignisse selbst bei Ihnen, in Ihrem Hotel Rofflaschlucht, erzählt bekommen. Bei der Überlegung der Darstellung und Verwirklichung eines solchen Buches waren Frau Rettich und wir uns darin einig, dass wir diese Geschichte nicht anonym, irgendwo in den Alpen spielend, herausbringen sollten, sondern mit den richtigen Namen und Ortsbezeichnungen. Dieses Bilderbuch sollte kein Märchenbuch werden, sondern ein Buch, welches heutigen und künftigen Kindern ein echtes Schicksal erzählt und zeigt, so dass sie dieses nicht nur in einem Buch bewundern können, sondern sich mit den Eltern angesprochen fühlen, selbst das Hotel Rofflaschlucht zu besuchen und den Wasserfall zu bestaunen.»1 

Ein Leben in Frieden und sozialer Absicherung

Die Geschichte ist tatsächlich eine herrliche Gelegenheit, mit den Kindern darüber ins Gespräch zu kommen, welche Sorgen und Nöte die Menschen unseres Landes im 19. Jahrhundert dazu bewegten, ihre Heimat zu verlassen und einen beschwerlichen Weg auf sich zu nehmen, um in einem fernen, unbekannten Land ihr Glück zu versuchen – und auch darüber nachzudenken, in welcher Situation wir in unserem Land heute leben – mit einem Gefühl der Dankbarkeit für das, was unsere Vorfahren alles unternommen haben, damit wir in Frieden und sozialer Absicherung zusammenleben können.

In fremden Heeren …

Noch vor 150 Jahren war dem nicht so. Viele Menschen machten sich damals auf, um in einem fremden Land eine neue Existenz aufzubauen. Das war kein neues Phänomen, denn schon in den vorhergehenden Jahrhunderten waren Menschen aus unserem Land ausgewandert. Zuerst wurden sie für fremde Kriegsdienste angeworben, was vom 13. Jahrhundert an bekundet ist. Heute ist es kaum vorstellbar, dass im 16. Jahrhundert rund ein Drittel der mehr als 16jährigen Männer einmal in fremden Kriegsdiensten stand, auch im folgenden Jahrhundert war es noch nahezu ein Viertel der männlichen Bevölkerung, die so der Armut zu entkommen suchte. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Kriegsdienst für fremde Mächte verboten. In der Schule noch davon gehört?

… oder als begehrte Fachleute

Aber auch junge Leute aus Patrizierfamilien oder dem wohlhabenden Bürgertum begaben sich ab dem 14. und 15. Jahrhundert ins Ausland an Universitäten, um sich dort auszubilden. Abkömmlinge von Adelsfamilien, Geistliche, Handels-, Finanz- und Baufachleute gehörten aus unterschiedlichen Gründen zu den Auswanderern, sie waren begehrte Fachleute, und ihre Wege führten nach Russland, Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts nahm auch die Auswanderung nach Nord- und Süd-amerika zu, und da schliesst sich der Bogen zur Geschichte vom Wasserfall.2 Wie die Familie Christian Pitschen-Melchior aus der Rofflaschlucht zogen auch viele andere Familien Ende des 19. Jahrhunderts notgedrungen weg von ihrer Heimat. In ihrem Fall nach New York, wo sie ein hartes Leben erwartete. Eine optimistischere Zukunftsperspektive führte die Familie zurück in die Schweiz.

Der Vulkan Tambora – Missernten – Arbeitlosigkeit

Es war in den meisten Familie existentielle Not, weswegen die Menschen die Schweiz verliessen. In drei grossen Auswanderungswellen zog es sie neben Russland vor allem nach Nordamerika. Als 1815 in Indonesien der Vulkan Tambora ausbrach, soll die riesige Masse von Asche sogar in der Schweiz einen Teil des Sonnenlichts absorbiert haben, so dass 1816 als «Jahr ohne Sommer» in die Geschichte einging. Das führte zu Ernteausfällen, denen Teuerung, Hunger und Not folgten und 1816 und 1817 auch zu einer ersten grossen Häufung von Auswanderungen armer Bevölkerungsschichten.
  Wiederum waren es Missernten, die zu Beginn der 1850er Jahre eine zweite grosse Welle der Auswanderung auslösten. Handwerker, Gewerbetreibende und Landwirte vor allem aus ländlichen Gebieten zogen weg. Schliesslich kam es zu einer letzten grossen Auswanderungswelle gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in der viele Schweizer Familien ihr Glück in Übersee suchten, da durch die sinkenden Weltmarktpreise zahlreiche Bauern in den Ruin getrieben wurden. Zudem war die Industrialisierung der Schweiz im Textilbereich zwar schon weit fortgeschritten, aber nach der Aufhebung einer von Frankreich verhängten Wirtschaftsblockade gegen England wurde unser Land mit billigen Textilien überschwemmt. Viele Arbeitsplätze, vor allem die Heim- und Handarbeit, gingen verloren. Wirtschaftskrieg auch damals?3

Strapaziöse Überfahrt – schwere Lebensbedingungen

Wer mindestens 21 Jahre alt oder Familienvater war, konnte in den USA zu einem symbolischen Preis ein Stück Land erwerben, das nach fünf Jahren der Bewirtschaftung sein Eigentum wurde. Nicht allen war Glück beschieden, gab es doch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Schweiz kaum gesetzliche Regelungen, an die sich Auswanderungsagenturen halten mussten. Einzelne Werber oder Agenturen lockten mit falschen Versprechungen. Nicht selten profitierten dabei vor allem sie selbst und stürzten die Auswanderer ins Elend. Allein schon die Überfahrt im Zwischendeck eines grossen Schiffes war strapaziös, und viele überlebten sie nicht. Auch wurden die Auswanderer in ihrem Lande der Träume nicht mit offenen Armen empfangen, oder sie wurden bei der Besiedlung zur Vertreibung der indigenen Bevölkerung missbraucht. Oft mussten sie schwerste, schlecht bezahlte Arbeiten übernehmen, wie es in der «Geschichte vom Wasserfall» beschrieben wird, oder das versprochene Land war kaum zu bewirtschaften. Zwar gibt es heute Nova Friburgo in Brasilien. Oder Berne im amerikanischen Bundesstaat Indiana, wo Mennoniten aus der jurassischen Gemeinde Moutier Wildnis und Sumpfland gerodet und gegen Bären, Wölfe und Krankheiten gekämpft hatten. Die im Zürichtal auf der Krim angesiedelten Schweizer wurden später unter Stalin deportiert und der Ort in Zolotoe Pole (Goldenes Feld) umbenannt.4 Viele Auswanderer kehrten enttäuscht in die Schweiz zurück, so wie die Familie Pitschen-Melchior in die Rofflaschlucht. Hier erwartete sie eine bessere Zukunft, denn die Schweiz entwickelte sich zusehends zu einem Sozialstaat, in dem die Menschen in Frieden zusammenleben konnten. Dazu trugen viele unserer Vorfahren bei.
  Das alles sollten die Kinder von ihren Eltern, Grosseltern erfahren – und sie müssen es – damit sie ihre Kultur wertschätzen und sich darin verwurzeln können.

Grundlagen eines friedlichen Zusammenlebens schaffen

Wie an vielen Orten auf der Welt, machten sich auch hierzulande zahlreiche verantwortungsbewusste Menschen Gedanken und setzten ihre Kräfte ein, um ein gemeinsames, gleichberechtigtes Leben zu gestalten.5 Sie trugen die zu lösenden Probleme zusammen, schöpften die bisherigen Erfahrungen aus und nutzten neue Forschungsergebnisse unterschiedlicher Wissenschaftszweige – immer mit dem Ziel, in unserem Land mit vier Sprachgebieten und Kulturen, städtischen und ländlichen Gebieten und verschiedenen Religionen die Grundlagen zu einem friedlichen Zusammenleben in unserer direkten Demokratie zu schaffen und die Menschen dazu zu befähigen, ihre Aufgabe darin zu übernehmen.
  Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften, speziell der Personalen Psychologie, trugen dazu bei, Verantwortungsgefühl und Verbundenheit mit den Mitmenschen und ihrem Land zu legen. Der Familie kommt dabei allerhöchste Bedeutung zu, denn sie ist der wichtigste Ort, in dem kulturelle Werte und Normen von Generation zu Generation vorgelebt, weitergegeben und auch weiterentwickelt werden.6 Aber auch den Bildungsstätten kommt dabei eine wichtige Aufgabe zu. Entsprechend wurden auch die Lehrpläne der Schulen ausgestaltet. Dazu gehört es, den Kinder und Jugendlichen Einblick zu geben in die Geschichte und Kultur des Landes, in dem sie leben, und hier ist die Schule in besonderem Masse gefordert.

Wir wollen frei sein …

So hiess ein Geschichtslehrmittel von Franz Meyer, mit dem während langer Jahre die Kinder in die Geschichte unseres Landes eingeführt wurden. Der Titel griff sinnig eine Forderung des Rütlischwurs auf: «Wir wollen frei sein, wie die Väter waren …», ein wichtiges Erziehungsziel, zu dem     wir unsere nachfolgende Generation hinführen und bilden müssen (aber – ob es wohl im internationalistischen Lehrplan 21 aufgeführt ist?). Doch diese Forderung nach Freiheit kann nicht ohne Verantwortung für das Gemeinwesen sein, worauf schon Johann Heinrich Pestalozzi aufmerksam gemacht und deshalb gefordert hatte, dass die Demokratie ihre Bürger geistig und sittlich bilden müsse, um sie zur Freiheitsfähigkeit zu erziehen. Er machte damit auf die Bedeutung von Bildung und Erziehung für ein Zusammenleben in Würde und Freiheit aufmerksam.7

Integrität und demokratische Überzeugung

Gerade die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie ist hier besonders gefordert. Speziell die von ihren Mitbürgern in Ämter gewählten Entscheidungsträger brauchen menschliche Reife, damit sie diese verantwortungsbewusst ausfüllen. Sie müssen ihr Leben und ihre Arbeit auf dem Boden von ethischen Werten gestalten, dürfen keinen Mangel an Integrität und demokratischer Überzeugung aufweisen und sich nicht treiben lassen von Bedürfnissen nach Macht und Anerkennung und der Gier nach Geld. Das bedingt eine Verwurzelung in der eigenen Kultur und Geschichte, sonst sollen sie lieber die Finger von öffentlichen Aufgaben lassen. Dass solche Persönlichkeiten bereitstehen, beginnt mit der Erziehung und Bildung der nachfolgenden Generation in der Familie, der Schule und der Gesellschaft.

Welche Schweiz wollen wir?

In den letzten Wochen war es erschreckend zu erleben, wie durch unsere Regierungsvertreter der Schweizer Neutralität der Boden und die Substanz entzogen wurden. Mit von Spin-doctors eingehauchten billigen Argumenten wollen sie der Schweizer Bevölkerung dieses Grundelement unserer Demokratie madig machen. Hier darf durchaus die Frage nach der «Regierungsfähigkeit», wie Pestalozzi es nannte, gestellt werden. Was sollen dann später die Eltern und Grosseltern sagen, wenn sie den Kindern die Geschichte der Familie Pitschen-Melchior erzählen, die in die Schweiz zurückkam und hier eine Zukunft in Frieden und sozialer Gerechtigkeit aufbauen konnte? Sollen sie sagen: «Es war einmal»?  •



1 Das Bilderbuch erschien erstmals 1974 und wurde seither immer wieder neu aufgelegt, letztmals 2015. Rettich, Margret. Die Geschichte vom Wasserfall. Baeschlin-Verlag
2 vgl. Head-König, Anne-Lise. «Auswanderung». In: Historisches Lexikon der Schweiz (HSL). Version vom 15.10.2007. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007988/2007-10-15/, abgerufen am 13.07.2022
3 vgl. Altweg, Jonas; Tieber, Sandro. Migration. Schweizer Amerikawanderung des 19. Jahrhunderts. Vertiefung: Not und Armut in der Ostschweiz. www.sozialgeschichte.ch/themen/schweizer-amerikawanderung-des-19-jahrhunderts, abgerufen am 16.7.2022
4 Koci, Petra. «Die Schweiz anderswo». www.blog.nationalmuseum.ch abgerufen am 16.7.2022. www.sozialgeschichte.ch. abgerufen am 16.7.2022
5 vgl. Wüthrich, Werner. Wirtschaft und direkte Demokratie in der Schweiz. Geschichte der freiheitlich-demokratischen Wirtschaftsverfassung der Schweiz. Verlag Zeit-Fragen 2020
6 vgl. Buchholz-Kaiser, Annemarie. «Die Bedeutung der Wertevermittlung in der Familie für die Würde und den Wert des menschlichen Lebens». In: Zeit-Fragen, Dezember–Januar 1999/2000
7 vgl. Brühlmeier, Arthur. «Pestalozzis Anschauungen über Wesen und Funktion des Staates». www.heinrich-pestalozzi.de/grundgedanken/staat, abgerufen am 17.7.2022


Was erzählen Sie zu Weihnachten Ihren Kindern?

von Annemarie Buchholz-Kaiser

Erzählen wir zu Weihnachten unseren Kindern, dass es früher einmal Demokratien gab? Länder, wo die Menschen frei waren, wo sie über ihre Gesetze bestimmen konnten, wo jeder Bürger und jeder Einwohner von Natur aus eine Würde hatte, wo es Menschenrechte gab und jeder einen Anspruch auf eigenes Denken, auf eine eigene Meinung hatte, eine freie Meinung, ein Recht auf eine eigene Religion und Tradition, auf Rechtsverfahren, die an Beweise gebunden waren? Erzählen wir ihnen nächstes Jahr, dass – früher – den Menschen der Friede ein grosses Anliegen war, dass sie sich dafür mit ganzer Kraft und Überzeugung eingesetzt haben? Dass sie überlegt haben, wie man den ärmeren Ländern der Welt helfen könnte? Dass es einmal Stimmen gab für Frieden und soziale Gerechtigkeit? Dass es einmal eine Schweiz gab, in der mehrere Sprachregionen, mehrere Mentalitäten, mehrere Religionen dank direkter Demokratie ein Modell friedlichen Zusammenlebens, ein Filigranwerk an demokratischem Gestalten von unten nach oben, entwickelt hatten, das auch für Krisen- und Kriegsregionen der Welt einen Ausweg bieten würde? Erzählen wir ihnen all das im Imperfekt? Oder tun wir vorher noch einiges andere?

Quelle: Zeit-Fragen vom 21.12.2001

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