«Wir verlieren unsere Jugend»

Menschen im syrischen Aleppo leiden unter dem Krieg, den Sanktionen und den Folgen des Erdbebens

von Karin Leukefeld, Bonn und Damaskus

Mehr als 8000 Menschen haben bei dem grossen Erdbeben Anfang Februar in Aleppo, Idlib, Hama und entlang der Mittelmeerküste zwischen Latakia und Tartus ihr Leben verloren. 45 000 Familien, 225 000 Personen wurden obdachlos. In Aleppo-Stadt stürzten nach offiziellen Angaben 54 Häuser komplett zusammen. Die meisten waren bereits durch den Krieg erheblich beschädigt worden. In einem Haus im Stadtteil Aziziyeh wurden elf Ärzte und ihre Familien aus dem Leben gerissen.
  Nach offiziellen Angaben konnten in Aleppo und Latakia jeweils 16 Häuser wieder repariert werden, so dass Familien zurückkehren konnten. Die Hilfsbereitschaft ist gross, wer viel hat, gab viel, wer wenig hat, gab weniger. Kleider und Hygieneartikel wurden gespendet, manche kochten, andere gaben Lebensmittel. Die Industriekammer von Aleppo sammelte Spenden, mit denen 9000 Familien – etwa 49 000 Personen – mit genügend Geld versorgt wurden, um für 1,5 Jahre eine neue Wohnung mieten zu können. Syrische Geschäftsleute im Ausland spendeten für Milchpulver, das bis heute vor dem Büro im Zentrum der Stadt an Hilfsbedürftige kostenlos verteilt wird. Syrische Industrielle in Ägypten schickten Dialyse-Geräte für die Krankenhäuser. Doch noch immer ist die Not gross, und nicht alle Betroffenen haben eine neue Unterkunft finden können.

Die Al Beyrouni-Schule

Am westlichen Stadtrand von Aleppo liegt die Al Beyrouni-Schule. Die Grundschule gehört zu einem Neubauviertel, das seit mehr als zehn Jahren auf seine Fertigstellung wartet. Die massiven, aus Kalkstein errichteten Mehrfamilienhäuser haben das schwere Erdbeben Anfang Februar überstanden, doch wegen des Krieges, einseitiger wirtschaftlicher Strafmassnahmen (Sanktionen) der Europäischen Union und der USA und wegen der schweren Wirtschaftskrise sind viele der Häuser noch im Rohbau.
  Die Kinder der Familien, die bereits vor dem Krieg dort eingezogen waren, besuchten die Al Beyrouni-Grundschule. Seit dem Erdbeben aber leben dort Familien, die ihre Wohnungen verloren haben. «Die meisten der obdachlos Gewordenen konnten inzwischen bei Verwandten oder in anderen Wohnungen untergebracht werden», sagt Abdul Nasser M., ein freiwilliger Helfer in der Einrichtung. «Heute wohnen hier noch 49 Familien, insgesamt 293 Personen. Von ihnen sind 76 Kinder, die älter als 12 Jahre sind.» Die Familien seien aus zehn anderen Schulen zu ihnen in die Beyrouni-Schule gekommen, weil für sie bisher noch keine neue Bleibe gefunden werden konnte. Für die Kinder gebe es täglichen Schulunterricht, der u. a. von Unicef unterstützt werde. Die syrische Organisation Amal (Hoffnung) versorge die Menschen medizinisch und habe auch die Container im Hof aufgestellt. Ein Container hat Duschen und Toiletten für Männer, ein zweiter Container Duschen und Toiletten für Frauen. Ein dritter, etwas kleinerer Container ist für Menschen mit Behinderungen vorgesehen.

Medizinische und psychosoziale Hilfe

Täglich kämen auch Psychologen in die Schule, um betroffene Kinder und Erwachsene psychisch und sozial zu versorgen. «Alle Menschen haben den Krieg durchlebt, dann gab es Covid-19 und nun das Erdbeben», sagt der ernste junge Mann, der eine Brille und einen Vollbart trägt. «Die Menschen sind von alledem völlig überfordert.» Er und seine Kolleginnen und Kollegen arbeiteten und spielten mit den Kindern und seien Ansprechpartner für alle Fragen.
  Der 26jährige Abdul Nasser und sein Kollege Mohammed N. tragen dunkelblaue Westen mit den Buchstaben C.C.S. auf dem Rücken. Darüber ist ein Lorbeerkranz mit zwei Kindern in der Mitte zu sehen. C.C.S. stehe für «Syrische Gesellschaft für die Gesundheit von krebskranken Kindern», erklärt Abdul Nasser. Die Hilfsorganisation sei 2012 gegründet worden und habe heute Niederlassungen im ganzen Land.
  Dann stellt er Mozna Olabi vor, eine schmale, jugendlich wirkende Frau. Mozna Olabi ist Gründerin und Leiterin der Hilfsorganisation. Sie ist eine resolute Frau mit kräftiger Stimme. Sie trägt einen langen Mantel und hat das Kopftuch eng umgebunden. Vor dem Krieg habe sie Modedesign in London studiert, erzählt sie und lacht. Dann sei sie nach Aleppo zurückgekehrt und habe geholfen. Aus der Hilfe sei C.C.S. entstanden. «Wir erhalten Spenden von syrischen Stiftungen und Hilfsorganisationen», erklärt sie. Die Organisation dürfe auch Spenden aus dem Ausland annehmen. «Wir stellen Anträge an die UN-Organisationen», die oft, aber nicht immer bewilligt würden. Auch der Norwegische Flüchtlingsrat helfe. «Ich habe nie daran gezweifelt, dass wir den Krieg gewinnen würden», sagt sie. «Aber die Zerstörung ist einfach zu gross. Die gut ausgebildeten Menschen haben wir verloren, nun noch das Erdbeben.» Sie frage sich oft, wie Syrien das alles überwinden könne. Auf die Frage, wie das Ausland helfen könne, sagt sie nach einer kurzen Pause: «Lassen Sie uns einfach in Ruhe. Dann finden wir schon einen Weg.» «In Ruhe lassen» bedeutet auch die Aufhebung der Sanktionen und des Wirtschaftskrieges gegen Syrien. Das aber sagt Frau Olabi nicht.
  Auf ihrem Handy blättert Frau Olabi Bilder vom vergangenen Eid-Fest auf, dem Fest zum Ende des Fastenmonats Ramadan, das man auch Zuckerfest nennt. «Hier haben wir mit Kindern in Hasakeh gefeiert», sagt sie fröhlich. Es sei ein doppeltes Fest gewesen, weil zwei der Kinder, die an Krebs erkrankt waren, als gesund entlassen wurden.
  Im Flur vor dem Besprechungszimmer wird es laut. Musik erschallt, Kinder rufen laut durcheinander. «Wir haben einen kleinen Wettbewerb für die Kinder vorbereitet», sagt Frau Olabi. Auf dem Schulhof haben sich viele Kinder und weitere Freiwillige von C.C.S. versammelt. Sie führen Tänze auf. Dann müssen die Kinder zu Musik verschiedene Übungen nachmachen, die von einer C.C.S.-Mitarbeiterin vorgeführt werden. Am Ende der Veranstaltung werden kleine Geschenke verteilt, und die Freude der Kinder zaubert selbst den Eltern, die dem Spektakel von der Schultreppe her zusehen, ein Lächeln auf ihre ernsten Gesichter.
  Frau Olabi verabschiedet sich zum nächsten Termin, es bleibt Zeit, noch einige Sätze mit Abdul Nasser zu wechseln. Für ihn und seine Freunde sei es selbstverständlich zu helfen, sagt er. Erst im Krieg, jetzt nach dem Erdbeben. «Aber wir haben unser eigenes Leben verloren. Unsere Kindheit haben wir an den Krieg verloren. Nun leben wir in einer Wirtschaftskrise und verlieren unsere Jugend.» Er studiere Jura, aber ob er jemals ein «normales Leben» haben werde, wisse er nicht. «Ich helfe den krebskranken Kindern und jetzt diesen Familien, die mit dem Erdbeben alles verloren haben. Aber wenn ich mit den krebskranken Kindern arbeite, mit ihnen lerne und spiele und sie mich dann anstrahlen und sich freuen, vergesse ich alles andere.»  •

Erstveröffentlichung: Lëtzebuerger Vollek vom 29.4.2023

«Aus Gegnern werden Partner»

Syrien wieder in Arabischer Liga

von Karin Leukefeld, Damaskus

Nach zwölf Jahren wird Syrien in die Arabische Liga zurückkehren. Das beschlossen die Aussenminister der 22 Mitgliedsstaaten des Bündnisses am Sonntag [7. Mai 2023] in Kairo. Die Mitgliedschaft Syriens war 2011 auf Eis gelegt worden, als Proteste in einen bewaffneten Konflikt und Stellvertreterkrieg zwischen regionalen und internationalen Akteuren auf syrischem Territorium umgeschlagen waren. Nun wird Damaskus wieder in die «arabische Gemeinschaft» aufgenommen, und das ist eine gute Nachricht.
  Seit 2017 versuchen arabische Staaten, die Beziehungen mit dem Land zu normalisieren. Der syrische Präsident Assad hatte mit Unterstützung der Verbündeten Russland und dem Iran sowie der libanesischen Hizbullah seine Position stabilisiert. Libanon, Jordanien, Irak und nacheinander weitere arabische Golfstaaten nahmen ihre Beziehungen wieder auf oder suchten nach Wegen, die Rückkehr syrischer Flüchtlinge zu ermöglichen und Handelsbeziehungen zu etablieren. Viele Menschen hätten Arbeit gefunden, Häuser hätten repariert werden und Vertriebene zurückkehren können.
  Doch die Annäherung kam nicht voran, weil die EU und die USA sich weigerten, im Rahmen der Uno ein Rückkehrprogramm zu finanzieren. Statt dessen legten sie einen eisernen Ring von «einseitigen wirtschaftlichen Strafmassnahmen» (Sanktionen) um Syrien, der auch Staaten und Unternehmen bedrohte, die ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit Syrien wiederaufnehmen wollten. Die heutige stellvertretende Verteidigungsministerin für den Nahen Osten im US-Pentagon, Dana Stroul – damals noch beim neokonservativen Washington Institute for Near East Policy –, gab die Richtung vor, und die EU folgte: Die USA «haben» die wichtigsten Ressourcen in einem Drittel des Landes (Nordosten), sagte Stroul, «der Rest von Syrien liegt in Trümmern». Assad müsse isoliert werden, Wirtschaftssanktionen blieben aufrechterhalten. In Kooperation mit der EU habe man die internationalen Finanzinstitutionen in der Hand und könne verhindern, dass Wiederaufbauhilfe und technische Expertise nach Syrien gelangten. Die EU – ganz vorneweg Deutschland – machte alles mit.
  Die Folgen des Erdbebens vom 6. Februar 2023 im türkisch-syrischen Grenzgebiet wirkten schliesslich wie ein Dammbruch. Der Hilfe aus den arabischen Staaten folgten Treffen von Diplomaten und Aussenministern. Anfang März vermittelte China die Annäherung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, die ihre diplomatischen Beziehungen wiederherstellten. Aus Gegnern werden Partner.
  Die USA und die EU haben alles Vertrauen in der Region verspielt. Die ungebrochene Unterstützung Israels, der Druck auf souveräne Staaten, die einseitige westliche Sanktionspolitik, Bevormundung und Arroganz – es reicht. Mit Russland und China gibt es Grossmächte, die politische, militärische und Handelsbeziehungen auf Augenhöhe wollen und die nationalen Interessen und die Souveränität anderer respektieren. Der Wind hat sich gedreht.

Erstveröffentlichung: https://www.jungewelt.de/artikel/450097.gegner-zu-partnern.html vom 8.5.2023

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