RAND-Corporation: Neutralitätsstatus der Ukraine als Weg zum Frieden?

Neue Studie des Armee-nahen US-Think tanks über die US-Interessen in der Ukraine

ts. In den USA mehren sich die Stimmen derer, die sich für eine Beendigung des Krieges in der Ukraine aussprechen. So publizierte unlängst der Think tank RAND-Corporation (R-AN-D ist ein englisches Akronym für research and development, Forschung und Entwicklung) eine Studie mit dem Titel «Avoiding a Long War in Ukraine»1, «Einen langen Krieg in der Ukraine vermeiden». Im Lead heisst es: «Die Vereinigten Staaten haben ein starkes Interesse daran, einen langen Krieg in der Ukraine zu vermeiden. Obwohl Washington die Dauer des Krieges nicht allein bestimmen kann, kann es Schritte unternehmen, um einen eventuellen Verhandlungsfrieden wahrscheinlicher zu machen.» Vier Optionen werden vorgestellt, «die den USA zur Verfügung stehen, um diese Dynamik zu verändern: Klärung ihrer Pläne für die künftige Unterstützung der Ukraine, Zusagen für die Sicherheit der Ukraine, Zusicherung der Neutralität des Landes und Festlegung von Bedingungen für die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland».
  Wer ist aber dieser Think tank, der nun plötzlich wieder die Frage der Neutralität der Ukraine aufs Tapet bringt, eine Forderung Russlands schon vor dem 24. Februar 2022?
  Konsultiert man die Webseite der RAND-Corporation, liest man, hier auf Deutsch übersetzt, Folgendes: «Am 14. Mai 1948 wurde Projekt RAND – eine Organisation, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, um militärische Planung mit Forschungs- und Entwicklungsentscheidungen zu verbinden – von der Douglas Aircraft Company in Santa Monica, Kalifornien, getrennt und zu einer unabhängigen, gemeinnützigen Organisation.» Der Zweite Weltkrieg habe nämlich deutlich gemacht, «wie wichtig die Forschung und Entwicklung von Technologien für den Erfolg auf dem Schlachtfeld sind. Er lenkte auch die Aufmerksamkeit auf das breite Spektrum von Wissenschaftlern und Akademikern ausserhalb des Militärs, die eine solche Entwicklung ermöglichten». Und weiter erfährt man: «Die neu gegründete Organisation, deren Name sich aus einer Verkürzung des Begriffs ‹Forschung und Entwicklung› zusammensetzt, widmete sich der Förderung und Unterstützung von wissenschaftlichen, erzieherischen und wohltätigen Zwecken für das öffentliche Wohl und die Sicherheit der Vereinigten Staaten.»2

Strategien zur Destabilisierung Russlands und
Überlegungen zum Krieg mit China

Des weiteren liest man, RAND sei «eine gemeinnützige Einrichtung, die durch Forschung und Analyse zur Verbesserung der Politik und Entscheidungsfindung beiträgt». Und: «Als überparteiliche Organisation wird RAND weithin dafür respektiert, dass sie unabhängig von politischen und kommerziellen Einflüssen arbeitet. Unsere Grundwerte sind Qualität und Objektivität.» Aber nicht nur das Wohl der USA, sondern der Menschen weltweit sei Anliegen des Think tanks: «RAND ist eine Forschungsorganisation, die Lösungen für die Herausforderungen der öffentlichen Ordnung entwickelt, um die Gemeinschaften auf der ganzen Welt sicherer, gesünder und wohlhabender zu machen.»3
  Wirft man einen Blick auf Wikipedia, tönt es kritischer: Da liest man, dass «mit Unterstützung der Ford Foundation die Non-profit-Organisation RAND-Corporation gegründet» worden sei. Und: «RAND-Experten spielten eine Rolle im Korearieg und in der Propaganda des Kalten Krieges.» Hauptziel sei die Beratung des US-Militärs. RAND beschäftige über 1880 Angestellte aus 50 verschiedenen Ländern. «Von den Einnahmen 2020 in Höhe von 349 Mio. US-Dollar stammen etwa 55 % aus dem Budget des Verteidigungsministeriums bzw. den Streitkräften der USA. Weitere staatliche Stellen tragen etwa 27 % zu den Einnahmen bei. Der Rest verteilt sich auf Universitäten, Nichtregierungsorganisationen, Stiftungen, Non-profit-Organisationen und den privaten Sektor. Die Ausgaben macht zum grossen Teil (75 %) die Forschungsarbeit aus.» Hellhöriger wird man beim folgenden Wikipedia-Eintrag: «Zu den von RAND bearbeiteten Themen gehörten in den letzten Jahren unter anderem Strategien zur Destabilisierung Russlands und Überlegungen zum Krieg mit China sowie zukünftige Anforderungen für den militärischen Flugzeugbau und Schutzmöglichkeiten vor terroristischen Anschlägen.» Aber auch soziale Themen würden aufgegriffen, so etwa «die wachsende Fettleibigkeit in den USA oder das Problem des Drogenmissbrauchs an amerikanischen High Schools».4
  Sucht man die erwähnten Studien zur «Destabilisierung Russlands», stösst man auf der RAND-Homepage auf die beiden Texte «Over-extending and Unbalancing Russia» aus dem Jahre 20195 und «Extending Russia. Competing from Advantageous Ground», ebenfalls aus dem Jahre 2019.6

RAND-Bericht 2019 I:
Russland überschulden und destabilisieren

Über den ersten Bericht, auf Deutsch etwa «Überschuldung und Destabilisierung Russlands», heisst es in der einleitenden Zusammenfassung auf der RAND-Webseite: «Dieser Kurzbericht fasst einen Bericht zusammen, der umfassend gewaltfreie, kostenverursachende Optionen untersucht, die die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten in allen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bereichen verfolgen könnten, um Russlands Wirtschaft und Streitkräfte sowie das politische Ansehen des Regimes im In- und Ausland unter Druck zu setzen, zu überfordern und aus dem Gleichgewicht zu bringen.» Trotz der von RAND analysierten Schwachstellen Russlands sei das Land «nach wie vor ein mächtiges Land, das in einigen Schlüsselbereichen ein gleichwertiger Konkurrent der USA ist. In der Erkenntnis, dass ein gewisses Mass an Wettbewerb mit Russland unvermeidlich ist, haben RAND-Forscher eine qualitative Bewertung der ‹kostenverursachenden Optionen› vorgenommen, die Russland aus dem Gleichgewicht bringen und überfordern könnten. Solche kostenverursachenden Optionen könnten Russland neue Lasten aufbürden, die im Idealfall schwerer wiegen als die Lasten, die den Vereinigten Staaten durch die Verfolgung dieser Optionen auferlegt würden». Diese Einschätzung des US-Think tanks aus dem Jahre 2019 dürfte wohl in Moskau nicht unbeachtet geblieben sein.

RAND-Bericht 2019 II:
Russland militärisch und wirtschaftlich überfordern

Der zweite Bericht, den Wikipedia erwähnt, auf Deutsch etwa «Russland ausweiten/ausdehnen – Konkurrieren aus vorteilhaftem Grund», ist gemäss RAND-Webseite mit Förderung durch Armeestellen verfasst worden. Auf der RAND-Webseite heisst es weiter: «Ziel des Projekts war es, eine Reihe möglicher Mittel zur Ausweitung/Ausdehnung Russlands zu untersuchen. Darunter verstehen wir gewaltfreie Massnahmen, die Russlands Militär oder Wirtschaft oder das politische Ansehen des Regimes im In- und Ausland belasten könnten. Die von uns vorgeschlagenen Schritte würden weder in erster Linie der Verteidigung noch der Abschreckung dienen, obwohl sie zu beidem beitragen könnten. Vielmehr sind diese Schritte als Massnahmen gedacht, die Russland dazu bringen würden, in Bereichen oder Regionen zu konkurrieren, in denen die Vereinigten Staaten einen Wettbewerbsvorteil haben, was Russland dazu veranlassen würde, sich militärisch oder wirtschaftlich zu überfordern, oder das Regime dazu veranlassen würde, nationales und/oder internationales Prestige und Einfluss zu verlieren. Dieser Bericht deckt bewusst ein breites Spektrum an militärischen, wirtschaftlichen und politischen Optionen ab. Seine Empfehlungen sind für alle Bereiche von der militärischen Modernisierung und Streitkräftestellung bis hin zu Wirtschaftssanktionen und Diplomatie von unmittelbarer Relevanz.»
  Auch diese Analyse dürfte in Moskau wohl nicht auf die leichte Schulter genommen worden sein.

«Smart power» 2019 – und heute?

Und diese gleiche RAND-Corporation, die obige Analysen in bester «Smart power»-Manier bereitgestellt hat – der Begriff wurde von Joseph S. Nye geprägt7, von Hillary Clinton als aussenpolitische Doktrin der Obama-Administration angepriesen8 –, liefert nun eine neue Analyse.
  Hier kann nicht der ganze Bericht abgedruckt werden, er ist aber als pdf-Datei auf der Homepage der RAND-Stiftung kostenlos zu beziehen.9 An dieser Stelle begnügen wir uns mit der Wiedergabe der Schlussfolgerung des Berichts (siehe Kasten). Man darf gespannt darauf sein, inwieweit die US-Regierung die Empfehlung des Armee-nahen Think tanks in den kommenden Wochen und Monaten übernehmen wird.  •



1 https://www.rand.org/pubs/perspectives/PEA2510-1.html
2 https://www.rand.org/about/history.html
3 https://www.rand.org/about.html
4 https://de.wikipedia.org/wiki/RAND_Corporation
5 https://www.rand.org/pubs/research_briefs/RB10014.html
6 https://www.rand.org/content/dam/rand/pubs/research_reports/RR3000/RR3063/RAND_RR3063.pdf
7 z. B. in Joseph S. Nye, Jr. «Get Smart: Combining Hard and Soft Power». In: Foreign Affairs, Vol. 88, No. 4 (July/August 2009), pp. 160 – 163. Published by: Council on Foreign Relations.
8 vor ihrer Ernennung zur Aussenministerin unter Barack Obama in ihrer Anhörung vor dem Senate Foreign Relations Committee am 15. Januar 2009. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=PNQQyKBml04
9 siehe Fussnote 1

«Avoiding a Long War in Ukraine» – «Einen langen Krieg in der Ukraine vermeiden»

Vier Optionen, die den USA gemäss RAND-Corporation zur Verfügung stehen

«[… ] In der Debatte in Washington und anderen westlichen Hauptstädten über die Zukunft des russisch-ukrainischen Krieges steht die Frage der territorialen Kontrolle im Vordergrund. Die Falken plädieren für eine verstärkte militärische Unterstützung, um die Rückeroberung des gesamten ukrainischen Territoriums durch das ukrainische Militär zu erleichtern. Ihre Gegner fordern die Vereinigten Staaten auf, die Kontrolllinie vor Februar 2022 als Ziel festzulegen, und verweisen auf die Eskalationsrisiken eines weiteren Vorstosses. Aussenminister Antony Blinken erklärte, das Ziel der US-Politik bestehe darin, die Ukraine in die Lage zu versetzen, ‹die Gebiete zurückzuerobern, die ihr seit dem 24. Februar entrissen wurden›. Unsere Analyse legt nahe, dass diese Debatte zu sehr auf eine Dimension des Kriegsverlaufs fokussiert ist. Die territoriale Kontrolle ist zwar für die Ukraine von enormer Bedeutung, für die USA ist sie jedoch nicht die wichtigste Dimension der Zukunft des Krieges. Wir kommen zu dem Schluss, dass neben der Abwendung einer möglichen Eskalation zu einem Krieg zwischen Russland und der Nato oder dem Einsatz russischer Atomwaffen auch die Vermeidung eines langen Krieges für die Vereinigten Staaten eine höhere Priorität hat als die Ermöglichung einer wesentlich grösseren territorialen Kontrolle über die Ukraine. Darüber hinaus sind die Möglichkeiten der USA, die endgültige Grenzziehung zu beeinflussen, stark eingeschränkt, da das US-Militär nicht direkt an den Kämpfen beteiligt ist. Die Ermöglichung der territorialen Kontrolle durch die Ukraine ist auch bei weitem nicht das einzige Instrument, das den Vereinigten Staaten zur Verfügung steht, um die Entwicklung des Krieges zu beeinflussen.
  Wir haben mehrere andere – potentiell wirkungsvollere – Instrumente hervorgehoben, die Washington einsetzen kann, um den Krieg in eine Richtung zu lenken, die den Interessen der USA besser dient. Während die Vereinigten Staaten den territorialen Ausgang des Krieges nicht direkt bestimmen können, haben sie eine direkte Kontrolle über diese Politik. Präsident Biden hat gesagt, dass dieser Krieg am Verhandlungstisch enden wird. Aber die Regierung hat noch keine Schritte unternommen, um die Parteien zu Gesprächen zu bewegen. Obwohl es alles andere als sicher ist, dass eine Änderung der US-Politik Verhandlungen auslösen kann, könnte die Annahme einer oder mehrerer der in dieser Perspektive beschriebenen Massnahmen Gespräche wahrscheinlicher machen. Wir nennen Gründe, warum beide, Russland und die Ukraine, optimistisch in bezug auf den Krieg und pessimistisch in bezug auf den Frieden sind. Die Literatur über die Beendigung von Kriegen legt nahe, dass solche Wahrnehmungen zu einem langwierigen Konflikt führen können. Daher stellen wir vier Optionen vor, die den USA zur Verfügung stehen, um diese Dynamik zu verändern: Klärung ihrer Pläne für die künftige Unterstützung der Ukraine, Zusagen für die Sicherheit der Ukraine, Zusicherung der Neutralität des Landes und Festlegung von Bedingungen für die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland. Eine dramatische Änderung der US-Politik über Nacht ist politisch unmöglich – sowohl innenpolitisch als auch gegenüber Verbündeten – und wäre in jedem Fall unklug. Aber die Entwicklung dieser Instrumente jetzt und ihre Bekanntmachung in der Ukraine und bei den Verbündeten der USA könnte dazu beitragen, einen Prozess in Gang zu setzen, der diesen Krieg in einem Zeitrahmen, der den Interessen der USA entspricht, auf dem Verhandlungswege beenden könnte. Die Alternative wäre ein langer Krieg, der die Vereinigten Staaten, die Ukraine und den Rest der Welt vor grosse Herausforderungen stellt.»

Quelle: https://www.rand.org/pubs/perspectives/PEA2510-1.html

(Übersetzung Zeit-Fragen)

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