Die Kleinasiatische Katastrophe

Spurensuche einer griechischen Enkelin

von Renate Dünki

Griechenland, für viele ein sonniges Ferienland mit gastfreundlichen Menschen, hat eine wechselvolle Geschichte, die uns kaum bekannt ist. Ein schmales, soeben erschienenes Buch* mit dem Untertitel «Eine pontische Spurensuche» greift eine folgenschwere Zeitspanne heraus. Welche Spuren sind gemeint? Die griechische Autorin Maria Topali nähert sich in ihrem Memoir dem tragischen Schicksal vieler «Auslandsgriechen» in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts an. Die sogenannte Kleinasiatische Katastrophe ist noch heute ein Trauma Griechenlands, sie bestimmt auch heute die Haltung gegenüber der Türkei.

Vor 100 Jahren wurde in Lausanne ein «Bevölkerungsaustausch» vereinbart, eigentlich die endgültige Vertreibung aller griechisch-orthodoxen Christen aus dem ehemaligen Osmanischen Reich und umgekehrt die «Rückführung» von Menschen muslimischen Glaubens, nun Türken, in das neugeschaffene Staatsgebilde Kemal Atatürks. Dies, nachdem schon vorher Tausende in Arbeitsbataillonen, auf Vernichtungsmärschen oder durch Massaker umgekommen waren. Ziel war ein von Minderheiten befreiter, ethnisch homogener Nationalstaat – nach langen Kämpfen um Gebiete in und um die heutige Türkei, in die auch Balkanstaaten und Griechenland verwickelt waren. Vorstellungen, die auch heute immer wieder eine Rolle spielen und für Stellvertreterkriege instrumentalisiert werden können.

Nationalstaat ohne Minderheiten

Jahrhundertelang hatten Griechen, Armenier, Juden mehr oder weniger friedlich nebeneinander im osmanischen Vielvölkerstaat gelebt. Die religiösen Minderheiten blieben unbehelligt, solange sie sich dem Osmanischen Reich unterordneten. Die Pontier am Südufer des Schwarzen Meeres waren Nachkommen von handelstreibenden Griechen, die sich seit etwa 800 v. Chr. dort niedergelassen hatten. Sie wurden im Byzantinischen Reich christianisiert und sahen sich in ihrem Selbstverständnis als Nachfahren eines eigenen christlich-byzantinischen Kaiserreichs Trapezunt (13. Jahrhundert bis 1461), mit eigener altertümlicher Sprache (Altgriechisch, Türkisch und andere Anteile) und Kultur. Von türkischem Militär wurden sie nach den Balkankriegen (1913) zunehmend aus ihren Siedlungen vertrieben, gefangengenommen, die Häuser zerstört.
  Alle Überlebenden mussten 1923 in Griechenland Unterkunft und Lebensunterhalt finden. Flüchtling bedeutete damals: jemand aus dem Pontus oder Kleinasien.
  Die umgesiedelten Menschen machten nun ein Viertel der Bevölkerung Griechenlands aus – eine extreme Herausforderung. Für sie wurden neue Siedlungen, vielfach in Nordgriechenland, gebaut und Land zur Verfügung gestellt – nicht ohne grosse Schwierigkeiten, wie sich denken lässt.

Eine pontische Spurensuche

Die Autorin Maria Topali stammt aus einer pontischen Familie, deren Angehörige damals zu zwei Dritteln umkamen. Ihre Grossmutter hatte die Vertreibung überlebt, der Grossvater war aus einem Lager geflohen und gerettet worden. Die Mehrheit der Männer, Frauen, Kleinkinder musste ihr Leben lassen.
  Durch ihre Kinderfrau und den Grossvater erlernte Maria Topali die archaische pontische Sprache und erlebte den ständigen Wechsel zwischen dem Neugriechischen und dem Pontischen. Ihre Mutter und deren Schwester waren die Hauptquellen ihrer Kenntnis der Familiengeschichte und des Schicksals ihrer Angehörigen. Viele Überlebende sprachen nicht über die durchstandenen Grausamkeiten und Schrecken, die Autorin blieb jedoch beharrlich bei den Fragen nach ihrem Ursprung und bei ihren Forschungen.
  Ihre Darstellung zeichnet sich durch feinste Beobachtungen und Erinnerungen, durch Feingefühl, aber auch wissenschaftliche Genauigkeit aus. Alle Aussagen sind durch glaubhafte Quellen untermauert, nie lässt Maria Topali sich zu einseitigen Urteilen verführen. Immer bezieht sie in die Beschreibung ihrer Wurzeln auch die komplexe geschichtliche Situation ein und benennt Untaten und Opfer auf beiden Seiten. Und sie beschränkt sich nicht auf die eigentliche Katastrophe, sondern geht auf das Davor und Danach ein.
  Dieser riesigen Aufgabe, einen solchen Zeitraum, ein solches Thema auszubreiten, stellt sie sich in einer ganz eigenen, nicht immer leicht zugänglichen Weise. «Wer ungeduldig auf ausgedehnte Erzählstrecken wartet […], rittlings auf einem soliden Chassis aus Gewissheiten, der sollte hier besser innehalten. Meine Geschichte bewegt sich langsam, auf gebrechlichen Beinen voran, behaftet mit Zweifeln, Fehltritten und Rückschlägen. Immer wieder erregt ein Detail meine Aufmerksamkeit […]». Wer diese Geduld aufbringt, erlebt jedoch einen faszinierenden Text, der auch das «Sozialkapital» dieser Familie aufleuchten lässt: das Credo der überlebenden Frauen, die damals bereits alle lesen und schreiben und berufstätig werden konnten, somit über «ihren eigenen Geldbeutel» verfügten. «Harte, zähe Frauen. Der ganze Menschenschlag ist so, mit ihm könnte man die ganze Welt noch einmal neu erschaffen.» (S. 59)

Tätige Menschen

Besonders haben mich die Darstellungen der geliebten Kinderfrau, aber auch des Grossvaters angesprochen. Dieser pontische Grossvater, Nikolakis, war ausgebildeter Lehrer, hatte sich als junger Mann aber entschlossen, die fortschrittliche europäische Art der Bienenzucht zu erlernen – er wurde Imker. Seine Kenntnis gab er nach der Umsiedlung weiter, er reiste von Dorf zu Dorf, um sie bekannt zu machen, und gab auch noch als 80jähriger Mann seine Bienenzeitschrift heraus. Der Versand fand jeden Monat im Haus der Familie in Thessaloniki mit der Hilfe der Verwandten statt, danach ging das Treffen als Spieleabend weiter (S. 65). Der Grossvater ist ein Beispiel dafür, wie bereichernd die Aufnahme der Flüchtlinge damals für das bitterarme rückständige Griechenland war: Viele Neuerungen in Landwirtschaft, Industrie oder Musik verdankte das Land der Aufnahme dieser regsamen tüchtigen Menschen. Der Grossvater strahlte Humor und Lebensfreude aus. Flüchtling hiess auch: einer, der aus dem Nichts eine Existenz aufbaut.
  Dieser vielschichtige Prosateil der Spurensuche wird ergänzt durch einen zweiten Teil mit einer Auswahl von Gedichten. Denn Maria Topali ist in Griechenland in erster Linie als Lyrikerin sehr bekannt. Die Gedichte mit ihrer Assoziationskraft kreisen um Erfahrungen von Abschied und Verlust, um Liebe, Erinnerung und die Weitergabe kultureller Werte in der Familie. Sie setzen beim Leser eine gewisse Kenntnis der griechischen Hintergründe voraus; Fussnoten erleichtern das Verständnis. Die Texte bezeugen den Impuls der Autorin, sich von innen heraus ihrer Geschichte anzunähern.
  Unverzichtbar sind die Erläuterungen zur Kleinasiatischen Katastrophe von Mirko Heinemann, die dieses weitgehend unbekannte Kapitel der griechischen, aber auch kleinasiatischen Geschichte erhellen.
  Ein nicht so leicht zugängliches facettenreiches Buch. Wer sich darauf einlässt, kann einen Blick in eine unbekannte Welt werfen, aus dem sich viele Fragen auch für die Gegenwart ergeben.  •



* Topali, Maria. Die Wurzeln lang ziehen. Eine pontische Spurensuche nach der Kleinasiatischen Katastrophe. Herausgegeben von Monika Lustig. Mit einer historischen Einordnung von Mirko Heinemann. Aus dem Griechischen übertragen von Doris Wille und Birgit Hildebrand. Karlsruhe 2023, Edition Converso 2023, ISBN 978-3-949558-11-5

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