Die unveränderte Realität des Berg-Karabach-Konflikts

von Ralph Bosshard*

Ob des Kriegs in der Ukraine ging die Eskalation der Lage im Südkaukasus in der Presse etwas vergessen. Es wäre aber fatal, diesen potentiellen Krisenherd aus den Augen zu verlieren, denn besonders die Machthaber in der Region könnten versucht sein, von der aktuellen Lage zu profitieren und quasi im Windschatten des Ukraine-Kriegs ihre eigene Agenda durchzuziehen. Lösen müssen diesen Konflikt aber die verfemten Underdogs der Weltpolitik.

In der gegenwärtigen äusserst angespannten internationalen Lage, in der sowohl die Versorgungssicherheit als auch die politische und wirtschaftliche Stabilität Europas bedroht sind, kommt der Konfrontation zwischen Aserbaidschan und Armenien grosse Bedeutung zu. Die Südkaukasusregion stellt einen wichtigen Abschnitt in der Transportroute der kaspischen Energieträger nach Europa dar und hat als Folge des Unterbruchs der Gaslieferungen aus Russland an Bedeutung gewonnen. In diesem Zusammenhang darf die am 18. Juli 2022 zwischen der Europäischen Union und Aserbaidschan unterzeichnete Vereinbarung über eine strategische Partnerschaft im Energiebereich als zentrales Ereignis für die Gewährleistung der Energiesicherheit Europas betrachtet werden: Aserbaidschan und die EU vereinbarten, die Menge des aus Aserbaidschan gelieferten Erdgases in den kommenden Jahren auf 20 Milliarden Kubikmeter jährlich zu verdoppeln. Ein Teil des Gases wird wohl aus Turkmenistan kommen. Europa kann offenbar sehr gut mit Autokraten umgehen, wenn es um kostengünstige Rohstoffe geht. Allerdings profitiert auch Baku von den aktuellen hohen Preisen für Erdgas und Erdöl und wird der EU wohl keine «Freundschaftspreise» anbieten.

Eskalation seit Mai 2021

Schon im Mai 2021 waren aserbaidschanische Soldaten in den Provinzen Syunik und Gegharkunik mehrere Kilometer weit nach Armenien vorgedrungen. Damals forderten das Europäische Parlament sowie die Vereinigten Staaten und Frankreich – zwei der drei Ko-Vorsitzenden der Minsker Gruppe der OSZE – Aserbaidschan auf, seine Truppen aus dem international anerkannten armenischen Gebiet zurückzuziehen. Im Juli und im November 2021 kam es zu weiteren Zusammenstössen, die als bisher schwerster Verstoss gegen das Waffenstillstandsabkommen von Berg-Karabach aus dem Jahr 20201 zu werten sind.
  Am Abend des 12. September dieses Jahres berichtete das armenische Verteidigungsministerium, dass die aserbaidschanische Armee die Ortschaften Goris, Artanish, Sotk, Jermuk, Kapan und Ishkhanasar mit Artillerie und schweren Waffen beschiesse und lokale Vorstösse unternommen habe. Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium beschuldigte seinerseits Armenien, in den Regionen Dashkasan, Kalbajar und Lachin «gross angelegte Provokationen» begangen und Minen entlang der Versorgungsstrassen der aserbaidschanischen Armee gelegt zu haben.2 Ein von Russland am 13. September vermittelter Waffenstillstand wurde offenbar nur Minuten nach seinem Inkrafttreten gebrochen.3
  Am 14. September erklärte der armenische Premierminister Nikol Pashinyan, dass Aserbaidschan die Kontrolle über bestimmte Gebiete auf armenischem Gebiet übernommen habe, worauf Armenien zum ersten Mal in der armenischen Geschichte Artikel 4 des Vertrags über kollektive Sicherheit in Anspruch genommen habe. Armenien ist Mitglied der von Russland geführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS, engl. CSTO), deren Mitglieder sich verpflichtet haben, einander im Falle einer militärischen Aggression beizustehen.4 Offenbar kam Baku zur Erkenntnis, dass die OVKS handlungsfähig ist, auch wenn Russland derzeit im Krieg in der Ukraine gebunden ist, denn am 16. September teilte der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew seinem russischen Amtskollegen Putin mit, dass die Lage stabil sei.5 Nach Angaben eines armenischen Abgeordneten hat Armenien seither die Kontrolle über sechs zuvor verlorene Stellungen an der Grenze zurückgewonnen.6 Teile armenischen Territoriums sind und bleiben aber von aserbaidschanischen Truppen besetzt.

Unverrückbare Verhandlungspositionen

Trotz der positiven Dynamik im Prozess der Normalisierung der armenisch-aserbaidschanischen Beziehungen im vergangenen Jahr kam die jüngste Eskalation nicht überraschend: In einer Reihe von Schlüsselfragen vertreten Aserbaidschan und Armenien nach wie vor diametral entgegengesetzte -Positionen. Insbesondere die Forderung Bakus nach der Eröffnung des Zangezur-Korridors durch den Süden Armeniens zwischen dem aserbaidschanischen Kernland und der Autonomen Republik Nakhitschevan erwies sich als Stein des Anstosses. Ohne eine baldige Öffnung des Zangezur-Korridors werde es schwierig sein, von Frieden zu sprechen, hatte der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyew schon im Juni 2022 auf dem Global Baku Forum in Baku erklärt.7 In diesem Zusammenhang sind schon territoriale Forderungen an Armenien in der Luft.8
  Auch nach dem 44tägigen Krieg im Herbst 2020 bleiben Fragen wie der Status der Republik Berg-Karabach, die sich selbst als Artsakh bezeichnet, und die militärische Unterstützung von Artsakh durch Armenien weiterhin ungeregelt.

Vermittlungsversuche des Westens

Derzeit ist der Waffenstillstand an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze bröcklig. Baku glaubt, aus einer Position der Stärke agieren zu können, und lehnt eine Vermittlungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE offenbar ab. Die Tatsache, dass armenische Soldaten nach wie vor wegen angeblicher Kriegsverbrechen in Aserbaidschan festgehalten werden, trägt zum gegenseitigen Misstrauen bei, ebenso wie ungelöste Fragen der Erhaltung religiöser, historischer und kultureller Denkmäler in Berg-Karabach, die nun auf aserbaidschanisch kontrolliertem Territorium liegen.9 Seit November 2020 schützen russische Soldaten das Kloster Dadivank im Tal des Terter, das durch einen Schüler des Apostels Judas Thaddäus im ersten nachchristlichen Jahrhundert gegründet worden sein soll.10
  Die aserbaidschanische Regierung hofft möglicherweise auf einen Sturz der Regierung Pashinyan und ist folglich zu keinen Zugeständnissen bereit. Auf der anderen Seite wird in dieser Atmosphäre jedes Zugeständnis Eriwans als Einknicken der Regierung Pashinyan interpretiert werden. Baku aber ist sich der Unterstützung der Türkei sicher und will eventuell aufs Ganze gehen, nachdem der türkische Spitzenpolitiker und Erdogan-Verbündete Mustafa Destici am 15. September gedroht hatte, Armenien und das armenische Volk vom Angesicht der Erde zu tilgen:
  «Wir sagen der armenischen Regierung: Kommen Sie zur Vernunft: Ich erinnere Sie noch einmal daran, dass die türkische Nation in der Lage ist, Armenien aus der Geschichte und der Geographie auszulöschen, und dass sie an der Grenze ihrer Geduld steht.»11
  Die politische Führung in Baku könnte den Abschluss des Liefervertrages mit der EU als insgeheime Duldung eines harten Kurses gegenüber Eriwan interpretiert haben.12  Umgekehrt mag dieser Vertragsabschluss in Eriwan gewisse Zweifel an der Unvoreingenommenheit Brüssels erzeugt haben. Schon argwöhnen armenische Intellektuelle, die sogenannte westliche Wertegemeinschaft wolle Armenien auf dem Altar ihrer Energie-Interessen opfern.13 Da wirken die Solidaritätsbekundungen westlicher Spitzenpolitiker an die Adresse des armenischen Volks etwas schwach, ebenso wie der Besuch von Nancy Pelosi in Eriwan.14 Aus armenischer Sicht mag dieser in erster Linie aus Rücksicht auf die einflussreiche armenische Diaspora in den USA erfolgt sein. Aus russischer Sicht mag Pelosi vor allem geopolitische Ziele verfolgt haben.

Schwacher Westen

Aber die Schlüssel zur Lösung des Konflikts liegen ohnehin nicht mehr in Brüssel, Washington oder Paris. Der Westen hat sich mit seiner antirussischen Politik zu stark eingeschränkt und sich zu sehr in Abhängigkeit von Aserbaidschan begeben, als dass er unabhängig handeln könnte.
  Ohne Sicherheitsgarantien für seine territoriale Integrität und die Sicherheit seiner Bevölkerung wird Armenien keinen Transitkorridor durch den Süden des Landes gewähren, den gegebenenfalls auch aserbaidschanische Militärtransporte nutzen können. Nur schon hierfür wird die Regierung Pashinyan viel Überzeugungsarbeit im eigenen Land leisten müssen, denn die Angst in Armenien ist gross, und die Front der Hardliner ist stark. Nach Lage der Dinge kann eine Sicherheitsgarantie für Armenien nur von den Mitgliedsländern der OVKS kommen. Ob die OVKS-Mitgliedsländer dazu in der Lage sind, ist derzeit nicht klar. Zu solchen Garantien müssten dann Massnahmen zur Transparenz militärischer Aktivitäten im Raum Südkaukasus kommen.
  Damit aber eine Verhandlungslösung überhaupt erst möglich wird, muss Ankara all jene bremsen, die momentan eine militärische Lösung anstreben. Aserbaidschan und die Türkei sind beide an weiteren Transitkorridoren in Richtung Zentralasien interessiert. Auch hierbei könnten die zentralasiatischen Länder behilflich sein. Und auch die Haltung des Iran wird von Bedeutung sein, denn er wird keine Aktivitäten an seiner Nordgrenze zulassen, aus denen ihm Gefahr erwachsen könnte. Bei all dem gilt es, eine Einmischung Israels, Saudi-Arabiens, Pakistans und anderer zu verhindern, denn das würde die Situation unendlich komplizierter gestalten. Die Underdogs der Weltpolitik müssen jetzt dafür sorgen, dass der Südkaukasus nicht zum erweiterten Schlachtfeld des Nahen Ostens wird.  •



1 siehe Eurasianet, 17.11.2021: «As Azerbaijan pushes advantage against Armenia, Russia’s role again under scrutiny», online unter https://eurasianet.org/as-azerbaijan-pushes-advantage-against-armenia-russias-role-again-under-scrutiny; Kucera, Joshua. Armenia and Azerbaijan in new border crisis, bei Eurasianet, 14.05.2021; European Parliament resolution on prisoners of war in the aftermath of the most recent conflict between Armenia and Azerbaijan (2021/2693(RSP)), European Parliament. 19.5.2021, online unter https://web.archive.org/web/20210526023348/https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/RC-9-2021-0277_EN.html; Emanuel Macron: «Azerbaijani armed forces have crossed into Armenian territory. They must withdraw immediately. I say again to the Armenian people: France stands with you in solidarity and will continue to do so», auf Twitter, 12.5.2021, online unter https://twitter.com/EmmanuelMacron/status/1392965873187659778; Presseerklärung des US-Department of State: Press Briefing – May 14, 2021, online unter https://www.state.gov/briefings/department-press-briefing-may-14-2021/. Vgl. Aze.media, 13.09.2022: Azerbaijan secures control of strategic heights, online unter https://aze.media/azerbaijan-secures-control-of-strategic-heights/
2 siehe Homepage des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums: https://mod.gov.az/en/news/armenian-armed-forces-committed-large-scale-provocations-in-dashkasan-kalbajar-and-lachin-directions-42330.html. Vgl. Aufruf an die internationale Gemeinschaft: zur aktuellen Lage in Armenien bei Pressenza, 20.09.2022, online unter https://www.pressenza.com/de/2022/09/aufruf-an-die-internationale-gemeinschaft-zur-aktuellen-lage-in-armenien/
3 siehe Wang, Philip; Kaufman, Ellie; Chernova, Anna; Subramaniam, Tara. «Russia claims ceasefire reached between Armenia and Azerbaijan after fighting erupts along border», CNN vom 13.9.2022, online unter https://edition.cnn.com/2022/09/13/middleeast/azerbaijan-armenia-artillery-strikes-intl-hnk/index.html und Reuters vom 13.9.2022: «Azerbaijan and Armenia ceasefire fails within minutes – media», https://www.reuters.com/world/azerbaijan-armenia-ceasefire-fails-within-minutes-media-2022-09-13/. Vgl. Мария Шустрова: Армения и Азербайджан договорились о перемирии, bei gazeta.ru, 15.09.2022, online unter https://www.gazeta.ru/army/2022/09/15/15454957.shtml
4 siehe AP News vom 15.9.2022: «Armenian security official says that Armenia and Azerbaijan have agreed on a cease-fire to end two days of fighting», online unter https://apnews.com/article/ap-news-alert-azerbaijan-armenia-19401191b9f5d7eac2ffa66c819fb292 und Demourian, Avet. «Armenia, Azerbaijan agree on cease-fire to end fighting», AP News vom 15.9.2022, online unter https://apnews.com/article/russia-ukraine-azerbaijan-armenia-government-and-politics-bbf809ad3d368fa9c5c497a2d79e22d6
5 siehe Daily Sabah vom 16.05.2022. «Azerbaijan-Armenia violence stabilized, Aliyev tells Putin», online unter https://www.dailysabah.com/politics/diplomacy/azerbaijan-armenia-violence-stabilized-aliyev-tells-putin
6 siehe Panorama vom 16.9.2022: «Armenian forces recaptured six positons, senior MP says», online unter https://www.panorama.am/en/news/2022/09/16/recapture-positons/2730914
7 siehe Homepage der aserbaidschanischen Präsidentschaftsadministration vom 16.6.2022. «Ilham Aliyev attended the opening of the IX Global Baku Forum», online unter https://president.az/en/articles/view/56442
8 vgl. Eurasianet vom 22.9.2022. «The rise and fall of Azerbaijan’s Goycha-Zangazur Republic», online unter https://eurasianet.org/the-rise-and-fall-of-azerbaijans-goycha-zangazur-republic
9 siehe David Nutt. «Report shows near-total erasure of Armenian heritage sites», Cornell Chronicle vom 12.9.2022, online unter https://news.cornell.edu/stories/2022/09/report-shows-near-total-erasure-armenian-heritage-sites
10 siehe «Dadivank», online unter http://www.raa.am/Dadivanq/Dadivanq_E_1.htm und Regnum. «В старинном монастыре Нагорного Карабаха обнаружены мощи одного из учеников Иисуса Христа», online unter https://regnum.ru/news/863083.html.
11 siehe sein Twitter-Eintrag (übersetzt aus dem Türkischen) unter https://twitter.com/Mustafa_Destici/status/1570379659476619265. Prompt lösten einige NGO Genozid-Alarm aus, u. a. Nat Hill am 23 September 2022. «Genocide Warning: Azerbaijan and Nagorno-Karabakh», genocidewatch online unter https://www.genocidewatch.com/single-post/genocide-warning-azerbaijan-and-nagorno-karabakh-september-2022
12 vgl. Hovhannes Gevorkian. «Der Gas-Deal mit Aserbaidschan ist eine politische Bankrotterklärung», Jacobin vom 30.9.2022, online unter https://jacobin.de/artikel/der-gas-deal-mit-aserbaidschan-ist-eine-politische-bankrotterklaerung-armenien-gaslieferung-eu-von-der-leyen-putin-alijew-Hovhannes-Gevorkian/
13 siehe Garden of the Rightious worldwide: EVERYTHING INDICATES THAT BRUSSELS IS READY TO SACRIFICE ARMENIA ON THE ALTAR OF ITS ENERGY INTERESTS, 28.9.2022, online unter https://en.gariwo.net/texts-and-contexts/genocide-prevention/everything-indicates-that-brussels-is-ready-to-sacrifice-armenia-on-the-altar-of-its-energy-interests-25339.html
14 siehe Reuters vom 18.9.2022. «Pelosi condemns Azerbaijan’s attacks on Armenia», online unter https://www.reuters.com/world/pelosi-condemns-illegal-attacks-by-azerbaijan-armenia-2022-09-18/ und Ashley Capoot. «Speaker Pelosi strongly condemns 'illegal and deadly attacks by Azerbaijan during visit to Armenia», CNBC vom 18.9.2022, online unter https://www.reuters.com/world/pelosi-condemns-illegal-attacks-by-azerbaijan-armenia-2022-09-18/

 

* Ralph Bosshard studierte Allgemeine Geschichte, osteuropäische Geschichte und Militärgeschichte, absolvierte die Militärische Führungsschule der ETH Zürich sowie die Generalstabsausbildung der Schweizer Armee. Im Anschluss daran folgte eine Sprachausbildung in Russisch an der Staatlichen Universität Moskau sowie eine Ausbildung an der Militärakademie des Generalstabs der russischen Armee. Mit der Lage in Osteuropa und Zentralasien ist er aus seiner sechsjährigen Tätigkeit bei der OSZE vertraut, in der er unter anderem als Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz tätig war.

1 Goris – 2 Artanish – 3 Sotk – 4 Jermuk – 5 Kapan – 6 Ishkhanasar – 7 Dashkasan 8 – Kalbajar – 9 Lachin – 10 Zangezur-Korridor entlang der armenisch-iranischen Grenze: Hier sollen Eisenbahn- und Strassenverbindungen zwischen der Türkei und Aserbaidschan einerseits und Armenien (Jerewan) via Aserbaidschan nach Russland andererseits gebaut werden. 
(Karte zf)

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