«In diesem Krieg geht es um Deutschland»

von Karl-Jürgen Müller

Am 7. Januar 2023 veröffentlichte die Schweizer Wochenzeitung Die Weltwoche ein Interview mit dem international bekannten französischen Anthropologen, Demographen und Historiker Emmanuel Todd. Das Interview hat den oben zitierten Titel. Es gibt eine Internetadresse, über die auch deutsche Leser an den Text gelangen können: https://weltwoche.ch/story/in-diesem-krieg-geht-es-um-deutschland/?postcomments. Dort gibt es den Text zwar nicht kostenfrei – aber ich kann die Lektüre nur sehr empfehlen.

Emmanuel Todd:
«Das Verhalten des Westens ist für mich ein einziges Rätsel»

Hier sollen ein paar ausführliche Zitate aus dem Interview – unkommentiert – am Anfang stehen.

«Alle Zeitungen schreiben: Der Westen ist normal, und Putin geisteskrank. Die Russen sind blutrünstige Monster. Die Demographie sagt etwas anderes: Russland ist stabiler und seine Gesellschaft zivilisierter geworden. Was in Russland passiert, ist mir völlig klar. Ich verstehe Putins Denken und Handeln und kann es in drei Minuten erklären. […] Das Verhalten des Westens ist für mich ein einziges Rätsel.»

Todd wird gefragt: «Wer ist für die Sabotage von Nord Stream verantwortlich?»

Seine Antwort: «Natürlich die Amerikaner. Aber das ist völlig unwichtig. Es ist normal. Wichtig ist die Frage: Wie kann eine Gesellschaft glauben, dass es die Russen gewesen sein könnten? Wir haben es hier mit einer Umkehrung der möglichen Realität zu tun. Das ist viel schlimmer. […] Meine Tätigkeit als Autor begann mit dem Essay über den Zusammenbruch der Sowjetunion. Ich will sie mit einem Werk der Vernunft über den dritten Weltkrieg abschliessen. Ich verweigere mich dem herrschenden Realitätsverlust, unter dem vor allem die Europäer leiden, und will versuchen, ihn zu verstehen. […] Die Europäer schwadronieren von Frieden und der Verbreitung ihrer humanistischen Werte ohne Armee. Das geopolitische Denken ist ihnen abhanden gekommen. Zwischen der offensiven Strategie der Amerikaner und der defensiven Strategie der Russen befinden sich die Europäer in einem atemberaubenden Zustand der geistigen Verwirrung. Das gilt ganz besonders für Deutschland.»

«Der Ausbau der Nato in Osteuropa war nicht in erster Linie gegen Russland
gerichtet, sondern gegen Deutschland»

«Die Finanzkrise von 2008 hat deutlich gemacht, dass Deutschland mit der Wiedervereinigung zur führenden Macht in Europa wurde und damit auch ein Rivale der USA. Bis 1989 war es politisch ein Zwerg. Nun liess Berlin seine Bereitschaft erkennen, sich mit den Russen einzulassen. Der Kampf gegen diese Annäherung wurde zu einer Priorität der amerikanischen Strategie. […] Der Ausbau der Nato in Osteuropa war nicht in erster Linie gegen Russland gerichtet, sondern gegen Deutschland. Deutschland, das seine Sicherheit Amerika anvertraut hatte, wurde zur Zielscheibe der Amerikaner.»
  «Der Westen hat Russland provoziert. Der amerikanische Politologe John Mearsheimer hat nüchtern festgehalten, dass die Zusammenarbeit der Briten und Amerikaner mit [der Armee der Ukraine] die Ukraine faktisch zum Nato-Mitglied machte. Sie wurde aufgerüstet, um Russland anzugreifen. Putins Angriff war eine defensive Invasion. Er hatte diese Reaktion angekündigt und mit Krieg gedroht. […] Mearsheimer argumentierte, dass die Ukraine für Russland von existentieller Wichtigkeit sei. Den Sieg Putins hielt er für eine Gewissheit. Er dachte aber auch, dass die USA die Ukraine aufgeben würden. In diesem zweiten Punkt irrte er sich. Dieser Krieg ist auch für sie von existentieller Wichtigkeit: Falls Russland gewinnt, bricht das imperiale System der Vereinigten Staaten zusammen. Ihre Verschuldung ist phänomenal. Zur Erhaltung ihres Wohlstands sind die USA auf den Tribut der anderen Länder angewiesen.»

Daraufhin wird Todd gefragt: «Aber plante die Ukraine wirklich einen Angriff auf Russland?»

Seine Antwort: «Er war in Vorbereitung. Zusammen mit Amerika, Grossbritannien und Polen wollte die Ukraine die russischen – wirklich russischen! – Gebiete im Donbass zurückerobern. Auch die Krim.»

Russlands Krieg in der Ukraine ist «ein Verteidigungskrieg»

Und welche Strategie haben die Russen?

«Ihre Strategie setzt auf die ‹longue durée› des amerikanischen Niedergangs. Amerika kompensiert ihn mit dem Druck auf seine alten Protektorate. Die Kontrolle über Europa – vor allem Deutschland – und Japan ist zu seiner Priorität geworden. Gegen seinen Krieg im Irak hatten Chirac, Schröder und Putin an einer gemeinsamen Pressekonferenz protestiert. Seither hat Amerika das erreicht, was man auf deutsch die ‹Gleichschaltung› Europas nennt. Der Rest der Welt aber hält es mit Russland. Als es kommunistisch war, verbreitete es Angst und Schrecken. Es war atheistisch, imperialistisch. Heute steht Russland für eine konservative Weltsicht und verteidigt die Souveränität der Völker und Nationen, die alle ein Recht auf Existenz haben.»

Auch auf die Frage, ob der Krieg hätte vermieden werden können, gibt Todd eine Antwort:

«Putin hatte verlangt, dass in den russischsprachigen Gebieten die Sprache respektiert wird. Und er wollte, dass die Ukraine nicht der Nato beitritt. Dieser Krieg hätte vermieden werden können. […] Deutschland und Frankreich sind mitverantwortlich. Man war ständig in Kiew. Europa träumte von seiner Ausdehnung nach Osten, in die Ukraine. Ausgelöst hat die russische Reaktion die militärische Aufrüstung, Ausbildung und ‹Beratung› der ukrainischen Armee. Wenn die Nato darauf verzichtet hätte, die Ukraine zu einem Teil ihres militärischen Dispositivs zu machen, hätte es diesen Krieg nicht gegeben. […] Donezk befindet sich hundert Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Die Distanz zu Washington beträgt 8400 Kilometer. Der Krieg spielt sich an der Grenze Russlands ab. Auch deshalb ist es ein defensiver Krieg – ein Verteidigungskrieg.»

«Der Westen hat seine Werte verloren und
befindet sich in einer Spirale der Selbstzerstörung»

Aus dem Krieg in der Ukraine sei ein Weltkrieg geworden. Mit welchem Ausgang?

«Wenn Russland überlebt, den Donbass und die Krim behält, wenn seine Wirtschaft weiterhin funktioniert und es seine Handelsbeziehungen neu gestalten kann, mit China und Indien – dann hat Amerika den Krieg verloren. Und in der Folge wird es seine Alliierten verlieren. Deshalb werden Amerika und die Nato weitermachen. Und darum handelt es sich um einen Weltkrieg, der andauern wird. Seine hauptsächlichste Ursache ist die Krise des Westens. […] Der Westen hat seine Werte verloren und befindet sich in einer Spirale der Selbstzerstörung.»

Ein solches Interview in einem etablierten deutschen Medium wäre gegenwärtig sehr wahrscheinlich nicht möglich. Die Aussagen von Emmanuel Todd wären für das heutige offizielle Deutschland «russische Propaganda» bzw. «Verschwörungsideologie». Die Politiker des Landes und die Mainstream-Medien sind nicht bereit, ihre festgefahrenen Positionen kritisch zu überprüfen. Sie gefallen sich in der Rolle der «Guten» im Kampf gegen das «Böse».

Was ist Deutschlands «Führungsrolle»?

Ein Politiker der SPD, Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, plädierte am 13. Januar im Deutschlandfunk dafür, «die Freiheit und die Demokratie in der Ukraine» mit allen Mitteln zu «erhalten».1 Dass die Oppositionsparteien und regierungskritischen Medien in der Ukraine verboten sind, erwähnte er allerdings nicht. Statt dessen gab er zum Besten: «Frieden schaffen mit mehr Waffen.» Wohin auch immer sie gelangen mögen? Wogegen auch immer sie eingesetzt werden?
  Die deutschen Mainstream-Medien sind sich nahezu einig: Allein Russland und dessen Präsident sei schuld am Krieg, Deutschland müsse mehr Waffen an die Ukraine liefern.2 So kommt es zu Schlagzeilen wie folgender: «Nur Mut, Herr Kanzler! Vor Russland müssen Sie keine Angst haben» (Focus vom 6. Januar 2023) Im Artikel ist zu lesen: «Was auch immer Deutschland liefert an die Ukraine, um ihr zu helfen – die Russen werden nicht ‹eskalieren› – nicht gegen Deutschland, nicht gegen Europa, nicht gegen die Nato. Und weshalb? Weil sie es nicht können, sie sind zu schwach dazu, wofür der bisherige Verlauf des Ukraine-Kriegs der schlagende Beweis ist. Vor diesen Russen braucht man keine Angst zu haben.» Die Empfehlung für die deutsche «Führungsrolle» lautet deshalb: «Der Bundeskanzler könnte sich an die Spitze einer diplomatischen Bewegung setzen mit dem Ziel, dass Europa der Ukraine das Gerät liefert, das sie braucht. Die Amerikaner haben die Deutschen ausdrücklich dazu ermutigt, die Deutschen müssen diesen Mut nun nur noch selber haben.»
  Die US-Amerikaner «ermutigen» also die Deutschen, noch mehr in den Krieg zu ziehen. So können Wörter lügen. Im Jahr 1900 rief der britische Admiral Seymour im Kolonialkrieg gegen die chinesischen Boxer: «The Germans to the front.» Auch der Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands gegen die Sowjetunion war vielen im «freien Westen» sehr recht.

Eine «moralische Grenze, die die Bunderegierung hätte nicht überschreiten sollen»

Die Reaktion der russischen Botschaft in Deutschland vom 6. Januar 2023 auf die deutschen Pläne für immer mehr Waffenlieferungen wird allerdings nicht zitiert. Darum sei sie hier wiedergegeben:

«Von unserer Seite betonen wir erneut, dass die Lieferungen tödlicher und schwerer Waffen an das Kiewer Regime, die nicht nur gegen russische Militärs, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung im Donbass eingesetzt werden, die moralische Grenze darstellen, die die Bundesregierung hätte nicht überschreiten sollen. Das gilt mit Blick auf die historische Verantwortung Deutschlands vor unserer Bevölkerung für die Nazi-Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs. […] Mit dieser Entscheidung von Berlin wird immer mehr deutlich, dass die Bundesrepublik und der kollektive Westen kein Interesse daran haben, eine friedliche Konfliktlösung zu suchen. Durch ihr Bemühen wurde die Ukraine de facto zu einem militärischen Übungsplatz gemacht und das ukrainische Volk zur Erreichung geopolitischer Ziele des Westens instrumentalisiert, was die Feindseligkeiten in die Länge zieht und sinnlose Opfer und Zerstörungen herbeiführt. Die Entscheidung Berlins, schwere Waffen an das Kiewer Regime zu liefern, wird die deutsch-russischen Beziehungen gravierend beeinträchtigen.»

Schon einmal in der deutschen Geschichte glaubten Deutsche an einen «Endsieg». Sie waren der Propaganda auf den Leim gegangen – und hatten sich bitter geirrt. Der Preis dafür war hoch. Nun wird erneut alles über den Haufen geworfen, was deutsches Denken nach dem Zweiten Weltkrieg ausgezeichnet hatte. Die Vorbereitungen darauf laufen seit 30 Jahren. Die Kritiker sprachen damals von «Salami-Taktik», als der deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) Anfang der neunziger Jahre für ein nur mit kleinen Schritten zu erreichendes neues, militarisiertes Selbstverständnis der deutschen Aussenpolitik plädierte. Nun sehen wir, wo das offizielle Deutschland zu landen gedenkt. Der Preis dafür wird erneut hoch sein.  •



1 Am 9. Januar 2023 hat Ted Galen Carpenter vom US-amerikanischen Cato-Institut in der Zeitschrift The American Conservative einen aufschlussreichen Artikel über die Ukraine veröffentlicht. Der Titel: «False democracy. Ukraine is not the bastion of freedom described by most Western media». In deutscher Übersetzung – «Die USA wissen genau, dass die Ukraine keine Demokratie ist» – ist der Text bei globalbridge.ch vom 21. Januar 2023 zu finden: https://globalbridge.ch/die-usa-wissen-genau-dass-die-ukraine-keine-demokratie-ist/
2 In einer Untersuchung im Auftrag der gewerkschaftlichen Otto-Brenner-Stiftung – Maurer, Marcus/Haßler, Jörg/Jost, Pablo. «Die Qualität der Medienberichterstattung über den Ukraine-Krieg» vom 15. Dezember 2022 – wird hervorgehoben, dass die inhaltsanalytisch für den Zeitraum vom 24. Februar bis zum 31. Mai 2022 untersuchten 4300 Medienbeiträge der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», «Süddeutschen Zeitung», «Bild-Zeitung», des Spiegel, der Zeit und von ARD Tagesschau, ZDF heute und RTL Aktuell zu mehr als 90 % Russland und dessen Präsident zum Kriegsschuldigen erklärten und – im deutlichen Gegensatz zur deutschen Bevölkerung – rund 75 % für eine militärische Unterstützung der Ukraine plädierten. Am positivsten stellten die Medien die deutsche Aussenministerin Baerbock und den ukrainischen Präsidenten Selenski dar, Kritik gab es demgegenüber am deutschen Kanzler – wegen dessen Zögerlichkeit bei Waffenlieferungen.

Sinkendes Vertrauen der Deutschen in ihre politischen Institutionen

km. Gemäss einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa (4003 Befragte im Zeitraum vom 15. bis 22. Dezember 2022) ist das Vertrauen der Deutschen in ihre politischen Institutionen gegenüber dem Vorjahr in allen Bereichen und zum Teil erheblich gesunken. Den stärksten Vertrauensverlust hatten die deutsche Bundesregierung und der Bundeskanzler. Nur noch 34 % der Befragten vertrauen der Bundesregierung, das sind 22 % weniger als im Vorjahr. Dem Bundeskanzler trauen nur noch 33 % der Befragten, das sind sogar 24 % weniger als im Vorjahr. Am wenigsten vertrauen die Deutschen den politischen Parteien des Landes, nämlich nur 17 % der Befragten. Gegenüber dem Vorjahr sind dies 7 % weniger. An zweitletzter Stelle steht die EU. Ihr vertrauen 31 %. Auch hier sind es 7 % weniger als im Vorjahr. Im Auftrag der Sender RTL und ntv befragt Forsa seit 15 Jahren einmal im Jahr die Deutschen nach ihrem Vertrauen in ihre politischen Institutionen. Für das Jahr 2022 sprachen RTL und ntv von einem «drastischen Vertrauenseinbruch».

Quelle: https://www.rtl.de/cms/rtl-ntv-trendbarometer-das-vertrauen-in-alle-politischen-institutionen-sinkt-drastisch-5023517.html vom 3.1.2023

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