Mehr Mut zum Anderssein!

Gedanken zum neuen Buch von Paul Widmer «Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr»

von Erika Vögeli

Die Schweiz, daran lässt Paul Widmer keinen Zweifel, ist ein Sonderfall, sie ist anders als andere Staaten, sie durchlief eine Sonderentwicklung – und wurde seit ihren Anfängen und bis heute auch von aussen so wahrgenommen.
  Der Autor – Historiker, ehemaliger Botschafter und Dozent – zeigt dies historisch fundiert aus breiter Kenntnis von Geschichte und Literatur, aber in einer Form, die den Leser sozusagen auf einen kurzweiligen Spaziergang durch die Jahrhunderte mitnimmt. Wer das Buch nach der Lektüre beiseitelegt, ist froh, dass der Autor sein Vorhaben, trotz seiner Skepsis hinsichtlich möglicher Reaktionen auf «noch ein Essay zur Schweiz» in die Tat umgesetzt hat. Natürlich wurde zur Schweiz schon vieles gesagt – aber die Stimme Paul Widmers ist in ihrer Art besonders, denn er verbindet einmal mehr, und vielleicht noch etwas pointierter als sonst, eine ethische Grundhaltung zur Machtfrage mit seinem breiten historischen, politischen und philosophischen Hintergrund.
  Es sind sechs Aspekte, die Paul Widmer aufgreift, um die Sonderentwicklung der Schweiz, ihr Anderssein zu erläutern: die Schweiz als Modell, hinsichtlich ihres Namens, als Begriff, Nation, als Staat und bezüglich ihrer Neutralität.

Die Provokation
 des eigenständigen Weges

Als Modell ist die Schweiz «eine eigenwillige Zeugin für alternative Möglichkeiten staatlicher Existenz» (S. 11), deren «Eigenständigkeit provoziert» (S. 12). Es ist faszinierend, wie Paul Widmer den abwertenden Aussagen über den angeblichen Mythos Schweiz anhand unterschiedlichster Aussenwahrnehmung eine Absage erteilt: Seit ihrer Entstehung und über alle Jahrhunderte der Existenz der Eidgenossenschaft haben sich Philosophen, Politiker, Historiker, Dichter und Denker zu diesem Gebilde geäussert, Befürworter und Gegner. Was sie trotz gegensätzlicher Beurteilung eint, ist die Feststellung, mit welcher Zähigkeit die Schweiz ihre Unabhängigkeit, ein Mehr an Freiheit, ein Weniger an Untertänigkeit verteidigt und festgehalten hat. Wo die einen, etwa Hegel, die Volkssouveränität als «wüste Vorstellung» abtaten, andere sie als «Anomalie» titulierten oder nicht viel von den Schweizern hielten, da sie «von Natur übermütig, den Fürsten feind, aufrührerisch und schon seit langer Zeit ungehorsam gegen die Herren» seien, waren andere beeindruckt von der demokratischen Gesellschaft und den Freiheiten, die sie sich bewahrte. Die Grössen der Aufklärung – Voltaire, Diderot, Montesquieu, Rousseau – sie alle zollten ihr Respekt. Sie taten das ohne schwärmerische Übertreibung und nicht für Pomp oder äussere Grösse, sondern eben gerade für ihr Anderssein: für das Mehr an Freiheit, das Mehr an Einschränkung von Machtstrukturen. Dafür, dass sie eben gerade kein Herrscherstaat war, sondern eine von unten gewachsene Alternative, zusammengehalten vom Willen zur Freiheit. «Gewiss», schreibt Widmer, «wer das Grosse, wer das Mächtige und Elitäre vergöttert, den muss die Schweiz enttäuschen.» (S. 14) Umgekehrt könnte man schliessen: Wer hingegen mehr hält vom Mut zum Anderssein, wer sich lieber im Dienst der Bevölkerung, des Gemeinwohls betätigt – den dürften abwertende Dummheiten und mangelnder Glorienschein kaum beeindrucken.

Namen – nicht gerade das Wichtigste

Auch mit ihrer Namensgebung fällt die Schweiz sozusagen aus dem Rahmen: Kein Land manifestiere eine derartige Uneinheitlichkeit seiner Namensgebung wie die Schweiz – obwohl «die» Schweiz (bitte mit Artikel!) weltweit durchaus ein Begriff ist, lautet ihr offizieller Landesname ja Schweizerische Eidgenossenschaft bzw. Conféderation suisse, Confederazione Svizzera oder Confederaziun svizra. «Für so viele Buchstaben hat man freilich nicht überall Platz. Daher schuf man 1848 als sprachneutralen Kompromiss überdies die lateinische Bezeichnung ‹Confoederatio Helvetica›». Helvetien, die historische Bezeichnung aus der Römerzeit abgeleitet aus dem Namen des Volksstammes der Helvetier, war durch Napoleons Diktat zu belastet, findet sich aber dann doch als Landesbezeichnung für Briefmarken, die nicht etwa mit Schweiz, Suisse, Svizzera, Svizra, sondern mit Helvetia firmieren.
  Demokratie, Föderalismus und die Bedeutung der Mehrsprachigkeit machten sich auch hier geltend. Nicht zentralistische Machtdemonstration, Durchsetzen von Äusserlichkeiten, standen im Vordergrund, sondern der Erhalt des Gemeinsamen: «Hauptsache» resümiert Widmer, «der Staat leistet, wofür er geschaffen wurde: Sicherheit und Wohlstand für seine Bürger.» (S. 38) Oder noch pointierter: «Namen sind Schall und Rauch. Etwas für verknöcherte Wesen, etwas für solche, die ihre erlahmende Kraft mit Patentschutz absichern wollen.» (S. 38)

Freiheit verlangt Eigenverantwortung

In seinen Ausführungen zum Begriff Schweiz – der «bestimmte Vorstellungen evoziert», mit dem man ein bestimmtes Gedankengut verbinde (S. 47) – befasst Widmer sich etwas eingehender mit dem Begriff der Eidgenossenschaft: Er setzt damit einen Kontrapunkt zu dekonstruktivistischen geschichtlichen Darstellungen, wonach die Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft ein Mythos sei. Die Begriffsgeschichte zeige, dass der Begriff der Eidgenossenschaft – ein Kollektivsingular, wie Widmer darlegt – schon um 1370 existiert haben müsse. Ein solcher Kollektivsingular entstehe nicht kurzfristig, sondern erst nach der Entstehung dessen, was damit bezeichnet werde. Und er verweist auch hier auf das Besondere, das auch mit dem Begriff erfasst wird. «Was sich um 1300 in der Urschweiz abspielte, war höchst erstaunlich. In ganz Europa bauten Fürsten ihre Landesherrschaft aus und bildeten von oben herab dynastische Staaten. In der Urschweiz jedoch geschah gerade das Gegenteil. Bauern taten sich zusammen, um ihre Freiheiten zu verteidigen. Das waren nicht individuelle Freiheiten, sondern kollektive, als Gemeinschaft erworbene Privilegien.» (S. 51) Die Gemeinschaft spielte dabei eine entscheidende Rolle, denn «mit dem Eid huldigte man nicht wie anderswo einem adligen Herrscher. Er galt der eigenen Gemeinschaft.» (S. 52) Ein Umstand, der allerdings auch die Eigenverantwortung jedes Einzelnen bedeutete: Das Schicksal in die eigenen Hände nehmen verlangt auch die selbstverantwortliche Mitbeteiligung jedes Einzelnen. Anstelle von Unterordnung «muss im genossenschaftlich-kommunalen Staat notwendig das Prinzip der Einordnung, der allgemeine Wille zur Mitverantwortung treten», zitiert Widmer an dieser Stelle Adolf Gasser. (S. 53) Lassen dieser Wille zur Selbstverantwortung und die Bereitschaft zur aktiven Beteiligung nach, so die ebenso unmissverständliche Mahnung Paul Widmers, zahlen wir in anderer Währung, denn: «wo der Bürger abdankt, breitet sich der Bürokrat aus – und um ein Stück Freiheit ist es geschehen.» (S. 113)

Die Schweiz –
 die Willensnation als Kontrapunkt

Auch als Nation – Widmer definiert sie als grössere Menschengruppe, die sich durch Gemeinsamkeiten untereinander verbunden fühlt und von anderen unterscheidet – ist die Schweiz eine provokante Alternative. Paul Widmer bezeichnet sie als Nation ‹avant la lettre›, sie entstand als Nation, bevor diese Bezeichnung eingeführt wurde: «Lange bevor der Begriff ‹Nation› als Bindeglied zwischen Staat und Volk aufkam, hat sie sich durch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl als Nation konstituiert. Avant la lettre. Aber ihr einigendes Element ist nicht die Sprache, sondern der Wille zur Freiheit» (S. 60) – der Wille zur Wahrung des eigenständigen Weges, zusammengehalten vom «Wunsch, sich selbst in Freiheit zu regieren» (S. 61). Die Schweiz musste und müsse dem Bürger daher mehr Freiheit und Selbstbestimmung bieten, was sie im Vergleich zu umgebenden Monarchien, aber auch dank direktdemokratischer Rechte und föderalistischer Strukturen gewährleisten konnte. Allerdings schliesst er die Warnung an: «Sollte die Schweiz eines Tages dieses Plus an Freiheit verlieren, dürfte es um ihre Existenzberechtigung als Nation schlecht bestellt sein.» (S. 61) Die Schweiz –, so zitiert er Max Huber, «der grosse Völkerrechtler und langjährige Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK)», – sei eine politische Nation, sie beruhe weder auf gemeinsamer Sprache noch Ethnie, «sondern auf gemeinsamen Erfahrungen und dem Willen, Gegenwart und Zukunft gemeinsam zu meistern». (S. 62) Eine Willensnation eben. Oder unter Hinweis auf den Franzosen Ernest Renan «un plébiscite de tous les jours» – ein täglicher Volksentscheid. «Dass die Schweiz als Willensnation überlebte», – auch darauf verweist Widmer unter Bezug auf ältere und neuere Geschichte – «ist alles andere als selbstverständlich.» Immer wieder von aussen und innen bedroht, sei ihre Existenz mehrmals an einem dünnen Faden gehangen. Widmer erwähnt verschiedene kritische Herausforderungen auf dem Weg zum heutigen Bundesstaat. Aber klar ist für ihn: «Jene Juristen, die die moderne Schweiz vorwiegend aus dem Geist der Französischen Revolution erklären, liegen nicht richtig, und jene Historiker, die vor allem die Diskontinuität zwischen der Bundesverfassung von 1848 und der Alten Eidgenossenschaft hervorheben, auch nicht. Die Schweiz verdankt ihren nationalen Zusammenhalt einer Mischung aus aufklärerischem Gedankengut und alteidgenössischem Freiheitsverständnis.» (S. 68)

Staat ja – aber bitte nicht zu viel

Sehr zu bedenken sind auch Widmers Ausführungen zur Schweiz als Staat – man könnte auch sagen, zum Verhältnis von Herrn und Frau Schweizer zu ihrem Staat: Sie «weisen in ihrer Einstellung zum Staat im Allgemeinen eine eigentümliche Mischung von Patriotismus und Nüchternheit auf. Sie lieben ihr Land, aber nicht unbedingt den Staat.» (S. 79) Der Staat im Sinne der Ordnungsmacht gilt eher als «notwendiges Übel» (S. 73). Seit ihrer Entstehung werde jede Machtkonzentration mit Argwohn und Skepsis beobachtet und wenn immer möglich vermieden. So teilte man die Macht einerseits vertikal zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden, stets darauf bedacht, einen möglichst grossen Spielraum auf der unteren, dem Bürger direkter zugänglichen Ebene zu bewahren und nur in den übergeordneten Kanton bzw. Bund zu delegieren, was auf der unteren Ebene nicht gelöst werden konnte. Zudem teilte man mit der Entstehung des Bundesstaats die Gewalt auf der politischen Ebene auch horizontal in die bekannten Staatsgewalten der gesetzgebenden, der ausführenden und der rechtssprechenden. Damit aber nicht genug: Auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene amten die Regierungsgremien als Räte – nicht ein einzelner allein, der bestimmen kann, auch hier ist die Macht geteilt.
  Die schweizerische Form des Föderalismus ist dabei sicher zentraler Aspekt dieser Teilung der Macht, und Paul Widmer verweist auch hier auf die inneren historischen Zusammenhänge: Als Ordnungsprinzip sei der Föderalismus zwar relativ jung. «Alt hingegen ist die Gemeindeautonomie, die Selbstverwaltung im kleinen Gemeinwesen. Sie ist das Substrat, auf dem föderalistisches Gedankengut wächst.» (S. 78) Und darauf wuchs auch das, was die Schweizer «als das Wesen ihres Staates betrachten: ein Höchstmass an Freiheit und Unabhängigkeit. Darauf, auf die gelebte Demokratie, sind sie stolz.» Die Staatsgewalt hingegen rufe eher Unbehagen hervor. Diese Staatskepsis muss allerdings mit dem Bewusstsein der Eigenverantwortung zusammengedacht werden. Eigentlich sind wir alle der Staat. Oder waren wir es? Paul Widmer sieht auch hier Bedarf zum Nachdenken und Besinnen. «Das skeptische Staatsverständnis, das mit Eigenverantwortung staatlichen Aktivismus zu bremsen versucht, ist geschwächt, aber noch nicht erloschen.» (S. 82)

Überlegungen zur Neutralität

Auch die Neutralität sieht Widmer als «gefährdete Erfolgsgeschichte». Deren Bedeutung erhellt sich unter anderem im Auftrag der Tagsatzung an die Schweizer Delegierten für den Wiener Kongress 1815: Diese sollten die Neutralität der Schweiz sichern, die «Grundlage ihrer politischen Unabhängigkeit und ihrer militärischen Sicherheit» (zit. S. 86). Wie der Durchgang durch die seitherige Geschichte zeigt, wurde das Konzept der Neutralität immer wieder in Zweifel gezogen: von den Grossmächten, weil es ihnen im Wege steht, im Innern von jenen, die sich in der Ausübung eigener Macht eingeschränkt fühlen. Ja, die Neutralität «beschneidet den aussenpolitischen Spielraum der Regierung» (S. 15).
  Bei allen Schwierigkeiten hält Widmer fest, es sei «offensichtlich, dass die Neutralität als völkerrechtliches Mittel zur Wahrung nationaler Unabhängigkeit bei Konflikten zwischen Drittstaaten nicht an ihr Ende gekommen sei. Gerade das häufige Versagen der Weltorganisationen in der Konfliktlösung legitimiert die Neutralität immer wieder von neuem.» (S. 95) Kapital der Neutralität ist einzig «die Glaubwürdigkeit. Diese muss man im Frieden mit einer berechenbaren Politik erwerben, um sie im Krieg zu besitzen.» (S. 99) Dazu dienen allerdings weder der Beitritt zur Partnerschaft für den Frieden noch neuere Erwägungen, wie sie im Zusatzbericht zum Bericht des Bundesrates über sicherheitspolitische Fragen formuliert sind. Gemeinsame Übungen mit der Nato oder deren Recht, die Interoperabilität der Schweizer Armee zu überprüfen, sind keine vertrauensbildenden Massnahmen für die Schweizer Neutralität. «Am Schluss bliebe nur noch der Name übrig.»
  Den Propagandisten einer aktivistischen – parteiergreifenden – «Neutralitäts»politik hält Paul Widmer entgegen, dass die Schweiz von den anderen Staaten nicht mit einer richterlichen Rolle in der Weltpolitik betraut worden sei. Sie sollten vielmehr «vom hohen Sockel moralischer Überlegenheit herunterkommen» (S. 99). Und er erinnert daran, dass sich die Schweiz ihres grossen Privilegs, von kriegerischen Auseinandersetzungen verschont geblieben zu sein, durchaus bewusst war und ist. Seit jeher habe sie dieses Privileg durch besonderen Einsatz zu kompensieren gesucht: im Bereich des Völkerrechtes durch Unterstützung des IKRK, politisch durch die Guten Dienste und auf humanitärer Ebene durch grosszügige Hilfsmassnahmen in Katastrophen- oder Kriegssituationen.
  Paul Widmer sieht auch heute durchaus eine Möglichkeit, «die legitimen Interessen eines Kleinstaates mit den strategischen Friedenserfordernissen auch im 21. Jahrhundert in einer zuverlässigen Neutralitätspolitik zu versöhnen.»
  Dem Gemeinwohl, der Bevölkerung nicht nur im eigenen Land, wäre so am ehesten gedient, denn, so Widmer an anderer Stelle: «Seit Urzeiten hegen die Menschen den Wunsch, den Frieden mit klugen staatlichen Vorkehrungen zu sichern». (S. 23)

Anderssein – eine lebenswerte Perspektive

Es geht Paul Widmer nicht darum, die Schweiz herauszustreichen – Bescheidenheit liegt ihm näher. Eine Bescheidenheit allerdings, die auf einem gesunden Selbstverständnis gründet. Seine Schrift ruft in Erinnerung, dass wir selbst wissen müssen, was wir an unserer Demokratie, unserem Föderalismus, unserer Neutralität, unserer politischen Kultur haben. Anerkennung ist schön – wenn sie denn auf der Achtung der Eigenständigkeit des Gegenübers gründet. Aber wer nur darauf abstellt, von anderen anerkannt zu werden, dem mangelt es bei der ersten Widrigkeit des Lebens an innerem Halt und Standhaftigkeit.
  Widmers Essay ist ein unmissverständliches Plädoyer für die Schweiz, für deren Erhalt, aber auch eine deutliche Mahnung, dass wir das Erreichte nicht einfach haben, sondern bewahren müssen, wenn wir es behalten wollen. Die Schweiz existiert nicht einfach so: Wir müssen sie wollen, und wir müssen etwas dafür tun.
  Mehr Mut zum Anderssein, das heisst sich selbst bleiben, weniger Streben nach Angleichung und Applaus, mehr engagierter Bürgersinn – das schadet weder dem Einzelnen noch dem Gemeinwesen. Wir müssen mit dem, was wir an unserem Land haben, nicht missionarisch hausieren gehen. Aber im Bewusstsein, was die Schweiz im Laufe der Geschichte allein auf Grund ihres Bestehens bedeutet hat – ein Zusammenschluss von unten, in dem sich das Rechtsprinzip vor dem Machtprinzip hat behaupten können – im Wissen darum, warum diese unwirtlichen «Felsbrocken» (Voltaire) einen Platz in der Weltgeschichte erworben haben, ist Mut zum Anderssein eine mehr als lebenswerte Perspektive. Die Schweiz entbehrt zwar Äusserlichkeiten von auf Gewalt gründenden Grossmächten, aber sie existiert als unmissverständliche Botschaft: Eine Alternative ist möglich.  •

Paul Widmer (1949), alt Botschafter, Diplomat von 1977–2014, mit Posten u. a. in New York, Washington, Berlin, Zagreb und beim Heiligen Stuhl, Dozent für internationale Beziehungen an der Uni-St. Gallen (2011–2018), Gastkolumnist der NZZ am Sonntag (2016–2021). Autor mehrerer politischer und historischer Bücher, darunter Die Schweizer Gesandtschaft in Berlin (1997), Die Schweiz als Sonderfall (2007), Diplomatie. Ein Handbuch (2. Auflage 2018) und Bundesrat Arthur Hoffmann. Aufstieg und Fall (2017), alle bei NZZ Libro erschienen.

«Worin besteht denn die der Schweiz eigene Form der Sittlichkeit? Meines Erachtens gehören drei Elemente dazu: Erstens ein wacher Bürgersinn, der die Sorge für das Gemeinwohl mit einem starken Willen zur Eigenverantwortung koppelt, also der Pflege des Milizwesens. Zweitens die Konkordanz. Man will nicht den Durchmarsch einer Mehrheit, sondern den Einbezug möglichst vieler in die Staatsgeschäfte. Drittens der Wille zur Machtbeschränkung auf allen Ebenen. Letzter Zweck ist nicht die Apotheose des Staates, sondern die Freiheit des Bürgers. Schwindet dieser gemeinsame Fundus, ist das Schweiz-Modell von innen heraus gefährdet.» (S. 112f.)



«Entweder sind wir ein alternatives Modell und haben etwas zu bieten, das wir selbst vorleben und wofür wir notfalls auch bereit sind, einen Preis zu bezahlen. Oder wir haben nichts mehr zu bieten und gefallen uns darin, in den Mainstream einzutauchen. Das ist gewiss auch eine Existenzmöglichkeit. Aber auf Voltaires Frage, warum sich die halbe Welt für die Felsbrocken in den Alpen interessiere, gäbe es dann keine Antwort mehr. Das Plus an Freiheit, das die Schweiz stets auszeichnete, wäre gleich den gewaltigen Gletschern dahingeschmolzen. Das Land würde zwar dem Namen nach noch existieren, aber das wäre auch alles. Die Schweiz als Alternative hätte abgedankt.» (S. 115)

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