Liberalismus und direkte Demokratie

von Dr. phil. René Roca, Forschungsinstitut direkte Demokratie (www.fidd.ch)

In der Schweiz haben die Bürgerinnen und Bürger die Demokratie in den letzten 200 Jahren zu einem weltweit einmaligen Modell entwickelt. Die direkte Demokratie ist fester Bestandteil der politischen Kultur und das entscheidende Fundament für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes. Der Artikel «Geschichtsforschung und direkte Demokratie» (siehe Zeit-Fragen Nr. 16 vom 28. Juli 2020) fasste als Auftakt und kurzer Überblickstext die bisherigen Forschungen zusammen. Nun sollen, wie angekündigt, in einer losen Folge die Forschungsresultate anhand einzelner Themen vertieft werden. Den Anfang dazu machte der Artikel zum Thema des Katholizismus und dessen Bedeutung für die Demokratiegeschichte der Schweiz (siehe Zeit-Fragen Nr. 2 vom 26. Januar 2021). Nun folgt ein Text zur Bedeutung des Liberalismus für die Entstehung und Entwicklung der direkten Demokratie in der Schweiz. Nachfolgend ein Auszug aus dem einleitenden Kapitel des Tagungsbandes «Liberalismus und moderne Schweiz».1 

Freiheit – Gemeinsinn – Fortschritt

Die schweizerische «Freisinnig-demokratische Partei. Die Liberalen» (FDP) entwickelte im Hinblick auf die nationalen Wahlen im Herbst 2015 eine neue Zukunftsstrategie. Die Partei übertitelte die Strategie mit den Worten «Freiheit, Gemeinsinn und Fortschritt – aus Liebe zur Schweiz.» Die Zukunftsstrategie findet sich unter dem Kapitel «Werte» auch noch nach den Wahlen auf der Webseite der Partei und wird wie folgt umschrieben:
  «Die Schweiz ist Weltspitze. Uns geht es so gut wie sonst kaum jemandem. Grundlage dieser Erfolgsgeschichte sind seit jeher die freisinnigen Werte Freiheit, Gemeinsinn und Fortschritt. Auf diesen Werten basieren freisinnige Errungenschaften wie unsere liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, Föderalismus, direkte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, ein starker, aber schlanker Staat, das Milizsystem, ein gutes Bildungssystem und Weltoffenheit.»2
  Studiert man die Geschichte des Liberalismus in der Schweiz, so kann zweifellos festgestellt werden, dass er massgeblich mithalf, die beschriebenen Errungenschaften zu entwickeln, ausser den Föderalismus und die direkte Demokratie. Hinsichtlich des Föderalismus befürworteten die meisten Liberalen lange noch das helvetische Muster zentralisierter Strukturen. Erst mit dem Widerstand der Katholisch-Konservativen und dem Sonderbundskrieg 1847 wurde 1848 als Kompromiss eine bundesstaatliche, föderalistische Lösung möglich.3 Die direkte Demokratie bekämpften die Liberalen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konsequent.
  Noch vor der Parteigründung der FDP 1894 zerfiel die liberale Bewegung der Schweiz in Teilbewegungen, die erst nach 1848 direktdemokratische Volksrechte in Theorie und Praxis integrierten.

Historische Verortung der Begriffe «Liberalismus» und «direkte Demokratie»

Der Begriff Liberalismus ist als politischer Begriff der postrevolutionären Epoche nach 1789 zuzuordnen. Die «Liberalen» einte die Ablehnung des Ancien Régimes und die Zustimmung zum politischen Wandel. Speziell wurde die Freiheit des Individuums und des Gewissens betont, und schon früh wurde vor den Gefahren der Gleichheit gewarnt. Die Ziele der meisten Liberalen waren eine Verfassung mit der Anerkennung individueller Rechte, die Gewaltenteilung und das Demokratieprinzip, basierend auf der Grundlage eines Repräsentativsystems. Die Wahlen sollten einem Zensus-System unterworfen sein. Eine Abstimmung gab es allenfalls nur zur Sanktion der Verfassung, ansonsten waren keine Abstimmungen mittels direktdemokratischer Volksrechte vorgesehen.4
  Der Liberalismus gründet allgemein im Naturrecht und taucht als politischer Begriff  1812 anlässlich der Kämpfe um die spanische Verfassung und 1817 in Frankreich während der Restauration («idées libérales») auf.5
  Die liberale Bewegung in der Schweiz war kurz vor und besonders nach der Juli-Revolution von 1830 in Frankreich erfolgreich. In zwölf von 22 Kantonen fanden Umwälzungen statt, die zu liberal-demokratischen Verfassungen führten und mehrheitlich liberale Kräfte in exekutive und legislative Gewalten brachten. Nach 1830 zerfiel die siegreiche liberale Bewegung rasch, und liberale Exponenten entwickelten radikale Strömungen, die teilweise auch Revolution und Gewaltanwendung befürworteten (Jakobinismus), sich jedenfalls aber für tiefgreifende Veränderungen der bestehenden Verhältnisse einsetzten. Allerdings radikalisierten sich in der Schweiz schon vor 1830 Teile der liberalen Bewegung (Liberal-Radikale wie z. B. Ludwig Snell oder Kasimir Pfyffer) und grenzten sich schärfer von den Frühliberalen und nur moderaten Reformen ab. Die Liberal-Radikalen profilierten sich in der Sonderbundszeit als Vorkämpfer einer grundlegenden Erneuerung der politischen Institutionen.6
  Der eigentliche schweizerische Radikalismus, der in der Westschweiz stärker vertreten war, verfügte nie über eine einheitliche politische Theorie; was die verschiedenen Richtungen einte, war das Ziel der nationalen Einigung und die Errichtung eines starken Zentralstaates. Nach 1848 entstand aus radikalen Strömungen der Frühsozialismus, der pointierter egalitäre und etatistische Züge trug, aber auch konsequenter das Prinzip der Volkssouveränität vertrat und sich für mehr direkte Demokratie einsetzte (Demokratische Bewegung der 1860er Jahre).7
  Der Begriff direkte Demokratie meint einerseits ein politisches System und andererseits ein politisches Entscheidungsverfahren, also für die Schweiz die Entstehung und Entwicklung der Initiative und des Referendums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ausgehend von einzelnen Kantonen integrierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch der Bund in seiner Verfassung direktdemokratische Volksrechte (1874 fakultatives Gesetzesreferendum, 1891 Verfassungsinitiative). Wichtige theoretische Elemente waren dabei das Genossenschaftsprinzip, das moderne Naturrecht und die Idee der Volkssouveränität. Die historischen Bezugspunkte waren die Amerikanische und Französische Revolution, deren Theoretiker im Rahmen von Verfassungsdiskussionen direktdemokratische Elemente thematisierten.8

Die freisinnige Grossfamilie und ihr Verhältnis zur direkten Demokratie

Der Schweizer Historiker und Politologe Erich Gruner (1915–2001) spricht von der «freisinnigen Grossfamilie», wenn er die liberale Bewegung in der Schweiz für das 19. Jahrhundert absteckt. Drei wichtige Richtungen zeigten, abgesehen von allen Facetten und speziellen Färbungen, die Entwicklung des Liberalismus und sein Verhältnis zur direkten Demokratie auf: Liberalismus, Radikalismus und Demokratismus.9 Bevor Gruner die Unterschiede der jeweiligen Doktrin aufzeigt, betont er die gemeinsamen Grundlagen: «Der gemeinsame geistige Grund liegt im Bekenntnis zur freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung, zur freien, geistigen Meinungsäusserung, kurz in den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution.»10
  Der schweizerische Liberalismus besitzt seine geistigen Wurzeln einerseits in der Zeit der Helvetischen Republik und andererseits in der Staats- und Gesellschaftslehre Benjamin Constants (1767–1830). Dessen Ansätze waren besonders in der Westschweiz verankert, und so originelle Denker wie Alexandre Vinet, Charles Secrétan und Philippe Bridel haben seine Lehre weiterentwickelt. Constant ist, ähnlich wie John Locke (1632–1704), der Überzeugung, dass das Volk politisch nur durch die Volksvertretung handeln könne. Er befürwortet klar eine repräsentative Demokratie mit einem Wahlzensus, das heisst der Beschränkung des Wahlrechts auf gebildete und besitzende Schichten, und lehnt explizit die direkte Demokratie ab. In klarer Abgrenzung und in Opposition zu Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) formuliert Constant einen individualistischen Freiheitsbegriff, eingeschränkt auf eine schmale Oberschicht. Damit verlassen Constant und seine Nachfolger den Boden des Naturrechts und reden einem utilitaristischen Ansatz das Wort. Die Lehre Constants mündet in den Liberal-Konservatismus beispielsweise von Johann Caspar Bluntschli (1808–1881) und in liberal-radikale Lehren wie die für die schweizerische Regeneration einflussreiche von Ludwig Snell (1785–1854).
  Der schweizerische Radikalismus, der zwar auch in der Schweiz kein geschlossenes System entwickelte, aber das moderne Naturrecht befürwortet, nimmt mit seiner Hauptforderung nach nationaler Einheit das Postulat einer revolutionären Umgestaltung der Schweiz auf und ist damit mitunter treibende Kraft für den Sonderbundskrieg 1847 und die nachfolgende Bundesstaatsgründung. Eine zentrale Quelle des schweizerischen Radikalismus ist Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866), der sich allerdings mit seinen wertkonservativen und religiösen Haltungen nicht einfach einordnen lässt, aber als radikaler Politiker und als Pädagoge des Aarauer Lehrvereins eine breite Wirkung zugunsten der Demokratisierung und der schweizerischen Bundesstaatsgründung erreichte.11 Gerade Troxler betont, dass die Nation nichts anderes sei als der Ausdruck des Volkes als einer natürlichen, urstaatlichen und urbildlichen Gegebenheit. Das eidgenössische Volk sei der eigentliche Souverän, der über allen Gesetzen und Verträgen throne. Konsequenterweise war es Troxler, der ab den 1840er Jahren zusammen mit anderen Radikalen die liberale Vorstellung der repräsentativen Demokratie weiterentwickelte und mit den Forderungen nach Veto, Referendum und Initiative sowie der Wahl möglichst aller Behörden die Volkssouveränität konkretisierte.12
  Die Forderung nach mehr direkter Demokratie, dem Ausbau also der bestehenden Demokratie zur reinen Demokratie, zeigt die dritte Richtung an, nämlich den sogenannten Demokratismus. Die demokratische Bewegung der 1860er Jahre nimmt das Postulat der direkten Demokratie auf und fördert in verschiedenen Kantonen vor allem der Nordwest- und der Ostschweiz gegen das im Freisinn repräsentierte etablierte Bürgertum (im Kanton Zürich das «System Escher») das Ideal einer sozialen Demokratie. Besonders Karl Bürkli (1823–1901) setzte frühsozialistische Akzente mit der Unterstützung der Genossenschaftsbewegung und weiteren wirtschaftspolitischen Forderungen,13 die demokratische Bewegung nährte sich aber auch aus konservativen Quellen. Was nämlich vor 1848 bereits den Katholisch-Konservativen in einzelnen Kantonen mit der Einführung des Gesetzesvetos gelang (zum Beispiel im Kanton Luzern), das versuchen nun auch die Demokraten. Sie verfolgen das Ziel, die Gegensätze in der Industriegesellschaft auszugleichen und die repräsentative Demokratie zu ersetzen; der direkten Demokratie sprechen sie dabei eine gemeinschaftsbildende Kraft zu.14
  Die drei politischen Richtungen des Liberalismus, Radikalismus und Demokratismus einte das Bekenntnis zum nationalen, freiheitlichen Bundesstaat. Die Vertreter des Liberalismus waren lange Zeit der Meinung, die politische Macht sollte einer «natürlichen Aristokratie» und nicht der «ungebildeten Masse» zukommen, ansonsten drohten Anarchie und Ochlokratie. Erst nach 1848 sind bei den Liberalen – auch dank praktischer Erfahrungen mit radikalen und demokratischen Ansätzen – Lernprozesse festzustellen, die den Wert der direkten Demokratie als politisches Instrument, das dauernd für die soziale Integration der Bürger in einer sozialen Einheit sorgt, mehr gewichten.  •



1 Roca, René. Einleitung, in: Ders. (Hg.). Liberalismus und moderne Schweiz, Beiträge zur Erforschung der Demokratie. Band 2, Basel 2017, S. 11–50
2 www.fdp.ch/werte/zukunftsstrategie.html (7.11.2016)
3 Roca, René. Der Beitrag des Katholizismus und der Katholisch-Konservativen zur direkten Demokratie in der Schweiz – Die Kantone Schwyz und St. Gallen. In: Ders. (Hg.). Katholizismus und moderne Schweiz, Beiträge zur Erforschung der Demokratie. Band 1. Basel 2016, S. 57–79, hier S. 78f.
4 Vierhaus, Rudolf. Art. Liberalismus. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur
politisch-sozialen Sprache in Deutschland
, hg. von Reinhart Koselleck et al., Studienausgabe Band 3, Stuttgart 2004, S. 741–785, hier S. 750f.
5 ebd.
6 Bouquet, Jean-Jacques. Art. Liberalismus. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Band 7, Basel 2008, S. 823–827, hier S. 823f.; Roca, René. Bernhard Meyer und der liberale Katholizismus der Sonderbundszeit. Religion und Politik in Luzern (1830–1848). Bern 2002, S. 81–86
7 Tanner, Albert. Art. Radikalismus. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Band 10, Basel 2011, S. 61f.
8 Roca, René. Wenn die Volkssouveränität wirklich eine Wahrheit werden soll … Die schweizerische direkte Demokratie in Theorie und Praxis – Das Beispiel des Kantons Luzern. Zürich/Basel/Genf 2012, S. 223–225
9 Gruner, Erich. Die Parteien der Schweiz. Bern 1969, S. 73–79
10 ebd., S. 74
11 Roca, René. Ignaz Paul Vital Troxler und der Aarauer Lehrverein. Wie eine private Bildungsanstalt die Demokratieentwicklung in der Schweiz entscheidend förderte. In: Argovia 2014, Jahresschrift der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau 126. Baden 2014, S. 140–154
12 ebd.
13 Roca, René (Hg.). Frühsozialismus und direkte Demokratie, Beiträge zur Erforschung der Demokratie. Band 3, Basel 2018
14 Bürgin, Markus. Art. Demokratische Bewegung. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Band 3, Basel 2004, S. 639–641

René Roca (Hg.). Liberalismus und moderne Schweiz

Beiträge zur Erforschung der Demokratie 2

ro. Die liberale Staatsidee wurzelt in der Aufklärungs- und der französischen Revolutionszeit. Sie schlug sich in leitenden Grundsätzen der helvetischen Verfassungen nieder. Damit und mit der Förderung der Volksschule prägte der Liberalismus im 19. Jahrhundert die weitere demokratische Entwicklung in der Schweiz nachhaltig. Jedoch lief die liberale Theorie und Praxis mit ihrem Hang zur Aristokratisierung immer wieder Gefahr, das moderne Naturrecht zu negieren und an dessen Stelle ein utilitaristisches Prinzip zu favorisieren.
  Das im Mittelpunkt von Band 2 stehende Verhältnis des schweizerischen Liberalismus zur direkten Demokratie war zwar ambivalent und konfliktgeladen, doch befruchteten sich beide Denkansätze und wurden in der Praxis zu wichtigen Bausteinen einer modernen Schweiz.

Inhaltsverzeichnis

Elisabeth Kopp und René Roca. Vorwort

René Roca. Liberalismus und direkte Demokratie. Theorie und Praxis in der Schweiz. Eine Einleitung

Paul Widmer. Abweisung der direkten Demokratie in den Ursprüngen der politischen Philosophie des Liberalismus (Emmanuel Joseph Sièyes, Benjamin Constant)

Robert Nef. Zaccaria Giacometti und Friedrich August von Hayek. Wie kompatibel ist der klassische Liberalismus mit der Demokratie?

Werner Ort. Heinrich Zschokke auf der Suche nach der ‹richtigen› Demokratie

Daniel Annen. Die Schweiz – ein liberaler Staat. Aber wie? Demokratische Strukturen für die Eidgenossenschaft bei Kant, Schiller, Ragaz und Inglin

Der Herausgeber

René Roca ist promovierter Historiker und Gymnasiallehrer in Basel. Er gründete und leitet das Forschungsinstitut direkte Demokratie (www.fidd.ch). Er publiziert regelmässig zu den Themen direkte Demokratie, Genossenschaftsprinzip und Naturrecht.

Schwabe Verlag Basel www.schwabeverlag.ch
ISBN 978-3-7965-3639-7

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