In seiner Rede vor dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos am 27. Januar1 warnte der russische Präsident Wladimir Putin vor den Gefahren eines grossen Krieges. Dies war nicht das erste Mal. Unbeeindruckt davon setzen wichtige westliche Massenmedien – auch in der Schweiz – ihren russlandfeindlichen Kampagnenjournalismus fort –, und sie tun dies nicht ohne Rückendeckung interessierter Kreise aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Der wohl grösste Scharfmacher dabei ist die Nato. Dies bewies sie erneut mit ihrem fast 70 Seiten füllenden Papier «Nato 2030: United for a New Era. Analysis and Recommendations of the Reflection Group Appointed by the Nato Secretary General»2 (Nato 2030: Einig für eine neue Ära. Analyse und Empfehlungen einer vom Nato-Generalsekretär eingesetzten Expertengruppe) vom 25. November 2020. Hier wird Russland als «die Hauptbedrohung für die Allianz in diesem Jahrzehnt» bezeichnet. Kovorsitzender der «Expertengruppe» war der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière.
Dass es sich um ein die Realität verzerrendes «Feindbild» handelt, stellt sich heraus, sobald man versucht, den zahllosen massiven Vorwürfen gegen Russland und insbesondere gegen dessen Präsidenten auf den Grund zu gehen. Das gilt auch für die «offiziellen» Vorwürfe der Nato. Das gilt für Vorwürfe im Zusammenhang mit der Ukraine bis hin zum Thema Nawalny und kann an dieser Stelle nicht erneut dargelegt werden. Es ist zu hoffen, dass die schon vor mehr als 100 Jahren von Gustave Le Bon in seinem Buch «Psychologie der Massen» aufgestellte Behauptung, man könne die Menschen jede Lüge glauben machen, wenn man sie nur oft genug und eindringlich genug wiederholt, in unserer Gegenwart vielleicht doch bei vielen das Gegenteil bewirkt: nämlich viele Fragezeichen gegenüber dem penetrant wiederholten «Feindbild Russland».
Strategische Grundentscheidungen der US-Regierungen
Erinnert werden soll lediglich an drei strategische Grundentscheidungen der Nato-Staaten und vor allem ihrer Führungsmacht USA während der vergangenen 30 Jahre.
Über diese und viele weitere Punkte wurde in den vergangenen 30 Jahren viel geschrieben und berichtet – auch in dieser Zeitung –, besser geworden ist jedoch nichts. Im Gegenteil: Die Nato-Staaten rüsten weiter auf – obwohl sie die Rüstungsanstrengungen Russlands (und auch Chinas) nach wie vor bei weitem übertreffen –, die massenmediale Feindbildpropaganda läuft auf vollen Touren, und der dem Friedensanliegen gewidmete Widerspruch gegen die Kriegsvorbereitungen ist heute eher geschwächt als gestärkt – von immer wieder mutigen Ausnahmen abgesehen.
Die Bundeswehr soll in Europa militärisch führen
Und bisher deutet fast alles darauf hin, dass die Nato-Staaten und ihre Verbündeten mit dem neuen US-Präsidenten Joe Biden den Konfrontationskurs verschärfen werden. Dafür stehen aktuell das deutsche «Positionspapier: Gedanken zur Bundeswehr der Zukunft»5 vom 9. Februar 2021 und die im Online-Format durchgeführte Münchner Sicherheitskonferenz am Nachmittag des 19. Februar 20216.
Im Positionspapier der deutschen Bundeswehr, das die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und der Generalinspekteur der Bundeswehr Eberhard Zorn verfasst haben, heisst es unter «Risiken und Bedrohungen» unter anderem: «Russland definiert sich als Gegenmacht zum Westen. Immer deutlicher hat Moskau seine militärischen und politischen Drohungen in jüngster Zeit verschärft und internationale Verträge wissentlich verletzt. Russland wendete in den vergangenen Jahren in seiner Nachbarschaft militärische Gewalt an und rüstet massiv konventionell und nuklear auf.»
Diese Darstellung gibt zwar die Realität sehr verzerrt und ohne jeden Zusammenhang wieder, ist aber eine massgebliche Rechtfertigung für die Forderung nach weiterer Aufrüstung und nach einer deutschen Armee, die zum Kriegseinsatz bereit sein soll. Das Papier formuliert es so: Es brauche «die Bereitschaft und das Können, auch im Kampf zu bestehen». Oder auch so: «Unsere Partner erwarten zurecht grössere deutsche Ambitionen […].» Innerhalb der Nato-Staaten soll Deutschland künftig eine Sonderrolle einnehmen, als «‹Drehscheibe› im Bündnis», eng an der Seite der US-Streitkräfte. Deutschland soll die «Rolle als Anlehnungsnation» einnehmen, «Anlehnungsnation für die Fähigkeiten und Strukturen unserer Verbündeten, vor allem jener mit vergleichsweise kleineren militärischen Möglichkeiten». Daraus erwachse «die Notwendigkeit, die Bundeswehr breit aufzustellen, damit sie in allen militärischen Bereichen für unsere Partner andockfähig ist». Deutschland falle die «Rolle als ‹first responder›» zu, es müsse «auf Grund seiner zentralen Lage schneller als alle anderen bei Krisenfällen insbesondere an den Aussengrenzen von Nato und EU zur Stelle sein. Dies gilt für das Baltikum ebenso wie für den Balkan, für das Mittelmeer ebenso wie für die Nord- und Ostsee.» Für all das, also für «eine moderne, umfänglich einsatzbereite Bundeswehr», sei diese allerdings «weiterhin unterfinanziert» und «noch nicht ausreichend vorbereitet». So heisst es am Ende des Papiers: «Es gilt jetzt, keine Zeit zu verlieren.»
Die «Grossen Vier» in München
In München kamen online vor allem vier Politiker zu Wort: zuerst der neue US-Präsident Joe Biden, dann die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, dann der französische Staatspräsident Emmanuel Macron und schliesslich der britische Premierminister Boris Johnson. Jetzt, nach der Abwahl des US-Präsidenten Donald Trump, waren alle vier Politiker sehr bemüht, Einigkeit zu demonstrieren und Bekenntnisse zur Nato und zur transatlantischen «Partnerschaft» abzulegen. Dabei wurden nicht nur Nettigkeiten ausgetauscht. Joe Biden sprach davon, es gehe darum, «wie wir [!] den Bedrohungen durch Russland» begegnen. Denn: «Der Kreml greift unsere Demokratien an, benutzt die Korruption als Waffe, um zu versuchen, unser Regierungssystem zu unterminieren.» Putin versuche, «Europa zu schwächen – das europäische Projekt und unser Nato-Bündnis». Er wolle auch «die transatlantische Einigkeit und Entschlossenheit unterminieren». Angela Merkel widersprach nicht. Statt dessen sagte sie: «Die transatlantische Partnerschaft hat [unter anderen] zwei grosse Aufgaben, für die wir gemeinsame Strategien entwickeln müssen.» Das betreffe zum einen das Verhältnis zu China. Zum anderen das Verhältnis zu Russland. Es sei ganz wichtig, «dass wir eine gemeinsame transatlantische Russland-Agenda entwickeln».
Frau Merkel wird wissen, dass eine «gemeinsame transatlantische Russland-Agenda» vor allem heissen wird, dass sich die europäischen Nato-Staaten – von wenigen Nischen abgesehen – den Vorstellungen der US-Regierung anzupassen haben.
Worum es geht? Regime change in Russland!
Selbstverständlich wird öffentlich nicht ganz offen gesprochen. Das wird anderen überlassen. Zum Beispiel Gabriel Felbermayr, dem Präsidenten des in Deutschland ansässigen Instituts für Weltwirtschaft. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk vom 11. Februar 2021 äusserte er sich zu den zu diesem Zeitpunkt erst geplanten (und mittlerweile beschlossenen) neuen EU-Sanktionen gegen Russland. Er kritisierte diese, aber nicht, weil er ein Gegner von Sanktionen gegen Russland ist, sondern weil sie ihm bislang zu wenig bewirken: «Die Ziele, die wir gegenüber Russland haben, sind ja sehr grosse. Wir wollen ja nicht weniger als einen Regimewandel in Russland […]. Wenn man Russland wirklich wirtschaftlich in die Knie zwingen will, dann bräuchte man dazu eine grosse Koalition von Ländern, da kann Europa allein nicht so viel ausrichten, wie notwendig wäre.» [Hervorhebung km]
Sehr wahrscheinlich wird an diesem «Projekt» gearbeitet. Wer also hat tatsächlich Gründe, sich bedroht zu fühlen?
Der deutsche Russlandexperte Alexander Rahr hat ein neues Buch geschrieben, das im März 2021 erscheinen wird. Sein bezeichneder Titel «Anmassung. Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt». •
1 vgl. Zeit-Fragen Nr. 4/5 vom 23.2.2021
2 https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/2020/12/pdf/201201-Reflection-Group-Final-Report-Uni.pdf; vgl. auch den Artikel von Manlio Dinucci in dieser Ausgabe von Zeit-Fragen
3 vgl. Zeit-Fragen Nr. 3 vom 9.2.2021
4 Das war kein Versehen, sondern ein deutliches Signal an Russland, dass es in weltpolitischen Fragen nichts mehr mitzubestimmen habe. Man lese als Beispiel für die US-amerikanische Hybris nur einmal die Ausführungen von Zbigniew Brzezinski in seinem 1999 in deutscher Sprache erschienenen Buch «Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft» (englisches Original 1997) und dort das Kapitel «Das schwarze Loch».
5 https://www.bmvg.de/resource/blob/5028534/44dcd6d650e6c1f19ab2b82fe1f9510f/210209_BMin%20%26%20GenInsp_Positionspapier-Bundeswehr%20der%20Zukunft.pdf
6 https://securityconference.org/msc-2021/
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