Ein Leben für Menschenrechte, Versöhnung und Frieden

Zum Buch «Niemals verzweifeln» von Gerhart Moritz Riegner

von Tobias Salander

Im vergangenen Jahr jährte sich zum 20. Mal der Todestag Gerhart Moritz Riegners, eines Zeitzeugens und Mitgestalters der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Als «Warner und Mahner» würdigte ihn damals die «Neue Zürcher Zeitung» in einem Nachruf (https://www.nzz.ch/article7TYCU-1.506318).
  Anlass genug, die Autobiographie mit dem Titel «Niemals verzweifeln – sechzig Jahre für das jüdische Volk und die Menschenrechte» zur Hand zu nehmen und einige schicksalhafte Ereignisse des 20. Jahrhunderts aus der Sicht des Zeitzeugen Revue passieren zu lassen. Riegner, vielfach ausgezeichnet und geehrt, unter anderem als Ehrendoktor der Universität Luzern, war über 60 Jahre lang für den Jüdischen Weltkongress (JWK) aktiv, lange Jahre als dessen Generalsekretär. Er war Verfasser des berühmt gewordenen «Riegner-Telegramms», welches 1942 die Westmächte über den Massenmord an den Juden in Europa informierte – leider ohne gross auf Gehör zu stossen. Nach dem Krieg engagierte er sich bei der Ausformulierung der Menschenrechtserklärung der Uno und den späteren Antidiskriminierungserklärungen. Wichtig war ihm auch die Verbesserung der Beziehungen des Judentums zu den christlichen Kirchen, wobei er unter anderem regen Anteil nahm an der Entstehung von «Nostra aetate», der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Haltung der katholischen Kirche zu den nicht-christlichen Religionen von 1965. Nicht zu vergessen sind seine bei aller Kritik doch auch würdigenden Worte für die Haltung der grossen Mehrheit der Schweizer Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, den Riegner in Genf überstand.

Gerhart Riegners Autobiographie ist eine Fundgrube für jeden an Geschichte und damit der eigenen Herkunft Interessierten. Aus der Fülle des Materials können hier nur einige wenige Punkte hervorgehoben werden, die aber geeignet sind, einen Beitrag zu einem differenzierteren Bild ausgewählter historischer Ereignisse zu leisten. Nebst niederschmetternden Abläufen schildert Riegner aber auch viel Aufbauendes und Hoffnungsvolles. Dass Zeitzeugen-Aussagen wie andere Geschichtsquellen immer mit der gebührenden quellenkritischen Vorsicht zu behandeln sind, versteht sich dabei von selbst.

Riegners frühe Einschätzung von Hitler durch «crazy rabbi» bestätigt

Im Jahre 1936 übernahm der 1911 in Berlin geborene Gerhart Moritz Riegner in Genf die Leitung des Büros des Jüdischen Weltkongresses (JWK). Dieser war im selben Jahr gegründet worden für den Kampf gegen Hitler und zum Schutz der jüdischen Minderheiten in Osteuropa. Zu dem Zeitpunkt hatte der 25jährige schwere Jahre hinter sich, ungleich viel schlimmere sollten noch folgen. Einer grossbürgerlichen, weltoffenen und hoch gebildeten jüdischen Berliner Familie entstammend, interessierte er sich früh für die politischen Belange der Weimarer Republik. Schon als Kind wurde er durch Beschimpfungen auf sein Jude-Sein aufmerksam, und wie so viele warf auch ihn der Antisemitismus auf seine Wurzeln zurück. Schon 1933 war dem jungen Jura-Studenten, der 1930 «aus Verzweiflung» Zionist geworden war, klar gewesen: Im Deutschen Reich unter der Herrschaft der Nationalsozialisten war jüdisches Leben in Frieden, Freiheit und Sicherheit nicht mehr möglich. Er kam nicht umhin, die Feigheit der deutschen Intellektuellen zu konstatieren, die er nie mehr vergessen konnte. Aber auch ein Grossteil seiner jüdischen Landsleute wollte seine Warnungen nicht hören und blieb – leider zu lange – in Deutschland. Bestärkt in ihrer das drohende Unheil verdrängenden Haltung wurden sie, so Riegner noch Jahrzehnte danach voller Konsternation, von einem US-Rabbiner, den jüdische Organisationen aus den USA nach Deutschland gesandt hatten, um dort gegen einen anderen US-Rabbi, Stephen Samuel Wise, Stellung zu nehmen und vor ihm zu warnen, denn er sei bekannt als «crazy rabbi». Was hatte aber Wise, der glühende Zionist, Ehrenpräsident des American Jewish Congress und spätere Mitgründer und erste Präsident des JWK angeblich so Abwegiges gesagt? Er hatte unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung zum Boykott von Nazi-Deutschland aufgerufen und gewarnt, was derzeit in Deutschland geschehe, könne sich morgen in jedem anderen Land ereignen, wenn man es nicht stoppe: «It is not the German Jews who are being attacked. It is the Jews». (https://www.worldjewishcongress.org/en/bio/rabbi-stephen-s-wise)
  Riegner bedauert, dass diese glasklare Einschätzung von Rabbi Wise aus dem Jahr 1933 von den eigenen Glaubensgenossen derart torpediert wurde. Wenn jüdische Organisationen in den USA versagt hätten, wie hätten dann die Massen den Ernst der Lage erkennen sollen?
  Riegners Flucht führte ihn zuerst nach Paris, dann nach Genf in die neutrale Schweiz. Und von hier aus setzte er sich die nächsten 60 Jahre mit all seinen Kräften für die Verteidigung und den Schutz nicht nur jüdischen Lebens weltweit ein. Er sah die Katastrophe auf die Juden und den Weltfrieden zukommen, konnte sie aber nicht aufhalten – wegen der moralischen Gleichgültigkeit und des politischen Opportunismus einer Grosszahl von Menschen, aber auch Staaten.

Das Riegner-Telegramm enthüllt die «Endlösung»

Am 29. Juli 1942 rief Benjamin Sagalowitz, Pressechef des Schweizerischen israelitischen Gemeindebundes in Zürich, bei Riegner in Genf an, er habe Informationen eines deutschen Grossindustriellen namens Eduard Schulte erhalten, wonach Hitler einen Massenmord an den Juden in Osteuropa plane – mit Blausäure. Beide benötigten einige Tage, diese Botschaft wirklich aufzunehmen. Natürlich wusste Riegner, dass Hitler am Jahrestag der Machtergreifung 1939 die Juden der Kriegshetze beschuldigt und prophezeit hatte, das werde zum Ende der Juden in Europa führen, und dies wiederholte er 1940, 1941 und 1942. Aber war das für bare Münze zu nehmen? Hatte man nicht auch «Mein Kampf» nicht ernstgenommen? Aber da waren die Verhaftungen und Deportationen von Juden in ganz Europa im Sommer 1942. Und man kannte das System der Konzentrationslager in Deutschland. All das liess die Warnung des deutschen Industriellen glaubhaft scheinen.
  Dass es nach dem Überfall auf die Sowjet-union zu grauenhaften Massakern an Juden gekommen war, wusste Riegner ebenfalls. Und Anfang 1942 hatte er von Tötungen durch Gas in Bussen erfahren. So vertraute sich Riegner Paul Guggenheim an, dem juristischen Berater des JWK und Schweizer Jura-Professor, mit dem Ziel, die USA und Grossbritannien zu informieren. In der Folge traf Riegner den Vizekonsul der USA in Genf. Er bat ihn, die US-Regierung in Kenntnis zu setzen, den Sachverhalt durch die Geheimdienste verifizieren zu lassen und den Präsidenten des JWK, besagten Stephen Samuel Wise, in Kenntnis zu setzen, einen persönlichen Freund von Präsident Roosevelt. Das zu übermittelnde Telegramm informierte über den Plan des «Führers», vier Millionen Juden in Osteuropa zu töten, und nannte als nicht verifizierte Quelle besagten deutschen Industriekapitän mit Beziehungen zur Nazi-Führung.
  Vom Vizekonsul in Genf ging das Telegramm an die US-Botschaft in Bern, von dort an das US-State Departement in Washington. Dasselbe veranlasste Riegner im britischen Konsulat. Mit der Bitte, das Telegramm an den britischen Führer des JWK zu senden, der dann Wise informieren solle. Dies in weiser Voraussicht, denn effektiv leitete das US-State Departement das Telegramm nicht an Wise weiter, mit der Begründung, es sei «unbegründeten Charakters»! Wise erhielt das Telegramm dann drei Wochen später, am 28. August 1942. Sofort informierte er Sumner Welles, den stellvertretenden US-Aussenminister, der aber nichts veröffentlichen wollte, bevor es nicht vom Vatikan und vom IKRK verifiziert war. Doch diese sahen sich ausserstande, die Warnung zu bestätigen. In Grossbritannien fragten sich die zuständigen Kreise, wer dieser Riegner sei, denn sie wollten seiner Warnung keinen Glauben schenken. Dabei, so Riegner, sei heute ja bekannt, dass der britische Geheimdienst 1941 den deutschen Funk-Code knacken und alles über die 1942 in Wannsee beschlossene «Endlösung» mithören konnte.
  Riegner war geschockt über die Langsamkeit der Reaktionen der Alliierten. So sammelte er weitere Informationen: Briefe aus Warschau über die täglichen Deportationen, Berichte aus Riga und den Bericht von Schweizer Ärzten, die an die Ostfront fuhren und deutsche Soldaten pflegten – gegen das ausdrückliche Verbot des Eidgenössischen Militärdepartements. Auch das IKRK bestätigte Riegner nun, von Deutschen solche Berichte gehört zu haben. Und der deutsche Industrielle, der als erster vom Plan der Endlösung berichtet hatte, bestätigte bei einem weiteren Besuch in der Schweiz, Hitler habe den Befehl zur Umsetzung erteilt, die laufe nun an. Alle diese Beweismittel übermittelte Riegner weiter an den Konsul der USA in Genf.
  Mitte Oktober 1942 wurde Riegner schliesslich in die US-Botschaft in Bern eingeladen; er erschien mit dem Vertreter der Jewish Agency und legte ein Memorandum vor mit Aussagen von Augenzeugen. Darin nannte er auch den Namen des deutschen Industriellen Eduard Schulte. Der Botschafter hielt alles für glaubwürdig, liess sich von einigen Zeugen eine eidesstattliche Erklärung geben und sandte das Konvolut in die USA, wo der stellvertretende Aussenminister Sumner Welles Stephen Wise gegenüber die Richtigkeit der Befürchtungen bestätigte. Der JWK dürfe nun an die Öffentlichkeit gehen. Das taten Wise und Nahum Goldmann, Mitbegründer des JWK und dessen Präsident von 1951 bis 1978, sofort, und die amerikanischen und britischen jüdischen Organisationen machten nun Druck auf ihre Regierungen, endlich zu handeln. Und so wandten sich schliesslich am 17. Dezember 1942 die Regierungen der USA, Grossbritanniens und der UdSSR gemeinsam mit zahlreichen europäischen Exilregierungen in einer in Washington, London und Moskau veröffentlichten gemeinsamen Erklärung gegen die nationalsozialistische Ausrottungspolitik gegenüber den europäischen Juden. Darin wurde über die Deportationen nach Osteuropa berichtet, aber auch über den Massenmord in Polen und das System der Zwangsarbeit. Die Verantwortlichen würden nach dem Krieg zur Rechenschaft gezogen.
  Doch die Erklärung entpuppte sich als blosses Lippenbekenntnis. Auf die konkreten Vorschläge der jüdischen Organisationen, wie die Juden zu retten seien, gaben die Alliierten zur Antwort, man müsse zuerst den Krieg gewinnen. Und die spätere Aufforderung, doch die Schienenwege nach Auschwitz und die Krematorien zu bombardieren, wurde zurückgewiesen mit dem fadenscheinigen Argument, die Bomber hätten nicht diese Reichweite – die Industrieanlagen der IG-Farben in Auschwitz-Monowitz allerdings, fünf Kilometer von Auschwitz entfernt, wurden von den alliierten Bombern ohne Probleme unter Beschuss genommen.
  Als Leser leidet man mit Riegner und den Opfern mit und ist bestürzt ob der Indolenz der Alliierten. Riegner stellt sich die Frage, warum man gescheitert sei, und sieht den Grund im weitverbreiteten Antisemitismus gerade auch bei den Alliierten. So nahmen die USA kaum Juden auf, ebensowenig die Briten, die ausserdem Palästina als Zufluchtsort abriegelten. Die US-Kriegsschiffe, die Material nach Grossbritannien transportierten, hätten auf der Rückfahrt ohne Probleme Zehntausende von jüdischen Flüchtlingen mitnehmen können. Auch der Freikauf der etwa 200 000 deutschen Juden, den Nahum Goldmann 1942 erwog, wurde von den Alliierten abgelehnt – zuerst müsse der Krieg gewonnen werden, tönte es gebetsmühlenartig aus London und Washington.
  Nebst dem Antisemitismus im US-State Departement und der moralischen Gleichgültigkeit der zivilen Bürokraten und hohen Militärs ortet Riegner als weitere Ursache für das Scheitern der Rettungsbemühungen die Monstrosität des Verbrechens, welches beispiellos war und schlicht jenseits des Vorstellbaren. Zudem habe es im Ersten Weltkrieg viele «fake news», wie man heute sagen würde, über angebliche deutsche Greueltaten gegeben, die dann nach dem Krieg aufgedeckt wurden. Kam hinzu, dass die Nazis die «Endlösung» absolut geheim durchführten, auch die Sprache anpassten, um den Sachverhalt zu verwischen.
  Und last but not least betont Riegner, dass die Juden damals kaum Einfluss auf die Politik hatten, ein Umstand, den man sich heute kaum mehr vorstellen könne angesichts der Stärke Israels und des Einflusses, welche die amerikanischen Juden auf die Politik hätten.
  Eine grosse Enttäuschung für Riegner war auch die Bermudakonferenz vom März 1943, wo sich Briten und US-Amerikaner trafen – unter Ausschluss der jüdischen Organisationen – und unter Geheimhaltung entschieden, nichts für die Juden zu unternehmen. Die Begründung? Zuerst müsse der Krieg gewonnen werden.
  Wen wundert es, dass der Gedanke, die Juden bräuchten nun einen eigenen Staat, unter den jüdischen Gruppierungen ab 1943 mehrheitsfähig wurde? David Ben Gurion hatte dies schon 1942 formuliert: Das Ziel der Juden in diesem Krieg müsse sein, einen eigenen Staat zu erlangen.

Zusammenarbeit von JWK und IKRK

Regen Kontakt bezüglich humanitärer Hilfe hatten Riegner und der JWK bereits während des Spanischen Bürgerkriegs zum Internationalen Komitee vom Roten Kreuz. Die leider erfolglosen Bemühungen des IKRK von 1934, die Genfer Abkommen um den Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten zu erweitern, wurden von Riegner und dem JWK nach dem Krieg erfolgreich unterstützt.
  Gegen Ende des Krieges gelang es Riegner, das IKRK, welches er auch einer massiven Kritik unterzieht, dazu zu bewegen, mit den Nazis Gespräche über die Lage der Lagerinsassen zu führen. Und effektiv gewährten die Nazis dem IKRK Zutritt zu allen Lagern bis zum Kriegsende. Das war ein wirksamer Schutz gegen den in den letzten Kriegsmonaten zu erwartenden Massenmord. Und am 21. April 1945 empfing Himmler, der auf einen Separatfrieden mit den Westmächten hoffte, gar den Gesandten des JWK Norbert Masur bei Berlin, ebenso Graf Folke Bernadotte, den Vizepräsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes. Es konnten so Hunderttausende gerettet werden, worüber, das streicht Riegner besonders hervor, in den Büchern über die Shoah nie geschrieben werde; ein Umstand, über den er sich wundere.

Die Schweiz rettete mehr Juden als die meisten anderen Länder

Es fällt bei Riegners Ausführungen wohltuend auf, dass er stets einen eigenen Standpunkt einnimmt, genährt von seiner Zeitgenossenschaft, zumeist fern jeder Schwarzweissmalerei oder ideologischer Engführung. So auch, wenn er sich der Rolle seines langjährigen Gast- und Zufluchtslandes Schweiz zuwendet.
  So gibt Riegner bei aller scharfer Kritik am Verhalten der Behörden der Schweiz zu bedenken, dass die geostrategische Lage der Eidgenossenschaft bei der Beurteilung ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg nicht aussen vor gelassen werden darf. Ab 1940 sei die Schweiz fast gänzlich von den Achsenmächten eingekreist gewesen, es mussten also Rohstoffe und Nahrungsmittel importiert werden, dabei war man auf den Goodwill der Nazis angewiesen. Das sei eine sehr gefährliche Situation gewesen, er selbst habe mit gepacktem Rucksack gelebt, um jederzeit in die Schweizer Alpen fliehen zu können. Er nahm als Zeitzeuge die militärische Bedrohung anders als gewisse Historiker, die im nachhinein urteilten, sehr ernst. Deshalb, so Riegner, sei der Schweiz gar nichts anderes übriggeblieben, als für die deutsche Wirtschaft zu arbeiten, ansonsten hätte es Massenarbeitslosigkeit, Unruhen und einen Zuwachs der Fröntler gegeben. Auch hier zeigt Riegner deutlich auf, wie schwierig es für die Schweiz war, dass sie keine andere Wahl hatte! Ständig habe man mit einem Einmarsch der Wehrmacht rechnen müssen.
  Wie viele Zeitgenossen stiess sich Riegner an der anpasserischen Rede von Bundesrat Pilet-Golaz, und wie viele empfand er die Rütli-Rede General Henri Guisans als wohltuendes Korrektiv. Und: Die grosse Masse der Schweizer habe sich ernsthaft verteidigen wollen. Es seien gewisse Politiker gewesen, die Zugeständnisse machten, welche die Bevölkerung abgelehnt hätte, hätte sie davon gewusst. Überhaupt lässt Riegner wenig auf die Schweizer Bevölkerung kommen. Allgemein habe man die Nazi-Propaganda nicht goutiert. Natürlich habe es Schweizer Nazi-Freunde gegeben, die Frontisten, auch in der französischen Schweiz. Aber sie hätten nie mehr als 10 Prozent der Bevölkerung ausgemacht. Und: Je näher die Menschen an der Grenze lebten, desto stärker die Ablehnung der deutschen Nationalsozialisten und der italienischen Faschisten! Was die Schweizer Presse betrifft, sei sie den Nazis ein Dorn im Auge gewesen.
  Bezüglich der offiziellen Schweizer Flüchtlingspolitik stimmt Riegner ganz mit dem Bonjour-Bericht überein, der diese als zu engherzig kritisierte; es wäre viel mehr möglich gewesen. Aber auch hier differenziert Riegner wohltuend, wenn er zwischen der offiziellen Politik und deren oft nicht konsequenten Durchsetzung unterscheidet.
  Insgesamt habe die Schweiz 28 500 Juden gerettet, mehr, und dies betont Riegner speziell, als die meisten anderen Länder! Dennoch hätte man dreimal so viele Juden retten können. Schliesslich habe man auch 100 000 Soldaten aufgenommen.
  Wie in allen anderen Ländern habe man auch in der Schweiz die Juden nicht haben wollen – selbst unter den Schweizer Juden sei eine Zeit lang eine Zurückhaltung zu spüren gewesen. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund sei zwar Mitglied des JWK gewesen. Doch deren Präsident sei während des Krieges auf Distanz zum JWK gegangen, auf Grund einer falsch verstandenen Neutralität der Schweiz. Und er habe eher auf der Seite der Regierung gestanden und deren restriktive Flüchtlingspolitik mitgetragen. Nach dem Krieg habe er sich Riegner gegenüber zu rechtfertigen versucht. Sein Nachfolger sei dann mutiger gewesen.
  Auch wenn Riegner in der damaligen Schweiz wie in den anderen Ländern einen tiefsitzenden Antisemitismus konstatiert, würdigt er doch den Widerstand in der Bevölkerung gegen die harte Umsetzung der Flüchtlingspolitik. Man unterschied ja im Krieg zwischen politischen und «Rassenflüchtlingen». Letztere hatten kein Asylrecht. Dennoch wurden bis 1942 nochmals 1200 Juden in der Schweiz aufgenommen, trotz allem, hält Riegner fest.
  Am 13. August 1942 wurde dann den sogenannten «Rassenflüchtlingen» das Asyl verweigert. Mindestens 30 000 bis 40 000 Juden wurden abgewiesen, in die Hände der Gestapo. Man wusste, dass man sie in den sicheren Tod schickte. Doch dann kam es zum Aufstand von links bis rechts gegen diese harten Massnahmen, was Riegner zutiefst beeindruckte. Auch Kirchen kritisierten die Regierung. Die Interventionen bewirkten eine Lockerung der Bestimmungen. Kinder bis zum 16. Lebensjahr wurden nun ohne Beschränkung aufgenommen, auch deren Eltern. Auch über 65jährige, Kranke und Schwangere. Und nach dem Sturz Mussolinis öffnete die Schweiz ihre Tore weit für die italienischen jüdischen Flüchtlinge!
  Riegner erteilt der Schweiz, und dies vor dem Bergier-Bericht, für die Aufarbeitung der Geschichte gute Noten. So habe der Ludwig-Bericht die Flüchtlingspolitik gut aufgearbeitet, auch die neunbändige Geschichte der Schweizer Neutralität von Edgar Bonjour und die Studie von Jean-Claude Favez «Das Internationale Rote Kreuz und das Dritte Reich» hätten die Geschichte offen und ehrlich dargestellt und zur Revision des Flüchtlingsrechts geführt.
  Und schliesslich habe der damalige Bundespräsident Kaspar Villiger 1995 eingestanden, dass man Schuld gegenüber den Juden auf sich geladen habe. Und der St. Gallener Polizeipräsident Paul Grüninger sei ja ebenfalls 1995 rehabilitiert worden. Er hatte Hunderte österreichischer jüdischer Flüchtlinge nach dem «Anschluss» in die Schweiz einreisen lassen.

Riegners Einsatz für die Menschenrechte

Eine Frage, die nicht nur Riegner umtrieb, war jene, wie Massenmorde dieses Ausmasses künftig zu verhindern seien. Im Ringen um die Beantwortung der Frage nach der Prävention von Völkermord traf sich der Jüdische Weltkongress 1944 in Atlantic City, New Jersey. Thema war einmal mehr die Rettung der europäischen Juden. Die Delegierten verlangten ausserdem für die Zukunft die Verabschiedung einer Menschenrechts-Erklärung, die Gleichberechtigung aller Bürger in jedem Land, den Schutz der Minderheiten und dass der Antisemitismus künftig strafrechtlich zu verfolgen sei. Des weiteren wurden die Verhaftung der Täter seit 1933, Restitutionen und eine kollektive Wiedergutmachung verlangt. Zudem die Errichtung einer sicheren Heimstätte für das jüdische Volk im britischen Mandatsgebiet Palästina.
  Riegner und der JWK setzten sich nun auch mit ganzer Kraft für die Formulierung der Menschenrechte und der Charta der Vereinten Nationen ein. Er weist auf die zehn Gebote und die Achtung vor dem anderen Menschen hin, die als jüdische Wurzeln der Menschenrechte gelten könnten. Generell könne man sagen, dass die Geschichte der Juden der Neuzeit die Geschichte des Kampfes um die Menschenrechte sei. Auch wenn viele Länder den Menschenrechten gegenüber zurückhaltend gewesen seien, da sie diese als Einmischung in die inneren Angelegenheiten empfanden, habe sich der JWK explizit dafür eingesetzt, dass man bei deren Verletzung von seiten der Völkergemeinschaft eingreifen könne. Mindestens fünf Artikel der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Uno trügen den Stempel des JWK, so Artikel 26 mit dem Recht jedes Menschen auf Bildung und auf Schulbesuch, Artikel 30, der festhält, dass man nicht gegen die Erklärung handeln dürfe, und Artikel 29, der festschreibt, dass nicht gegen die Grundsätze der Uno gehandelt werden dürfe. Auch Artikel 14 zum Asylrecht, Artikel 7 über das Diskriminierungsverbot und Artikel 11 zum Verbot von rückwirkenden Gesetzen seien vom JWK zugespitzt worden. Mit der Überführung der nicht verbindlichen Erklärung in die beiden Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über kulturelle, soziale und wirtschaftliche Rechte im Jahr 1966 sei es gelungen, Naturrecht in positives Recht zu verwandeln.
  Nachdem es 1959 weltweit eine Welle von antisemitischen Schmierereien gegeben habe, seien Riegner und der JWK aktiv geworden, und 1963 wurde die Antidiskriminierungserklärung auf Grund der Rasse/Ethnie verabschiedet, 1965 die Konvention.
  Länger ging es bei der Antidiskriminierungserklärung auf Grund der Religion oder der Überzeugung. Im Jahre 1981 gelang hier dem JWC unter Riegner die Verabschiedung zusammen mit dem Vatikan, dem es um die Christen in Osteuropa ging.
  Und es war Riegners Verdienst, dass in der Charta von Paris von 1990 für ein neues Europa Paragraph 4 den Rassismus und Antisemitismus verurteilte.
  Dass der Schutz der Menschenrechte ab den späten neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts auch als Vorwand missbraucht wurde, völkerrechtswidrige Angriffskriege zur Durchsetzung eigener Machtinteressen zu führen, wird in seinem 1998 erstmals auf Französisch erschienenen Buch nicht mehr thematisiert. Und auch, was das Verhältnis zwischen Israel und den Palästinenser betrifft, hätte man gerne noch mehr erfahren. Er äusserte sich in seinem Buch lediglich dahingehend, dass die Amtszeit von Premierminister Benjamin Netanyahu der Sache Israels und des Judentums weltweit geschadet habe.

Riegners Beitrag zur christlich-jüdischen Versöhnung

Bei der Suche nach den Gründen für das Verbrechen der Shoah muss man auch das Verhältnis von Christentum und Judentum unter die Lupe nehmen. Auch wenn die nazifreundlichen «Deutschen Christen», die rassistisch, antisemitisch und am Führerprinzip ausgerichtet waren, den Juden Jesus kurzerhand und dummdreist zum Arier erklärten, so waren und blieben die Nationalsozialisten klar gegen die Grundprinzipien des Christentums eingestellt, und ihr Rassenwahn widersprach diametral der christlichen Auffassung, wonach alle Menschen als Ebenbild Gottes einer grossen Familie angehören. Dennoch konnte ihr biologistischer Rassenantisemitismus bei jahrhundertealten antijudaistischen Ressentiments der christlichen Denominationen anknüpfen. Beginnend mit spät verfassten, die Polemik zwischen den sich trennenden Gruppen der Christen und des rabbinischen Judentums widerspiegelnden Stellen im Neuen Testament, dann bei den Kirchenvätern des dritten und vierten Jahrhunderts, beim heiligen Thomas von Aquin und ungezählten Konzilien: Die Verächtlichmachung und Herabwürdigung der Juden zog sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Christentums. Immer wieder gab es Versuche, das Verhältnis der Christen zu den Juden auf einen neuen Boden zu stellen, doch erst das ernsthafte und vertiefte Nachdenken über die Shoah brachte einen entscheidenden Durchbruch. Riegner war massgeblich beteiligt an den Versuchen der katholischen Kirche und des Weltkirchenrats, einem ökumenischen Zusammenschluss von Hunderten von protestantischen, reformierten, anglikanischen und orthodoxen Kirchen, ihr Verhältnis zum Judentum neu zu definieren. Dass er dabei die Rivalitäten der verschiedenen christlichen Richtungen auszunutzen wusste, gesteht er freimütig ein. Insbesondere beim epochalen Bruch der katholischen Kirche mit ihrer zweitausendjährigen Tradition der «Lehre der Verachtung» (Jules Isaac) der Juden war Riegner mit Lobbying im Hintergrund dabei. Beginnend mit der Konzils-Erklärung «Nostra aetate» von 1965, besonders deren Kapitel 4 zum Verhältnis zum Judentum, begann eine Annäherung der katholischen Kirche an das Judentum. Nicht länger wurden Juden als Gottesmörder, Verstockte und Blinde, von Gott Verworfene und mit der Diaspora Bestrafte tituliert, denen Gott den alten Bund aufgekündigt habe. In mehreren Dokumenten bis in unsere heutige Zeit wurden die Juden von den Katholiken als «bevorzugte und ältere Brüder», so Papst Johannes Paul II., und «Väter im Glauben», so Papst Benedikt XVI., als Verehrer ein und desselben Gottes Israels bezeichnet. Schliesslich wurde damit auch der Weg frei gemacht für die Anerkennung des Staates Israel durch den Vatikan im Jahre 1993, da die Katholiken die Juden nun nicht mehr als in der Diaspora verharren Müssende betrachteten, da der Vorwurf des Gottesmordes wie erwähnt schon 1965 mit «Nostra aetate» verworfen worden war. Riegner hatte bei dieser Annäherung eine wesentliche Rolle gespielt und wurde denn auch zur feierlichen Beurkundung offiziell eingeladen. Riegner, der 2001 verstarb, hatte noch die Bitte um Verzeihung von Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000 in Rom und Israel miterleben dürfen, auch eine erste Reaktion liberaler jüdischer Vertreter auf «Nostra aetate», ebenfalls im Jahr 2000; doch diese Erklärung war von jüdisch-orthodoxen Kreisen noch scharf kritisiert worden. Riegner erlebte nicht mehr, dass sich ab 2011, fast fünfzig Jahre nach der Konzilserklärung «Nostra aetate», auch orthodoxe jüdische Gruppen dem Dialog und damit der Versöhnung mit dem Vatikan zuwandten, indem sie betonten, dass trotz aller unüberbrückbaren Gegensätze bezüglich Jesus die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen seien: der Einsatz für Frieden und soziale Gerechtigkeit. Riegner hätte seine helle Freude daran gehabt, war ihm doch diese Versöhnung der Menschen verschiedenen Glaubens ein Herzensanliegen.
  Es lohnt sich, das Buch selber zur Hand zu nehmen und sich auf eine Tour d’Horizon durch das 20. Jahrhundert zu begeben, mit all seinen Katastrophen, aber auch mit all seinen geglückten Begegnungen von Menschen unterschiedlichster Provenienz mit dem grossen Ziel, mehr Mitmenschlichkeit zu erreichen.  •

Literatur:

Riegner, Gerhart. Niemals verzweifeln: sechzig Jahre für das jüdische Volk und die Menschenrechte; aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn. Gerlingen 2001
www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_19651028_nostra-aetate_ge.html
https://icjs.org/dabru-emet-text/

http://www.imdialog.org/dokumente/jeru_rom_wortlaut.pdf

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