Deutschland 2023 – woran wir uns erinnern sollten

von Karl-Jürgen Müller

Leider kann der folgende Text den Deutschen für das Jahr 2023 keine Hoffnung auf eine bessere deutsche Politik machen. Blickt man auf den Eid, den alle Regierungsmitglieder bei Amtsantritt leisten mussten – «Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.» –, so ist die seit Dezember 2021 amtierende deutsche Bundesregierung in vielerlei Hinsicht ein Totalausfall. Dieser Totalausfall betrifft nicht nur die deutsche Aussenpolitik, auch in der Innenpolitik alarmiert der zunehmend autoritär auftretende deutsche Staat. Und das nicht minder autoritäre Auftreten deutscher Politiker sowie der tonangebenden politischen Vorfeldorganisation in der Gesellschaft – einschliesslich der deutschen Medien. Nähme man die Gegenüberstellung von Demokratien und Autokratien wirklich ernst, so könnte Deutschland nicht mehr den Demokratien zugerechnet werden.

Der Hang deutscher Machthaber zum Autoritären hin
und deutscher Untertanengeist

Für Deutschland ist dies nichts prinzipiell Neues. Der Hang der Machthaber des Landes hin zum Autoritären zieht sich wie ein roter Faden durch die deutsche Geschichte, insbesondere in Zeiten politischer, wirtschaftlicher und/oder gesellschaftlicher Krisen. Vor 56 Jahren – Anlass waren die von der damaligen Bundesregierung geplanten Grundgesetzänderungen durch die Notstandsgesetze – erschien das damals viel Aufsehen erregende Buch «Wohin treibt die Bundesrepublik?» des deutschen Philosophen Karl Jaspers – der beileibe kein Extremist war.
    Dieses Buch ist auch heute wieder lesenswert, sieht man sich doch in zahlreichen Punkten wie in die Gegenwart versetzt. Hier seien zur Veranschaulichung nur zwei Kapitelüberschriften zitiert: «Der Strukturwandel der Bundesrepublik: Von der Demokratie zur Parteienoligarchie» und «Der drohende zweite Schritt: Von der Parteienoligarchie zur Diktatur».1 

Eine Textpassage lautet:

«Aus dem Jahrhunderte währenden Obrigkeitsstaat sind, ohne helles Bewusstsein, Gesinnungen geblieben, die heute noch mächtig sind: Respekt vor der Regierung als solcher, wie und woher sie auch sei, – Bedürfnis nach Verehrung des Staates in Gestalt repräsentativer Politiker als Ersatz für Kaiser und König, – die Gefühle der Untertanen gegenüber der Obrigkeit in allen ihren Gestalten bis zum letzten Amt am Schalter der staatlichen Büros, – Bereitschaft zum blinden Gehorsam, – das Vertrauen, die Regierung werde es schon recht machen. Die Untertanen denken: Wir brauchen uns um die Regierung nicht zu kümmern; sie sorgt für unseren Wohlstand und für unsere Sicherheit in der Welt; sie gibt uns unseren Stolz, einem mächtigen Staat anzugehören, gerechte und wirksame Forderungen gegenüber dem Ausland haben zu dürfen. Für Untertanen haben die faktisch Regierenden einen Glanz. Mögen sie sich noch so toll gebärden, sie sind kraft ihres Amtes gleichsam geheiligt, und sie selber fühlen sich so. Sie dürfen sich alles erlauben, untereinander in persönlichen Feindschaften liegen, denen sie das Staatsinteresse opfern, intrigieren und ihre Niedrigkeit noch in politischen Reden zeigen. Immer noch bleiben sie Gegenstand der Verehrung. Kurz: Staatsgesinnung ist bei uns vielfach noch Untertanengeist, nicht demokratische Gesinnung des freien Bürgers. Zwar schimpft der Untertan, wo es für ihn ohne Gefahr ist und folgenlos bleibt, aber er gehorcht und hat Respekt und handelt nicht.» (S. 146)

«Abwertung des freien Geistes»

Eine andere Textstelle bei Jaspers lautet:

«Auf eine kommende Diktatur weisen die Ansätze zur Abwertung des freien Geistes. Es ist die Frage, ob Erziehung, Unterricht, Forschung, geistiges Leben heute überhaupt schon erlahmen, die Initiative überall geringer wird. Es herrschen Konventionen, die den Mangel an Schöpferkraft verbergen. Man kommt in seinen Positionen voran nicht so sehr durch Geistigkeit und Ethos als durch Beziehungen […]. Man ruft nach Persönlichkeiten und tut alles, dass sie nicht entstehen und zur Geltung kommen können. Daher die Lahmheit und Schwunglosigkeit des Lebens, dessen vitale Energien einerseits in die blosse Arbeit gehen oder in die Leere des Redens, Forderns, Scheltens, Beschwichtigens verpuffen. […] Die so entstehenden Menschenmassen sind vorgeformt für diktatorische Herrschaft, ja, drängen zu ihr. […] Die Tendenz, eine Zensur auszuüben im Interesse der autoritären Herrschaft, nimmt zu.» (S. 153)

Damals war der Widerstand gegen solche Entwicklungen allerdings solider, entschlossener und breiter als heute. Das war nicht in erster Linie die damalige antiautoritäre (Studenten-)Bewegung, die ihrerseits autoritär und auch gewalttätig war, sondern die Bürgerschaft insgesamt: Die bis 1969 den Bundeskanzler stellende CDU wurde von der Regierungsmacht abgelöst, der SPD-Politiker Willy Brandt wurde Bundeskanzler, und eines seiner Hauptversprechen in seiner ersten Regierungserklärung war: «Wir wollen mehr Demokratie wagen.» – auch wenn dies tatsächlich nur bedingt umgesetzt wurde und Willy Brandt schon 1974 zurücktreten musste.

Der neue deutsche «Liberalismus»
gebärdet sich höchst autoritär

Der heutige autoritäre deutsche Staat – und das unterscheidet ihn von seinen Vorläufern – ist dadurch gekennzeichnet, dass er sich einerseits höchst libertär gibt und eine Art von Liberalismus predigt und praktiziert, der alle traditionsfeindlichen gesellschaftlichen Gruppen fördert und bevorzugt. Andererseits aber geht er mit Härte gegen diejenigen vor, die diese Art von Liberalismus in Frage stellen. Ganz zu schweigen von den Medien und gesellschaftlichen Pressure-groups (heute sagt man Nichtregierungsorganisationenoder kurz und angelsächsisch: NGOs), die lautstark und einflussreich soziale Ausgrenzung betreiben.
    So häufen sich die Einschränkungen von Freiheitsrechten, insbesondere der Meinungsfreiheit. Hierüber wurde schon viel gesagt und geschrieben. Der Hinweis auf das 2022 erschienene Buch von Hannes Hofbauer, «Zensur. Publikationsverbote im Spiegel der Geschichte. Vom kirchlichen Index zur YouTube-Löschung», mag an dieser Stelle genügen (vgl. auch die Buchbesprechung in Zeit-Fragen Nr. 14 vom 28.6.2022). Seit dem 24. Februar 2022 – nach Abfassung des Buches von Hannes Hofbauer – haben sich die Einschränkungen der Meinungsfreiheit weiter verschärft.
    Am 7. Dezember 2022 veröffentlichte der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) die Ergebnisse einer Umfrage unter rund 27 000 Bürgern der neuen Bundesländer.2 48 % der Befragten sagten, sie hätten Angst, ihre eigene Meinung zu äussern. Besonders stark ist diese Angst bei Äusserungen in Sozialen Medien. Hier sind es 70 %, die dies angaben. 78 % der Befragten sagten, man müsse bei bestimmten Themen in Deutschland vorsichtig sein, wie man sich äussert. Schliesslich: Für 59 % der Befragten ist es um die Meinungsfreiheit in Deutschland schlecht bestellt. Solche Umfrageergebnisse haben einen realen Hintergrund.

Erinnerung an die
Bedeutung der Meinungsfreiheit

Erinnert werden soll hier aber auch an die grundlegende Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Freiheit insgesamt, für den Rechtsstaat und für die Demokratie.
    Bis heute wichtig dafür ist eine Passage aus Immanuel Kants Preisschrift «Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?» aus dem Jahr 1784 – fünf Jahre vor der dann doch gewalttätigen Französischen Revolution:

«Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism[us] und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden, ebensowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen grossen Haufens dienen. [Zur] Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heissen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.» (Hervorhebung km)

Schon zu Beginn seiner Schrift hatte Kant in seiner bekannten Diktion «Aufklärung» wie folgt definiert:

«Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.»

«Von seiner Vernunft in allen
Stücken öffentlich Gebrauch machen»

Dieser Sicht, «von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen», folgten alle, die sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts weitgehend gewaltlos für eine freiheitliche und rechtsstaatliche Demokratie in Deutschland einsetzten, folgten auch die Verfassungsentwürfe und die Verfassungen der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland. Die Studenten auf dem Wartburgfest 1817 forderten mit ihrem 31. Grundsatz: «Das Recht, in freier Rede und Schrift seine Meinung über öffentliche Angelegenheiten zu äussern, ist ein unveräusserliches Recht jedes Staatsbürgers.» Auch das Hambacher Fest 1832, ein weiterer Markstein der deutschen Freiheits- und Demokratiebewegung, forderte Presse- und Meinungsfreiheit. Und nicht anders war es bei den Märzforderungen der Revolutionäre von 1848. In Artikel 4 der am 21. Dezember 1848 verabschiedeten Grundrechte des deutschen Volkes hiess es: «Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äussern.»
    Im 19. Jahrhundert waren die Machthaber in Deutschland noch nicht bereit, diesen Forderungen nachzukommen. Erst in der Verfassung der Weimarer Republik gewann die Meinungsfreiheit Rechtskraft. «Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äussern. An diesem Recht darf ihn kein Arbeits- und Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.» So hiess es in Artikel 118 der Verfassung. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 1949 hat an seine Vorläufer angeknüpft. Sein Artikel 5 bestimmt: «Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äussern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.» Weitergehend als die Vorläuferformulierungen wurde damit aber nicht nur die Meinungs-äusserungsfreiheit garantiert, sondern auch die Informationsfreiheit – eine äusserst wichtige Ergänzung; denn Meinungsbildung ohne Informationsfreiheit ist ein zweischneidiges Schwert. Wem der Zugang zu umfassender Information verwehrt ist, ist viel anfälliger für Manipulationen aller Art.

«Das Grundrecht auf freie Meinungsäusserung
ist eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt»

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat seit seinem grundlegenden Urteil aus dem Jahre 1958 im Fall Lüth3 immer wieder zur individuellen Meinungsfreiheit Stellung genommen und mit seinen Urteilen in der Regel zugunsten dieses Grundrechts geurteilt. Es formulierte Sätze wie: «Das Grundrecht auf freie Meinungsäusserung ist als unmittelbarer Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt. Die Meinungsfreiheit ist für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend, denn sie ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist. Sie ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt.» (BVerfGE 7, 198) Aber auch: «Eine Meinungs-äusserung ist jede Stellungnahme, jedes Dafürhalten, jedes Meinen im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung. Auf den Wert, die Richtigkeit oder die Vernünftigkeit der Äusserung kommt es nicht an.» (BVerfGE 61, 1)
    Zurecht hat auch die Meinungsfreiheit Schranken. Artikel 5 nennt die «Vorschriften der allgemeinen Gesetze», die «gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend» und das «Recht der persönlichen Ehre». Wer wegen der Formulierung «Vorschriften der allgemeinen Gesetze» nun aber denkt, der Gesetzgeber könne mit einfachen Gesetzen die Meinungsfreiheit nach Belieben aushebeln, der irrt. «Allgemeine Gesetze» sind nämlich nur «solche, die nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äusserung einer Meinung als solche richten, die vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsgutes dienen, dem Schutze eines Gemeinschaftswertes, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit Vorrang hat.»4 Was das konkret bedeutet, müssen die Gerichte im Einzelfall entscheiden. Sicher aber ist, dass sich diese Schranke nicht «gegen die Äusserung einer Meinung als solche» richten darf – so wie es in Deutschland mittlerweile praktiziert wird, wenn eine Meinungsäusserung politisch «stört» und staatlicherseits sowie von den Medien und Pressur-Groups als «Verschwörungsideologie», «russische Propaganda» oder gar «verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates» auf den Index gesetzt werden soll. – Während die widerrechtliche, Hass und Angst erzeugende Volksverhetzung, die zum Alltag in deutschen Medien geworden ist, bislang ganz ungeschoren davonkommt.

 



Wissenschaftler wie Hans Herbert von Arnim und Karl Albrecht Schachtschneider haben ein paar Jahrzehnte später ähnlich analysiert.
https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/umfrage-meinungsfreiheit-100.html  vom 7.12.2022
vgl. Stamm, Katja. «Das Bundesverfassungsgericht und die Meinungsfreiheit»; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 37-38/2001, Seite 16ff.; https://www.bpb.de/medien/26034/4U777R.pdf 
4 https://www.juracademy.de/grundrechte/kommunikationsgrundrechte-rechtfertigung-eingriff.html

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