Die mitmenschliche und gemeinwohlorientierte kulturelle Substanz Europas wieder zum Tragen bringen

von Karl-Jürgen Müller

Die westliche Behauptung, Russland habe «unprovoziert» die Ukraine angegriffen, lässt sich bei genauerem Hinsehen nicht halten. Vielmehr haben US-Regierung und Nato mit langer Vorplanung diesen «Stellvertreterkrieg» («bis zum letzten Ukrainer») gegen Russland heraufbeschworen. Auch wenn die hiesige Propagandawalze uns ständig das Gegenteil – ein friedliebender Westen gegen ein aggressives Russland – weismachen will.
  Bei diesem Stellvertreterkrieg machen auch die meisten europäischen Regierungen mit. Nicht nur diejenigen der europäischen Mitgliedsstaaten von Nato und EU, sondern auch solche zuvor neutralen Staaten wie die Schweiz haben sich – wo sie nicht aus eigener Überzeugung handeln – dem massiven Druck gebeugt.
  Noch will keiner der Verantwortlichen öffentlich zugeben, dass diese Politik eine Sackgasse ist. Um so wichtiger wird die Forderung nach einem eigenständigen europäischen Weg – nicht als machtpolitische Variante zur US-Politik, sondern als friedenspolitischer Ausweg auf der Grundlage der mitmenschlichen und gemeinwohlorientierten kulturellen Substanz Europas.

«Krieg der Zivilisationen»

Guy Mettan hat in seinem Beitrag für Zeit-Fragen (Nr. 11 vom 17. Mai 2022) davon gesprochen, der Krieg in der Ukraine habe nicht nur eine regionale Dimension, sondern sei auch ein «Krieg der Zivilisationen». Es sei ein «Krieg des Individualismus und der abstrakten Werte gegen eine traditionellere und humanistischere Vision der menschlichen Gesellschaft», einer «sogenannten progressiven Moral» gegen eine Weltanschauung, «die mehr darauf bedacht ist, das Erbe des alten griechischen, lateinischen und christlichen Humanismus zu respektieren».
  Am 21. Oktober 2021 hatte der russische Präsident Wladimir Putin einen grundlegenden Vortrag über die für Russland wichtigen Werte gehalten, der auch in dieser Zeitung veröffentlicht wurde («Die Bedeutung eines soliden, wertebasierten Fundaments. Werte im heutigen Russland und der radikale Wertewandel im Westen», Nr. 24 vom 2. November 2021). Schon bei dieser Rede war aufgefallen, dass der russische Präsident nichts spezifisch Russisches vorgetragen hatte, sondern an Grundlagen und Werte erinnerte, die konstituierend sind für das, was auch als europäische Werteordnung bezeichnet werden kann. Henry Kissinger hatte Recht, als er beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos darauf hinwies, dass Russland 400 Jahre lang Europas Geschicke mitbestimmt habe.

2015: «Manifest für Europa»

Vor fast sieben Jahren verabschiedete der Jahreskongress der «Europäischen Arbeitsgemeinschaft ‹Mut zur Ethik›» eine Abschlusserklärung (auch veröffentlicht in Zeit-Fragen Nr. 24 vom 15. September 2015), in der an die europäische Werteordnung erinnert wurde. Dieses «Manifest für Europa» brachte die grosse Sorge der Kongressteilnehmer über eine immer weitergehende Aushöhlung der europäischen Wertesubstanz zum Ausdruck. Schon vor sieben Jahren formulierten sie:

«Seite an Seite mit den USA und in fast sklavischer Gefolgschaft zu ihnen brechen Regierungen von EU-Staaten und die Nato seit vielen Jahren das Völkerrecht. […] Der Krieg gegen Jugoslawien 1999 war der Sündenfall. […] 2004 sowie 2013 und 2014 hat sich mit den USA auch die EU massiv in die inneren Angelegenheiten der Ukraine eingemischt und mit dazu beigetragen, dass dort – mitten in Europa – ein Krieg tobt.»

Europas kulturelles Erbe

Dem stellte der Kongress «Europas kulturelles Erbe» gegenüber und erinnerte daran:

«Die Geschichte Europas ist eine Geschichte des Unrechts und der Gewalt, aber auch eine Geschichte ihrer Überwindung aus eigener moralischer Einsicht und politischer Kraft. Die christlich-humanistische abendländische Tradition hat tragfähige Grundlagen für Rechtsgleichheit, Humanität und Anerkennung der Menschenwürde entwickelt. Immer wenn diese Grundlagen geschichtsmächtig geworden sind, wurde das Zusammenleben der Menschen und Völker friedlicher, gerechter und sicherer.»

Und:

«Europa ist geprägt durch eine reiche Vielfalt von Kulturen und Nationen auf kleinem Raum, von Kreta bis zum Nordkap, von Lissabon bis Jekaterinburg. Menschen in ganz Europa haben in mehr als 2500 Jahren in allen Bereichen vieles hierzu beigetragen. Für das Zusammenleben in Frieden und Freiheit war die Rechtsentwicklung hin zu immer mehr Gerechtigkeit von grundlegender Bedeutung für Europa und die Welt.
  Europa hat wesentlich dazu beigetragen, dass heute die Menschenrechte und die Grundsätze des Völkerrechts in internationalen Verträgen (Charta der Vereinten Nationen, Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) und in nationalen Verfassungen garantiert sind.»

Treu und Glauben

Die Kongressteilnehmer stellten auch fest:

«Treu und Glauben müssen wieder Grundlage allen menschlichen Zusammenlebens und politischen Handelns sein. Ohne dieses Prinzip gibt es kein Vertrauen in Verträge innerhalb der Staaten und zwischen den Staaten, und der Willkür ist Tür und Tor geöffnet. Steuerungsmechanismen (‹Governance›) und Manipulationstechniken aller Art, die durch den Missbrauch psychologischer Methoden Menschen ohne vollständige und offene Information beeinflussen wollen, rauben dem Bürger die Möglichkeit der unabhängigen Meinungsbildung. Sie verletzen dadurch die Würde der Person und zerstören die Grundlage des politischen Dialogs und der Rechtsordnung.»

Demgegenüber gelte:

«Menschen sind fähig, mit ihrer Vernunft und ihrem Mitgefühl die notwendigen Grundorientierungen eines sittlichen und politischen Handelns zu erkennen und mitmenschlich zu denken, zu fühlen und zu handeln. Dies ist dem Menschen als Disposition gleichsam ins Herz geschrieben. Von Vernunft und Gewissen geleitet, sind diese Orientierungen dazu bestimmt, die Gesamtheit der sittlichen, rechtlichen und politischen Festlegungen, die das Leben des Menschen und der Gesellschaft leiten, grundzulegen. Sie garantieren die Würde der menschlichen Person angesichts vorübergehender Ideologien.»

Wichtige Stimmen für ein eigenständiges Europa

Von all dem hat sich das Europa der Nato und der EU in den vergangenen sieben Jahren noch weiter entfernt. Es ist deshalb sehr wichtig, dass immer wieder Bücher erscheinen, die einen eigenen europäischen Weg fordern, eigenständig und unabhängig von der bisherigen US-amerikanischen Hegemonie und deren Vorgaben für Europa. An dieser Stelle sei lediglich auf drei sehr lesenswerte deutschsprachige Veröffentlichungen verwiesen: «Ami go home! Eine Neuvermessung der Welt» von Stefan Baron aus dem Jahr 2021, «Die scheinheilige Supermacht. Warum wir aus dem Schatten der USA heraustreten müssen» von Michael Lüders aus dem Jahr 2021 und «Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche» von Klaus von Dohnanyi aus dem Jahr 2022.
  Selbst in den derzeit fast gleichgeschalteten Mainstream-Medien findet der Leser ab und zu wertvolle Ausnahmen. So den Artikel «In der Ukraine sollte die EU nicht den USA folgen, sondern nach Frieden streben» in der «Berliner Zeitung» vom 28. Mai 2022. Verfasser ist Michael von der Schulenburg, ein ehemaliger ranghoher deutscher Diplomat bei der OSZE und den Vereinten Nationen.

Auf die EU zu hoffen wäre eine Illusion

Der Weg hin zu einem eigenständigen Europa, einem Europa, das sich auf seine geschichtlichen Wurzeln, auf seine mitmenschlich orientierte kulturelle und staatspolitische Substanz besinnt und so zum Frieden in Europa beiträgt, wird nicht einfach sein. Zu dieser Substanz gehören sicherlich Christentum, Humanismus und Aufklärung. Kultur heisst aber immer auch Kulturentwicklung. Europa hat auch immer dann Fortschritte gemacht, wenn es seine Türen für andere Kulturkreise und deren Errungenschaften zum Wohl der Menschen geöffnet hat. Der Austausch, der Dialog der Kulturen ist unverzichtbar.
  Unrealistisch wäre eine solche «Renaissance» sehr wahrscheinlich, wollte man dabei auf die Strukturen der heutigen Europäischen Union setzen. Diese Strukturen und dieses Gebilde sind eben auch ein Kunstprodukt mit starken US-amerikanischen Einflüssen, viel stärker noch als in den verschiedenen europäischen Nationalstaaten, die noch Restbestände ihrer geschichtlichen und kulturellen Identität besitzen. Der EU fehlt es an freiheitlicher und demokratischer, an geschichtlicher und humaner Substanz. Eine Metamorphose hin zu einem angemessenen Instrument europäischer Eigenständigkeit ist wohl eine Illusion.
  Um so wichtiger sind die Bürgerinnen und Bürger aller europäischen Länder. Auf sie wird es ankommen, wenn es darum geht, die Substanz Europas wieder zum Tragen zu bringen. •

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