Viele Deutsche denken anders als die Machteliten

Westeliten reagieren mit Bürgerbeschimpfung, vor allem gegen Ostdeutsche

von Karl-Jürgen Müller

Nach 2019 hat die der deutschen SPD nahestehende Friedrich-Ebert-Stiftung im April 2023 ein zweites Mal eine umfangreiche Studie (84 Seiten, https://www.fes.de/studie-vertrauen-in-demokratie mit der Möglichkeit zum Download) zur Demokratie in Deutschland veröffentlicht. Der Titel der Studie lautet: «Demokratievertrauen in Krisenzeiten». Grundlage dafür waren zahlreiche Umfrageergebnisse. Die Autoren der Studie versuchen zwar, die Umfrageergebnisse zu beschönigen und unliebsame Meinungen der Bürger mit Etiketten wie «Sehnsucht nach Einfachheit» oder «Verschwörungsdenken» zu versehen. So soll zum Beispiel der starke Wunsch nach Volksentscheiden Ausdruck einer solchen «Sehnsucht nach Einfachheit» sein. Oder die Aussage, die westliche Welt habe sich «gegen Russland und Putin verschworen, um die eigene Macht auszubauen», «Verschwörungsdenken». Und mit 55,9 % der Befragten favorisieren die «Verschwörungsgläubigen» auch noch, «die Bürger in regelmässigen Volksentscheiden» abstimmen zu lassen – viel mehr als die «Nicht-Verschwörungsgläubigen», von denen nur 20,8 % regelmässige Volksentscheide wünschen. Trotzdem lohnt sich ein gründlicher Blick auf die Umfrageergebnisse. Erneut wird deutlich: Der Unterschied zwischen veröffentlichter (Machteliten-)Meinung und öffentlicher Meinung der Bürger ist gross, sehr gross. Vor allem im Osten Deutschlands. Hier können nur ein paar wenige Ergebnisse wiedergegeben werden.

Die Studie basiert auf einer Telefon- und Onlinebefragung von wahlberechtigten Deutschen ab 18 Jahren. Die repräsentative Zufallsstichprobe umfasst 2536 Befragte (1658 Telefoninterviews und 878 Online-Interviews). Der Erhebungszeitraum lag vom 11. Juli bis 9. August 2022. Durchgeführt wurde die Befragung vom Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap.

Wenig Optimismus für die Zukunft

41,6 % der Befragten gaben an, dass man den meisten Menschen eher nicht oder gar nicht vertrauen kann. 84 % sagten, den künftigen Generationen in Deutschland würde es etwas (48,9 %) oder sogar wesentlich schlechter (35,1 %) gehen. Weiter hinten in der Studie ist zudem zu erfahren, dass 75,3 % der Befragten der Aussage, der Zusammenhalt in der Gesellschaft sei zurückgegangen, eher oder voll und ganz zustimmen.
  Wie nehmen die Deutschen die politischen und sozialen Verhältnisse wahr, in denen sie leben, so dass so viele ein eher schlechtes Menschenbild haben, so viele den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet sehen und so viele nicht mehr optimistisch in die Zukunft kommender Generationen blicken?
  Die fünf am meisten genannten Sorgen der Befragten sind die Klimaentwicklung (80,1 % grosse oder sehr grosse Sorgen), Hass und Feindseligkeit (80 % grosse oder sehr grosse Sorgen), Krieg (76,3 % grosse oder sehr grosse Sorgen), der Verlust sozialer Sicherheit (73,5 % grosse oder sehr grosse Sorgen) und die Inflation (73,3 % grosse oder sehr grosse Sorgen).

Nicht zufrieden damit, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert

Die Mehrheit der Befragten (51,3 %) ist weniger oder überhaupt nicht zufrieden mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert. Diese Unzufriedenheit zeigt sich am stärksten in der Unterschicht, hier sind es 67,2 % der Befragten, und im Osten des Landes, hier sind es 66 %. Für mehr als die Mehrheit der Befragten (50,5 %) hat sich der Zustand der Demokratie in Deutschland in den letzten Jahren eher oder sogar deutlich verschlechtert. Der Aussage, dass es jenseits von Wahlen nicht genügend Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger gibt, stimmen 68,2 % der Befragten eher oder voll und ganz zu. 50,9 % stimmen der Aussage eher oder voll und ganz zu, es mache keinen Unterschied mehr, ob SPD, Grüne, FDP oder CDU/CSU an der Regierung sind.
  Für nur noch 24,5 % der Befragten ist die repräsentative Demokratie das beste Regierungsmodell, 33,4 % favorisieren eine Herrschaft von Experten («Expertokratie»), 41,1 % eine direkte Demokratie. Auch hier ist es die Unterschicht, die sich am meisten von einer direkten Demokratie verspricht (mehr als 50 %). Dies erstaunt nicht, sind doch die Angehörigen der Unterschicht die grössten Verlierer der bisherigen Politik und bislang praktisch ohne Einfluss auf die sie betreffenden politischen Entscheidungen.
  Für die Parteien und ihre Anhänger zeigt sich folgendes Bild: Anhänger der Grünen favorisieren mit mehr als 40 % die «Expertokratie» gegenüber der repräsentativen Demokratie (nur 35,9 %), und die Werte für direkte Demokratie liegen hier am niedrigsten: bei nur 22,6 %. In der Skepsis gegenüber direkter Demokratie folgen die Anhänger von FDP und SPD denjenigen der Grünen stärker als die Anhänger anderer Parteien im Deutschen Bundestag. Und die Anhänger der FDP bevorzugen mit 45,4 % sogar noch mehr als diejenigen der Grünen eine «Expertokratie» gegenüber der repräsentativen Demokratie (nur 23,3 %). So viel zum Thema Vertrauen der Anhänger der Ampelkoalition in die Bürger und in die Demokratie.

Mehrheit hat kein Vertrauen in wichtige Institutionen

Sieht man vom Bundesverfassungsgericht ab, so hat die Mehrheit der Befragten heute wenig oder gar kein Vertrauen mehr in wichtige politische Institutionen, seien es nun die Bundesregierung (57,6 %), der Bundestag (57,7 %), die Europäische Kommission (68,5 %), die Gewerkschaften (52,4 %) oder die Arbeitgeberverbände (64,9 %). Auch bei den Medien ist bei der Mehrheit der Befragten das Vertrauen weg. 58,2 % haben wenig oder gar kein Vertrauen mehr in die öffentlich-rechtlichen Medien, bei den privaten Medien wie Fernsehen oder Zeitungen sind es sogar 68,3 %.
  Wird konkret nach den Problemen der deutschen Demokratie gefragt, so gibt es die meisten Nennungen bei der Aussage «Zentrale Wahlversprechen werden oft nicht umgesetzt». Dies halten 81,7 % der Befragten für ein grosses oder sehr grosses Problem.

Bürgerbeschimpfung: «Verschwörungsglauben»

Das, was die Studie als «Verschwörungsglauben» bezeichnet, wurde überzogen und deshalb manipulativ in fünf Aussagen formuliert: «die westliche Welt hat sich gegen Russland und Putin verschworen, um die eigene Macht auszubauen», «die herrschenden Eliten verfolgen das Ziel, das deutsche Volk durch Einwanderer auszutauschen», «die Regierung hat die Bevölkerung in der Corona-Krise in Angst versetzt, um massive Grundrechtseinschränkungen durchzusetzen», «das Coronavirus ist eine Biowaffe, die absichtlich entwickelt wurde, um Menschen zu schaden» und «Wissenschaftler übertreiben die Risiken des Klimawandels mit Absicht, um mehr Geld und Anerkennung für ihre Forschung zu erhalten». So ist es auch nicht erstaunlich, dass eine Mehrheit der Befragten diesen Aussagen eher nicht oder überhaupt nicht zustimmt. Indes: Der Anteil derjenigen Befragten, die eher oder voll und ganz zustimmen, liegt immerhin zwischen 18,1 und 36,3 %.
  Die Aussage, «die westliche Welt habe sich gegen Russland und Putin verschworen, um die eigene Macht auszubauen», wird je nach Parteipräferenz sehr unterschiedlich beurteilt. Die Zustimmungswerte bei den Anhängern der Grünen sind – wenig überraschend – am niedrigsten, sie liegen bei nur 11,9 %. Das sieht bei den Anhängern anderer Parteien im Deutschen Bundestag anders aus: 36,7 % der FDP-Wähler, 57,1 % der AfD-Wähler, 34,2 % der Linken-Wähler und 34,9 % der Anhänger «Freier Wähler» finden, dass an dieser Aussage zum Westen und dessen Verhältnis zu Russland etwas dran ist. Und auch bei den Nichtwählern sind es 35,6 %. Am meisten stimmen die Befragten aus Ostdeutschland dieser Aussage eher oder voll und ganz zu: 44,8 %.

Die Bürgerbeschimpfung richtet sich vor allem gegen Ostdeutsche

Nach dem 17. Juni 1953, als ein Volksaufstand in der DDR gewaltsam niedergeschlagen wurde, dichtete der in der DDR lebende Bertolt Brecht sein bekannt gewordenes Gedicht:

Die Lösung

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Liess der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, dass das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?

So charakterisierte Brecht vor fast 70 Jahren eine Haltung von Machteliten, die wir heute – wenn es um die Menschen in Ostdeutschland geht – in neuer Farbe wiedererleben. Vor ein paar Wochen machte es kurze Zeit Schlagzeilen, als herauskam, dass der Vorstandsvorsitzende des Axel-Springer Verlages, Mathias Döpfner, über die Ostdeutschen geäussert hatte: «Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Von Kaiser Wilhelm zu Hitler zu Honecker, ohne zwischendurch US-Reeducation genossen zu haben.» Döpfner musste sich entschuldigen – blieb aber Vorstandsvorsitzender eines der grössten deutschen Medienkonzerne. Der Vorstandsvorsitzende des Axel-Springer-Verlages ist kein Einzelfall. In einem im Februar 2023 erschienenen Buch, «Der Osten: eine westdeutsche Erfindung», hat der Leipziger Professor für Neuere deutsche Literatur Dirk Oschmann pointiert zusammengetragen: Nach wie vor besetzen Westdeutsche fast alle Führungspositionen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in West- und in Ostdeutschland. Besonders perfid dabei: Die Schuld hieran wird den Ostdeutschen selbst gegeben. Westdeutsche Eliten gehen nun schon mehr als 30 Jahre seit dem 3. Oktober 1990 herabsetzend und entwürdigend mit Ostdeutschen um. Jene versuchen, ihnen eine ostdeutsche «Identität» aufzuzwingen, die mit der Wirklichkeit nur wenig zu tun hat. Auf die Ostdeutschen werden Etiketten wie Populismus, mangelndes Demokratieverständnis, Rassismus und Verschwörungsmythen geklebt. Der Westen definiere sich über 30 Jahre nach dem Mauerfall noch immer als Norm und den Osten als Abweichung.
  In der Tat: Wenn das, was die westdeutschen Machteliten wollen und tun, die «Norm» sein soll, dann weichen sehr viele Ostdeutsche davon ab. Gottseidank, kann ich nur sagen.  •

Das richtige und das falsche Andere

«Zwar zählt es zum liberalen, weltoffenen Selbstverständnis der meisten Westdeutschen, das Fremde und Andere zu feiern, in die ganze Welt zu reisen und ferne Kulturen zu bewundern, Divergenz, Differenz und Alterität als besonders wertvoll zu markieren. Doch es muss das richtige Andere sein, nicht das falsche Andere, das der Osten verkörpert, vor dem man sich fürchtet, das man ausgrenzt, belächelt, verhöhnt und kleinmacht. Diesem falschen Anderen gegenüber herrscht Nulltoleranz. Auf diese Weise macht der Westen den Osten zum Fremden im eigenen Land.»

aus: Oschmann, Dirk. Der Osten: eine westdeutsche Erfindung; Berlin 2023, S. 134f.

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