Exekutiven in Bund und Kantonen höhlen demokratische Volksentscheide aus

Beispiel Stromversorgung

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Die hervorragende Analyse von SVIL-Geschäftsführer Hans Bieri zur Ernährungssicherheit in der Schweiz (siehe Artikel diese Ausgabe) hat mich dazu bewogen, seine Überlegungen hinüberzudenken zur Frage der Energieversorgungssicherheit, die der Autor im übrigen auch miteinbezieht. Denn ohne genügend Energie läuft gar nichts, auch nicht die landwirtschaftliche Produktion. Anlass zu meinem Artikel ist auch das Referat eines Fachmanns für die Strom- und Gasversorgung in meiner Wohngemeinde. Was tun wir Bürgerinnen und Bürger, um unsere Behörden wieder unmissverständlich auf den Volkswillen zu verpflichten?

Schweiz ist zu rund 90 Prozent Stromselbstversorger

Im Gegensatz zur Landwirtschaft, die, wie Hans Bieri schreibt, nur einen Selbstversorgungsgrad von 55 Prozent aufweist, werden heute rund 90 Prozent des Schweizer Strombedarfs im Inland produziert (rund 55 % Wasserkraft, 30 % Kernkraft, 5 % neue Erneuerbare). Mit der Erhöhung von Staumauern könnte noch um einiges zugelegt werden, aber beim Zubau grösserer Solaranlagen in unbewohnten sonnigen Hochtälern oder an Südhängen tut sich etwas. Dank vom Parlament beschlossener grosszügiger Subventionen sind im Wallis und in Graubünden bereits mehrere grosse Solaranlagen geplant – was bei Berücksichtigung der zunehmenden E-Mobilität und der hohen Zuwanderung auch nötig ist. Falls die Schweizer AKW, wie vom Volk beschlossen, wirklich abgeschaltet werden sollen, werden weitere «Nägel mit Köpfen» gefragt sein.
  Angesichts des hohen Anteils der Selbstversorgung und der erfolgreichen Spar-Appelle des Bundesrats (bereits 10 Prozent weniger Stromverbrauch) wäre es eigentlich logisch, dass die Schweizer Strompreise nicht allzu sehr steigen sollten. Warum steigen sie – auch in der Grundversorgung – trotzdem?

Amtliche Klarstellung:
Ukraine-Krieg ist nicht Hauptursache der stark steigenden Energiepreise

Andreas Gnos, Leiter Netz und Technik der Technischen Betriebe Wil (TBW), bestätigt Medienmeldungen, wonach die Schweizer Haushalte und KMU in der Grundversorgung 2023 mit durchschnittlich 30 % höheren Stromkosten rechnen müssen. Der Ukraine-Krieg ist aber laut Gnos nicht die Hauptursache des zu erwartenden Engpasses: Erst seit dem Ausfall einer grossen Zahl französischer AKW drohe eine Mangellage, was die Marktpreise hochschnellen liess. Am höchsten waren die Preise im August/September.
  Viele Schweizer Gemeinden haben eigene Kraftwerke und sind deshalb weniger den Preisschwankungen des Marktes ausgesetzt. Dies bedeutet niedrigere Stromtarife für ihre Bevölkerung. Dass Gemeinden ohne eigenes Kraftwerk den Strom «auf dem Markt» einkaufen müssen, hatte ich schon früher auf der Homepage der Eidgenössischen Elektrizitätskommission ElCom gelesen, dabei dachte ich (etwas unüberlegt) an den Schweizer Strommarkt, also an die Kraftwerke im Land.

Strom von der Strombörse Leipzig zu volatilen Preisen

Im Referat von Herrn Gnos der TBW hörte ich zum ersten Mal, dass meine Wohngemeinde und viele andere den Strom an der Strombörse Leipzig (!) einkaufen. Die Lieferanten verdienen gut, bemerkte er.
  Ja, Gopfriedstutz, wir haben doch vor 20 Jahren in der eidgenössischen Volksabstimmung über das Elektrizitätsmarkt-Gesetz (EMG) nein gesagt zur sogenannten «Öffnung», sprich Privatisierung des Strommarktes (sieheZeit-Fragen vom 20. September 2022). Ohne den Volkswillen zu beachten, haben Bundesrat und Parlamentsmehrheit wenige Jahre später die Teilöffnung des Strommarkts für grössere Unternehmungen beschlossen (Stromversorgungsgesetz, in Kraft seit 2008). Die Haushalte, und nach Wunsch auch die KMU, sind zwar weiter in der Grundversorgung und haben Anspruch auf eine genügende und günstige Stromversorgung. Aber wie günstig der Strom genau ist, wird nicht zwischen den Kantonen und den Kraftwerken entschieden, sondern eben auf dem sogenannt freien Markt. Eindrücklich ist, dass zum Beispiel in meiner Wohngemeinde 70 % der KMU freiwillig in der Grundversorgung geblieben sind – trotz der Verlockung der damals niedrigeren Energiepreise.
  Wenigstens steigen die Strompreise für die Haushalte und die in der Grundversorgung verbliebenen Unternehmungen 2023 weniger stark als die Preise für Unternehmungen, die sich selbst auf dem Markt versorgen. «Warum der Unterschied?» fragte ich die Eidgenössische Elektrizitätskommission ElCom. Gemäss Simon Witschi, Leiter Sektion Kommissionssekretariat, sind die Tarife nicht nur von den Preisen am Grosshandelsmarkt abhängig, sondern auch von der Beschaffungsstrategie und dem Produktions-Portfolio eines Energieversorgungsunternehmens. «Grundsätzlich sind […] Stromversorger, die einen grossen Anteil ihres Stroms selbst produzieren, weniger vom Preisanstieg am Grosshandelsmarkt betroffen. Tiefere Tarife können jedoch auch jene Stromversorger haben, die ihren Strom bereits früher längerfristig am Markt eingekauft hatten. Diejenigen, die keine oder wenig Eigenproduktion und eine eher kurzfristig ausgerichtete Beschaffungsstrategie haben, sind von den aktuell hohen Marktpreisen (insbesondere, wenn sie im August eingekauft haben) stärker betroffen und werden deshalb ihre Tarife stärker erhöhen.» Simon Witschi nennt noch weitere Faktoren, schliesst aber mit den Worten: «[…] wenngleich die teilweise zu beobachtenden hohen Tarifsprünge für 2023 insbesondere auf die höheren Energietarife zurückzuführen sind.» Zusammengefasst: Schwankende Marktpreise auch in der Grundversorgung – je umsichtiger der Stromversorger, desto tragbarer die Aufschläge – aber nur, wenn wir Glück haben!

Swissgrid als «Meilenstein auf dem
Weg zur Strommarktliberalisierung»

Mit demselben Gesetz von 2008 hat die Schweiz gemäss EU-Vorgaben (ohne dazu verpflichtet zu sein) das Übertragungsnetz rechtlich von den Kraftwerksgesellschaften getrennt, um die Liberalisierung gegen den Willen der Stimmbürger durchzuziehen. Längst ist unser Stromnetz fest eingebunden ins EU-Stromnetz, was durchaus nicht nur zum Nutzen der Schweiz ist: «Seit 2009 ist Swissgrid als nationale Netzgesellschaft für den Betrieb, die Sicherheit und den Ausbau des 6700 Kilometer langen Höchstspannungsnetzes verantwortlich», ist auf der Homepage von Swissgrid zu erfahren. Und jetzt geht’s zur Sache: «2013 hat Swissgrid das Netz übernommen und damit einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur Strommarktliberalisierung gesetzt.» (https://www.swissgrid.ch/de/home/about-us/company/history.html; Hervorhebung mw)
  Seit mehr als 20 Jahren versuchen der Bundesrat und seine Verwaltungsmannschaft also, die Schweizer Bevölkerung zu einem Stromabkommen mit der EU zu bringen. Wie am 20. September 2022 in Zeit-Fragen berichtet wurde, wollte der Bundesrat vor kurzem die totale «Öffnung» aufgleisen – aber er hat einen sehr ungünstigen Zeitpunkt erwischt. Jetzt, wo viele Unternehmen wieder in die Grundversorgung drängen wollen, weil sie im «freien» Markt astronomische Preisaufschläge bezahlen müssen, hat die zuständige Ständeratskommission am 9. September derlei Liberalisierungspläne abgewinkt.

An diesen Pflöcken müssen wir festhalten

– Kantonale Volksvertreter statt Verwaltungsgremien in Bern
Und warum sorgt die Axpo, die zu 100 Prozent den Nordostschweizer Kantonen gehört, nicht für günstigen Strom in der Grundversorgung? Dies fragte ich die zuständige Regierungsrätin in meinem Kanton. Ihre Antwort steht noch aus. Dass die Axpo ein internationaler Grosskonzern ist, der im Ausland in Kraftwerke investiert, ist bekannt. Wir erwarten jedoch von unseren Kantonsregierungen, dass sie zuerst für ihre Bevölkerung schauen und der Axpo, BKW oder Alpiq den Tarif durchgeben. Aber die kantonalen Regierungsräte sitzen ihr Mandat, das ihnen das Stimmvolk zu treuen Händen übergeben hat, offenbar lieber zum Teil in Bern an den Direktorenkonferenzen ab – im «Haus der Kantone», wo sie von den Leuten aus der Bundesverwaltung erfahren, was von ihnen erwartet wird. Gut, sie könnten auch einmal nein sagen, und ab und zu tut das vermutlich der eine oder andere (im Gegensatz zu unseren kantonalen Behörden gilt dort das Öffentlichkeitsprinzip nicht, deshalb können wir nicht immer wissen, wer wann zu was ja oder nein gesagt hat).

– Kraftwerke in der Hand der Bürger behalten – am besten in den Gemeinden oder in Genossenschaften
Die zuständigen Bundesrätinnen versuchen die Bevölkerung seit Jahren mit wenig Wirkung von den zahlreichen kleinräumigen und demokratisch organisierten Stromgesellschaften abzubringen, die sich neben den grossen Energiekonzernen hartnäckig halten. Das Schweizer System ist halt einfach nicht EU-kompatibel! Die bald abtretende Chefin des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK, Bundesrätin Simonetta Sommaruga, war in dieser Hinsicht relativ zurückhaltend, im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin, Doris Leuthard. Diese antwortete im Herbst 2017 auf die Frage, wo die Politik tätig werden müsse, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten: «Es braucht die Marktöffnung im Inland und den Zugang zum EU-Strombinnenmarkt. Seit der teilweisen Marktöffnung vor ein paar Jahren ist es unter den rund 700 Schweizer Versorgern zu keiner Konzentration gekommen. Mit weiterhin so vielen Akteuren und über 8000 Tarifen wird es schwierig.» Zusatzfrage: «Befürchten Sie, dass dieser föderalistische Wirrwarr [!] das Stromabkommen mit der EU zu Fall bringen wird?» Darauf griff die Strahlefrau Doris Leuthard zum Holzhammer: «Die kleinen Versorger sträuben sich gegen die vollständige Liberalisierung, weil wenig Leidensdruck besteht. […] Da müssen wir mit den Kantonen und dem Verband der Elektrizitätsunternehmen sprechen und sagen: Wenn ihr weiter verantwortlich sein und Geschäfte machen wollt, müsst ihr euch anders strukturieren. Das wird sicher eine schwierige Diskussion.»1
  «Schwierig» sind die «vielen Akteure», nämlich die Gemeinden und Kantone als Kraftwerk-Eigentümer, weil in der EU ein staatliches Beihilfeverbot gilt. Deshalb rät Leuthard zu «anderen Strukturen», nämlich zur Umwandlung der Kraftwerke in einem ersten Schritt zu Aktiengesellschaften, die dann später fusionieren und ihre Aktien an private Investoren verkaufen könnten. Wenige Monate vor diesem Interview, im Mai 2017, hatte das Stimmvolk der «Energiestrategie 2050» zugestimmt, in der das längst in der Pipeline liegende Stromabkommen mit der EU mit keinem Wort erwähnt worden war. Im Oktober offenbarte Leuthard: «Wir sind bereit. Es braucht nur noch einen Bundesbeschluss für die vollständige Öffnung.»

Und heute?

Heute, fünf Jahre später, sind zwar fast alle Wasserkraftwerke AGs, aber die Aktien bleiben meist zu 100 % in der Hand der Gemeinden und Kantone. Einige Fusionen fanden statt, aber es gibt immer noch Hunderte von Kraftwerksgesellschaften in der Schweiz. Und dies nicht etwa nur auf dem Land: Das Kraftwerk der grössten Gemeinde der Schweiz, das EWZ (Elektrizitätswerk Zürich), ist eine Dienstabteilung des Departements der Industriellen Betriebe der Stadt Zürich, also Teil der Verwaltung! Von seinen rund 1200 Mitarbeitern arbeiten etwa 100 im Kanton Graubünden, wo Zürich seit vielen Jahrzehnten eigene Kraftwerke hat. Den von Leuthard genannten «Bundesbeschluss für die vollständige Öffnung» hat die zuständige Ständeratskommission vor kurzem abgelehnt, weil dieser in der heutigen Situation eine Referendumsabstimmung kaum überleben würde.
  Und’s Tüpfli ufs I: Am 24. November 2022 hat der Bundesrat bekanntgegeben, dass er denjenigen KMU, die in die Strom-Grundversorgung zurückwollen, weil sie die Marktpreise nicht stemmen können, ein Törchen dazu öffnen will. Die Bedingungen: Sie müssen sich mit anderen KMU zu einem Stromverbund zusammentun, ihre Leitungen miteinander verbinden und mindestens 10 % ihres Strombedarfs selbst produzieren. Und sie müssen mindestens sieben Jahre in der Grundversorgung bleiben. Damit rücken Verhandlungen mit Brüssel zu einem Rahmenvertrags-ähnlichen Konstrukt noch mehr in die Ferne. Denn das Rahmenabkommen wurde von der EU schon seit 2014 «als Grundbedingung für das Stromabkommen hochstilisiert» (Doris Leuthard).
  Ja, wir hängen mit mehr als einem Bein im EU-Spinnennetz – pardon, Stromnetz, aber es besteht noch Hoffnung in der direkten Demokratie Schweiz … Nach den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts sei es darum gegangen, seine «eigene Behausung wiederherzustellen», so Hans Bieri. «Heute», fährt er fort, «werden die Voraussetzungen dafür, die ‹eigene Behausung wiederherzustellen›, allerdings Zug um Zug und in sich beschleunigendem Tempo zerrüttet.» An uns Bürgern ist es, mit aller Kraft Gegenwehr zu leisten.  •



1 Müller, Giorgio V. und Stalder, Helmut. «‹Wir können eine Strommarktöffnung nicht auf ewig aufschieben›. Interview mit Bundespräsidentin Doris Leuthard». In: Neue Zürcher Zeitung vom 28.10.2017

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