Die Macht liegt im Kleinen

Warum die Mikrosteuer-Initiative sehr wohl Unterstützung verdient

von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

Im Jahre 1990 befand sich die Welt an der Schwelle zur Globalisierung.
  Der Wert aller weltweit hergestellten Güter und Dienstleistungen betrug damals etwa 22 Billionen Dollar (USD). Es wurden Aktien und Bonds in der Höhe von 9 Billionen USD jährlich gehandelt, für etwa 2 Billionen USD ausserbörsliche Finanzderivate, und das Volumen der Devisengeschäfte belief sich auf 147 Billionen USD. Knapp 30 Jahre später, im Jahre 2018, betrug der Wert aller produzierten Güter und Dienstleistungen 75 Billionen USD. Im selben Jahr wurden für 162 Billionen USD Aktien oder Bonds, für 602 Billionen USD Devisen und für sage und schreibe 1250 Billionen USD Finanzderivate (ausserbörslich) gehandelt. Einer knappen Verdreieinhalbfachung der realen Wirtschaftsleistung in gut dreissig Jahren steht demnach eine beinahe Verzwanzigfachung des Aktien- und Bondhandels gegenüber. Und: Es werden heute wohl 800mal mehr Finanzderivate (inklusive Fremdwährungsoptionen) umgeschlagen als 1990. Was die Finanzmärkte da hingelegt haben, nennt sich exponentielles Wachstum. Die Realwirtschaft blieb verglichen damit wachstumsmässig förmlich auf der Strecke.
  Natürlich ist nicht alles, was an den Finanzmärkten in den letzten drei Dekaden für das exorbitante Wachstum sorgte, rein spekulativer Natur. Die fortschreitende internationale Arbeitsteilung und die damit zunehmenden grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsströme führen automatisch auch zu mehr Transaktionen an den Devisenmärkten und einem erhöhten Bedarf an Termin- und Absicherungsgeschäften mit derivativen Finanzinstrumenten. Aber der Markt für Finanzderivate hat dermassen abgehoben, dass nur die eine Schlussfolgerung bleibt: Der Grossteil dessen, was heute an derivativen Produkten gehandelt wird, hat mit der Realwirtschaft wenig oder gar nichts mehr zu tun. Die Globalisierung und die Tatsache, dass Kapital im Vergleich zum immobilen Boden und dem eher trägen Faktor Arbeit der «schnellste und mobilste» Produktionsfaktor überhaupt ist, haben zwar auch etwas zum Wohlstand der Welt beigetragen. Hauptsächlich haben sie aber das grösste Casino der Weltgeschichte entstehen lassen, wo die wildesten Wetten abgeschlossen werden und die, die es haben oder denen es gegeben wird, um Einsätze spielen, welche das X-fache der realen Wirtschaftsleistung, also der Löhne und Gewinne ausmachen.
  Corona einmal ausgenommen, wurden sämtliche Rezessionen seit den neunziger Jahren stets durch spekulativ bedingte Finanzmarktcrashs ausgelöst und nicht durch «klassische» Konjunkturüberhitzungen, wie unsere Eltern sie vielleicht noch kannten. Die Finanzmärkte degenerierten im Globalisierungszeitalter zu einem Hort wirtschaftlicher Instabilitäten, weil dort der schnelle Profit über das Wohl der Gemeinschaft gestellt wurde, Geld nicht mehr investiert, sondern damit oft nur noch spekuliert wurde – mit mannigfachen Multiplikatoren. Angesichts des dargestellten Zahlengerüstes stelle ich mir seit geraumer Zeit die Frage, wieso die weltweite Steuerpraxis immer noch «lediglich» die Realwirtschaft anzapft, anstatt sich da zu bedienen, wo richtig viel Geld fliesst. Und angesichts der steigenden Schuldenlast der Industrienationen stelle ich mir die Frage, wieso diese seit Jahren nur so halbherzig über eine Finanzmarkttransaktionssteuer diskutieren, wenn überhaupt.
  Wir Schweizer sind da schon etwas weiter, direkter Demokratie sei Dank, und haben die sogenannte Mikrosteuer-Initiative. Die ist zweifellos revolutionär, so revolutionär, dass sie wahrscheinlich scheitern wird, weil sie zu früh kommt und die üblichen eidgenössischen Abwehrreflexe mobilisiert, vor allem wenn es mal wirklich um einen Alleingang geht. Wirtschaftslobby, Bundesrat und einige «namhafte» Professoren fertigen das Unterfangen mehr oder weniger als «Furz» ab. Ich persönlich kann der Idee indes einiges abgewinnen. Steuertheoretisch ist es effizienter, ein grosses Substrat wie Finanzmarkttransaktionen mit einem kleinen Satz anzuzapfen, als ein kleines Substrat wie Einkommen und Gewinne mit einem grossen Satz. Das steht wissenschaftlich eigentlich ausser Frage. Wenn dieses riesige Substrat auch noch exponentiell wächst, dann könnte es doch durchaus auch die neue Steuerbasis der Zukunft bilden. Warum also nicht darüber nachdenken?
  Würde man in der Schweiz beispielsweise die Zahlungsströme in Höhe von 40 Billionen CHF, welche dem SIC (Swiss Interbanking Clearing) unterliegen, mit gerade mal 0,05 % besteuern, so würde dies fast 20 Milliarden CHF Steuereinnahmen generieren, fast so viel wie die gesamte Mehrwertsteuer heute. Private Haushalte würde ein Wegfall der Mehrwertsteuer spürbar entlasten, und die Mikrosteuer täte ihnen nicht sehr weh. Wieso fertigen so viele das Unterfangen dennoch als Spinnerei ab? Nicht wenige Innovationen der letzten Jahrhunderte waren oder sind Swiss Made. Während andere hadern und debattier(t)en, setzen wir es um. Die Finanzmarkttransaktionssteuer wird früher oder später kommen, das steht für mich ausser Frage, denn die Schulden der Staaten explodieren, und ihre Steuerquellen versiegen. Joe Biden möchte die Unternehmen stärker zur Kasse bitten, die EU die Internetkonzerne, China die Mitbürger, alle suchen verzweifelt nach neuen potentiellen Einnahmequellen, doch im immer selben Grund. Warum nicht mal im Casino suchen? Gestern wurden für fast 48 Milliarden USD Bitcoin gehandelt, für 113 Milliarden USD Tether – das ist mehr als das Doppelte der Marktkapitalisierung dieser Kryptowährung – und für 40 Milliarden USD Ethereum – ohne realwirtschaftliches Motiv, pure Spekulation. Ein halbes Prozent allein davon wären schon gut 500 Millionen USD, täglich notabene, und es gibt ja noch mehr Kryptowährungen geschweige denn Milliarden anderer Finanzmarkttransaktionen. Krethi und Plethi könnten einen kleinen Obulus darauf wohl verschmerzen, Finanzhyänen sowieso. Es bliebe gar noch etwas übrig, die steuerlich zu entlasten, die seit Generationen den Hauptharst tragen. So dumm ist die Idee der Mikrosteuer also ganz und gar nicht.  •

Quelle: Raiffeisen Economic Research;
economic-research@raiffeisen.ch vom 26.5.2021


Ein erfreulich gutes Zeichen

gl. Dass Martin Neff, der Chefökonom von Raiffeisen, die Mikrosteuer-Initiative* unterstützt, ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert und erfreulich. Die Raiffeisenbank hat schwierige Jahre hinter sich. Wenn ihr Chefökonom heute die Entwicklung auf den Finanzmärkten so deutlich kritisiert – «Die Finanzmärkte degenerierten im Globalisierungszeitalter zu einem Hort wirtschaftlicher Instabilitäten, weil dort der schnelle Profit über das Wohl der Gemeinschaft gestellt wird» –, ist das ein gutes Zeichen für die Rückkehr der Raiffeisenbank zu einer echten Genossenschaftsbank mit traditionellen genossenschaftlichen Werten.
  Für Neff steht ausser Frage, dass eine Finanzmarkttransaktionssteuer früher oder später kommen wird. Sie sei zwar revolutionär, aber die Schweiz sei eben schon immer innovativ gewesen. Der Gedanke einer solchen Steuer ist nicht neu, es hat schon verschiedene Überlegungen in diese Richtung gegeben. Bisher ist es jedoch nicht gelungen, einen grösseren Teil der Bevölkerung für die Idee zu gewinnen, vielleicht, weil das Ohnmachtsgefühl gegenüber dem Finanzsektor und die Scheu, sich mit wirtschaftlichen Zusammenhängen auseinanderzusetzen, weit verbreitet sind. Inzwischen könnte die Zeit jedoch reif sein. Die Exzesse des sogenannten Finanzcasinos sind heute allgemein bekannt. Die Allgemeinheit an den schier unglaublichen Geldsummen, die verspekuliert werden, mit einem kleinen Steuersatz zu beteiligen, ist durchaus kein abwegiger Gedanke. Dank der direkten Demokratie haben die Bürger der Schweiz Volksrechte, die sich weltweit viele Menschen wünschen, und sie können auch bei Steuerfragen Initiativen ergreifen und darüber abstimmen. Zum Wohle aller: lieber früher als später.  •


* Die Initiative wurde in Zeit-Fragen Nr. 11 vom 18. Mai 2021 ausführlich vorgestellt. Sie sieht die Einführung einer geringfügigen Steuer von 0,1 % bis höchstens 0,5 % auf den bargeldlosen Zahlungsverkehr vor. Diese soll die Mehrwertsteuer, die direkte Bundessteuer und die Stempelsteuer ersetzen. Die Sammelfrist läuft am 5. November 2021 ab.

Marc Chesney: Die permanente Krise. Der Aufstieg der Finanzoligarchie und das Versagen der Demokratie

«Der Titel dieses Buches überrascht vielleicht. Von einer ständigen Krise zu sprechen, während in den Medien sehr häufig vom Wiederaufleben des Wirtschaftswachstums die Rede ist, scheint paradox. Dass dieses Wirtschaftswachstum vor allem auf einer Explosion der weltweiten Schulden basiert und deswegen künstlich ist, wird nicht erwähnt. Kursanstiege an den Börsen werden durch die Zentralbanken erzeugt, die astronomische Summen in den Finanzsektor einschiessen, sowie durch die riesigen Aktienrückkäufe von grossen Unternehmen. Der Finanzsektor koppelt sich zunehmend nicht nur von der Realwirtschaft ab, sondern dominiert auch die Volkswirtschaft und die Gesellschaft. Eine zentrale Rolle spielen in diesem Prozess die Grossbanken und spekulativen Fonds.
  Marc Chesney zeigt Auswege, die weder auf deregulierten Märkten noch auf einem Staat, der die Wirtschaft kontrolliert und lenkt und die Individuen überwacht, basieren. Seine Lösungen setzen auf aktive Bürgerinnen und Bürger, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.» (Umschlagrückseite)
  «Die Finanzkaste schöpft astronomische Summen aus der Realwirtschaft ab. Im Rahmen der Kasino-Finanzwirtschaft, die jeglicher selbstreklamierten Unternehmerlogik widerspricht, zirkulieren Gelder immer schneller, mit zweifelhaften Wetten auf den Zahlungsausfall oder Konkurs von Unternehmen, Banken oder Staaten. So werden die klassischen, der Wirtschaft immanenten Finanzgeschäfte in den Hintergrund gedrängt. Charakteristisch für diese Wetten ist, dass sie häufig unter Abwälzung der Risiken auf den Rest der Gesellschaft erfolgen. Manche Finanz-institute, die als ‹too big to fail› bezeichnet werden, haben es nämlich geschafft, eine kritische Grösse und einen gewissen Vernetzungsgrad im Wirtschafts- und Finanzgefüge zu erreichen; bei diesen Finanzinstituten ist es der Staat und letztendlich der Steuerzahler, die Rentnerin, die Kundin und der Arbeitslose, der oder die für die Risiken aufkommen und im Verlustfall die Zeche zahlen. Diese finanzdurchdrungene Wirtschaft schwächt und erpresst in grossem Umfang unser wirtschaftliches und gesellschaftliches Gefüge.» (S. 28f.)
  «Letzten Endes verlangt die Umsetzung all dieser hier vorgeschlagenen Massnahmen von Bürgern und Politikern die Fähigkeit der Analyse, den Willen, wirkliche Lösungen zu suchen und … viel Mut. Der Autor ist sich vollkommen bewusst, was die Verwirklichung dieser Massnahmen bedeutet, im Hinblick auf die notwendigen Anstrengungen, auf die Schwierigkeiten, die es zu überwinden gilt, und auf die Zeit, die sie in Anspruch nehmen wird. Es ist vorrangig, um nicht zu sagen dringend nötig, die Gesellschaft aus der Sackgasse herauszuführen. Paradoxerweise wird aber nichts in diese Richtung unternommen. In letzter Konsequenz handelt es sich um eine Entscheidung, wie die Gesellschaft aussehen soll, in der wir leben wollen. Es geht um die Wahl zwischen der Diktatur des Finanzsektors und einer Demokratie, in der die Bürgerinnen und Bürger ihre Zukunft selber in die Hand nehmen. Wir tragen eine Verantwortung gegenüber den heutigen und künftigen Generationen, die ein unveräusserliches Recht auf ein Leben in Würde und Anstand haben, auf ein Leben in einer verantwortungsbewussten und zivilisierten Gesellschaft.» (S. 133)

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