von Peter Küpfer
Vielen Teilnehmern der Konferenz «Mut zur Ethik» 2021 wird der in dieser Nummer von «Zeit-Fragen» wiedergegebene Beitrag von Professor Stanislas Bucyalimwe Mararo, eine von ihm für Zeit-Fragen verfasste kürzere Version seines Vortrags, in eindrücklicher Erinnerung bleiben. Hier sprach ein kongolesischer Patriot, ein unparteilicher und den Fakten verpflichteter Historiker und Politikwissenschafter, unbeugsamer Verfechter der Menschenrechte, die überall auf der Welt und für alle Menschen gelten müssen. Seine Perspektive ist weit, seine Analyse unbestechlich, sein Fazit folgerichtig. Da das Referat vieles aus der von schweren Leiden geprägten jüngeren Geschichte des Riesenlandes im Kern Afrikas voraussetzt, seien im folgenden einige Fakten in Erinnerung gerufen, die diese Geschichte beleuchten. Eine detailliertere Darstellung der neueren Geschichte des Kongo, besonders seiner bis heute in einer unerträglichen Lage lebenden Bevölkerung im Nord-Kivu, wurde in Beiträgen in dieser Zeitung in loser Folge dokumentiert, mit Verweis auf entsprechende Quellen und Dokumente, von denen viele den Werken Bucyalimwes entnommen sind.1 Die aufgerollte Problematik beleuchtet die Dringlichkeit der Frage, die auch Grundthema der Konferenz von «Mut zur Ethik» war: wie die Menschheit es anstellt, von der Konfrontation zur Kooperation zu finden. Eines der grössten Hindernisse dazu ist offensichtlich der Wahn, nur Vormachtstellung schaffe Sicherheit. Das Beispiel Kongo zeugt davon, wieviel Leiden dieser Wahnsinn anrichtet.
Eines kommt noch hinzu: In Zeiten der Kriege überall auf der Welt und der Vorbereitung eines Entscheidungskrieges der «Welt-Mächte», ist die Politik dieser Grossmächte oft nicht das, was ihre Bevölkerungen wollen. Die Völker wollen Frieden und menschenwürdige Zustände, überall auf der Welt. Selbst nach mörderischen Flächen-Kriegen, wie es der Zweite Weltkrieg war, sind es Initiativen aus der Bevölkerung gewesen, die zuerst die Hand in Richtung ihrer ehemaligen «Feinde» ausgestreckt haben. Die heute wieder so grosse Bedeutung erlangenden Städte-Partnerschaften, gerade die zwischen deutschen und russischen Städten, zeugen davon. Es ist diese «Diplomatie der Völker», welche einen unschätzbaren Beitrag zum Weltfrieden leistet. Zwischen Menschen, die sich ehemals als erbitterte Feinde an den Kriegsfronten gegenüberstanden, sind echte Freundschaften entstanden, oft auch unter ihren Kindern und Kindeskindern. Diese Verbindung der Menschen und Völker untereinander, diese natürliche Diplomatie des Austauschs und der Verständigung, sollten wir stärken. Sie ist eines der Mittel, die Welt vom Wahn der «Politik» der Vorherrschaft zu befreien.
Fragwürdige «Unabhängigkeit»
Die tatsächliche Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Kongo dauerte kaum drei Wochen. An der Unabhängigkeitsfeier vom 30. Juni 1960, an welcher der bis heute einzige wirklich demokratisch gewählte Ministerpräsident Patrice Lumumba der versammelten belgischen Festgemeinschaft (in Anwesenheit von König Baudouin) die wenig festliche Seite der mehr als 50jährigen Kolonialzeit unter Belgien beim Namen nannte und die bisherigen Ausbeuter seiner Bodenschätze auf den rechtlich sauberen und fairen Handel zurückwies, war seine «Liquidierung» bereits beschlossene Sache. Knapp drei Wochen später rief der katangische Milliardärssohn Moïse Tshombe die Unabhängigkeit der Kupfer-Provinz Katanga aus, wieder wenige Wochen später Albert Kalonji diejenige von Süd-Kasai, wo die immensen Diamantenminen liegen. Damit begann das vierjährige Chaos, das als Kongo-Wirren in die Geschichte einging. Ein halbes Jahr später, am 16. Januar 1961, war Patrice Lumumba tot, mithilfe der CIA und der belgischen Armee feige ermordet (Ludo de Witte, «L’assassinat de Lumumba», Paris 2000; Titel der deutschen Ausgabe: «Regierungsauftrag Mord»).
Schon bald regierte dieses reale «Schattenkabinett» mit seinem Gewährsmann Mobutu wieder den wehrlosen Staat. 1965 putschte Mobutu Sese seko und blieb dann 32 Jahre als Alleinherrscher an der Macht. Der Kongo hatte damit nie die Chance, das zu werden, was er sich erhofft hatte, ein wirklich unabhängiger eigener Staat. Der Diktatur von Mobutu mittels seiner Einheitspartei MPR (Mouvement Populaire de la Révolution) lag ein von allen Beteiligten eingehaltener inoffizieller «Vertrag» zugrunde: Tolerierung der Mobutu-Alleinherrschaft gegen Lieferung der begehrten Rohstoffe zu Vorzugsbedingungen sowie den bedingungslosen Anschluss des Landes an die geostrategischen Interessen der Nato in Afrika.
Nennt man das Unabhängigkeit?
Neue Fremdherrschaft
In den letzten Jahren der Mobutu-Diktatur, ab 1990, veränderte sich die politische Grosswetterlage, in der Mobutu afrikapolitisch unentbehrlich war: Der Kalte Krieg gegen die Sowjetunion nahm nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks ein unerwartet schnelles Ende. Das hiess für die damals sich selbst als «alleinige Weltmacht» sehenden und gerierenden Vereinigten Staaten: Der Kongo musste weiter bedingungslos ihren eigenen Interessen zur Verfügung stehen. Dabei warteten die USA nicht, bis das Mobutu-Regime aus eigener innerer Schwäche zusammenbrach. Mobutu musste weg und ein Ersatz für dessen bereitwilliges Regime gefunden werden.
Dabei wollten die USA zunächst ihren afrikanischen, inzwischen verlässlich westorientierten Musterknaben Yoweri Museveni ins Spiel bringen. Dieser war, wie sein Freund und Kampfgenosse Paul Kagame (Ruanda), in jungen Jahren in der tansanischen Kaderschmiede in Daressalam (Tansania) in allen Sparten des modernen Guerillakampfes marxistischer Prägung ausgebildet worden (sie stammte noch aus der Zeit des legendären maoistisch inspirierten Neomarxisten Julius Nyerere).
Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks hatte Museveni eine spektakuläre Kehrtwende vollzogen und wurde unter der Regentschaft von Reagan, dann Clinton, zum Klassenersten der «neuen Generation» amerikahöriger afrikanischer Einzelherrscher. Seinen langjährigen Dschungelkampf gegen den früheren ugandischen Präsidenten Milton Obote hatte Museveni schliesslich 1986 mit seiner National Resistance Army (NRA) gewonnen, mit amerikanischer Unterstützung, vor allem durch ihre Hightech-Kriegsmaschinerie und, dies war entscheidend, mit der militärischen Mitwirkung von Paul Kagame und dessen ruandischer Exil-Guerilla der Tutsi-Emigranten in Uganda. Als Entgelt dafür machte Museveni diesen Kagame zum stellvertretenden Chef des ugandischen Innengeheimdienstes, was Kagame ein grosses Netz von Verbindungen, offenen und geheimen, in die Hand spielte. Als Kagame wenige Jahre später in Musevenis Uganda die revanchistische Guerillaarmee der emigrierten ruandischen Tutsi, den FPR (Front Populaire Rwandais), aufbaute, welcher die ehemalige Herrschaft der Tutsi-Minderheit in Ruanda mit Waffengewalt wiederherstellen wollte, setzte die amerikanische Administration für ihre Kongo-Pläne mehr auf diesen jungen Dschungelstrategen, der seinen letzten Schliff an der amerikanischen militärischen Elite-Hochschule in Fort Leavenworth bekommen hatte, bevor er sich an die Spitze des FPR setzte. Ab 1990 eröffnete dieser den fälschlich so genannten Bürgerkrieg gegen die ruandische Ausgleichsregierung unter Juvénal Habyarimana mit Überfällen auf ruandisches Territorium, welche die schwache ruandische nationale Armee zunächst gar nicht, dann nur zögerlich abwehren konnte. Es war Frankreich, das dem bedrängten ruandischen Präsidenten mit militärischen Beratern, Waffen und Munition zu Hilfe kam.
Der «Bürgerkrieg» in Ruanda, der nie einer war
In der offiziellen Darstellung des «neuen Ruanda» wird ein propagandistisches, den Tatsachen widersprechendes Bild der tragischen Ereignisse der neunziger Jahre gezeichnet. Es beruht auf den folgenden Konstrukten: In Ruanda sei nach der Unabhängigkeit von 1962 die gebildete und politisch-militärisch-soziale Elite der Tutsi-Minderheit (siehe Kasten), unterdrückt worden. In den Jahren des ruandischen Bürgerkriegs sei der Hass der Hutu-Mehrheit auf die Tutsi in den ruandischen Medien, vor allem im Radio geschürt worden. Um das Fass zum Überlaufen zu bringen, hätten Hutu-Extremisten ein Attentat auf den gemässigten Staatspräsidenten Juvénal Habyarimana (Hutu) verübt. Unmittelbar darauf seien dann die Horden der Interahamwe (Hutu-Milizen) systematisch in Pogromen auf die Tutsi-Bevölkerung losgegangen und hätten sie nach einer tödlichen Systematik zu Hunderttausenden auf offener Strasse umgebracht. Erst die Eroberung Kigalis durch die Tutsi-Guerillaarmee (FPR) unter Paul Kagame im Juli 1994 und seine Regierungsübernahme habe dem Morden Einhalt geboten.
Diesem Bild widerspricht eine ganze Zahl inzwischen gut dokumentierter Fakten. Das mörderische Wüten der Hutu gegen die Tutsi-Inlandbevölkerung von 1994 hat stattgefunden, ob so, wie es «offiziell» dargestellt wird, bleibt offen. Auch das Attentat auf das Präsidentenflugzeug durch eine Boden-Luft-Rakete beim Anflug auf den Flughafen Kigali vom 6. April 1994, bei dem die beiden Staatspräsidenten Ruandas und Burundis (beides Hutu) sowie hohe ruandische Offiziere den Tod fanden, hat stattgefunden. Es war der Funke am Benzinfass, der dann die Exzesse ausgelöst hat. Sie stehen allerdings, wie jedes derartige Ereignis, nicht isoliert da. Sie haben ihre Vorgeschichte (vgl. Kasten).
Inzwischen liegen genügend Dokumente vor, die den Schluss nahelegen, dass nicht die Hutu das Flugzeug-Attentat begangen haben, das das Töten 1994 (zumindest emotional) auslöste, sondern eine Spezialeinheit unter dem direkten Befehl von Kagame. Tatsache ist weiter, dass der FPR in den seit 1990 von Uganda aus rückeroberten nordruandischen Zonen die Hutu-Zivilbevölkerung schon Jahre vor «dem» Genozid von 1994 systematisch mit Massenexekutionen terrorisiert hat. Diese sind vielerorts bezeugt und finden sich, mit Ortsangabe, Daten, Namen der Täter und Namen der Opfer (oft handelte es sich dabei um lokale Würdenträger oder Priester und Nonnen der katholischen Kirche, siehe Kasten «Aufruf des Erzbischofs Munzihirwa»), in vielen ernsthaften Dokumentationen, auch offiziellen Uno-Berichten. Die Weltöffentlichkeit spricht aber im Zusammenhang mit diesen belegten Vorfällen immer nur von «dem» Genozid der Tutsi» (und meint damit an den Tutsi). Dabei sind es gerade die Tatsache, dass der FPR in den zurückeroberten ruandischen Gebieten systematisch mit Terroraktionen und Massenexekutionen gegen Hutu und «ange-passte Tutsi» vorgegangen ist, sowie die Attentatswelle in Kigali vor dem Flugzeugabschuss von 1994, die bei vielen ruandischen Hutus Angst, Abwehr und im Zusammenhang damit wohl auch Hassgefühle gegen die Tutsi erzeugten. Es gab in dieser Zeit in Ruanda nicht «den Genozid», sondern mehrere.
«Rebellions»-Krieg»?
Als sich, zwei Jahre danach (im Oktober 1996), die dschungelkriegserfahrene ruandische Guerillaarmee APR (Armée Populaire Rwandaise) unter Paul Kagame daran machte, das marode Mobutu-Regime im benachbarten Riesenland Kongo (Zaïre) militärisch aus dem Sattel zu heben und weite Teile davon zu annektieren, stützten sie sich auf ein zweites Propaganda-Konstrukt (es zeichnet sich durch eine ebenso ungenügende Faktenlage aus wie das erste; trotzdem figuriert es in fast allen Medien, historischen Darstellungen und Schulbibliotheken): Die bei ihrer Rückeroberung Ruandas geflüchteten Interahamwe-Gruppen der extremistischen Hutu hätten sich 1994 beim Herannahen des FPR unter die Hunderttausende von Hutu-Flüchtlingen gemischt, hätten in den ostkongolesischen Flüchtlingslagern ihre Waffen versteckt und würden von dort aus die Tutsi-Regierung in Kigali destabilisieren.
Um gegen diese «Bedrohung» vorzugehen, wurde eine entsprechende militärische Phantom-Organisation mit einer passenden Identifikationsfigur aus der Taufe gehoben. Sie fand sich in der Person Laurent Désiré Kabilas, eines ehemaligen marxistischen Dschungelkämpfers, der schon in den siebziger Jahren beim Aufstand im Osten gegen die Mobutu-Herrschaft mit dabei war (Rebellion der Simba unter Soubialot). Inzwischen hatte er sich mit eher zwielichtigen Geschäften über Wasser gehalten und staunte nicht schlecht, als ihm die ruandische und ugandische Militär-Junta vor Augen führte, er könne sich in naher Zukunft auf den Thron Mobutus setzen. So wurde er zum Aushängeschild der zu diesem Zweck gegründete Militärallianz AFDL mit dem schönen Namen Alliance des Forces Démocratiques pour la Libération du Congo. In Wirklichkeit war sie keine Allianz und wollte alles andere fördern als die kongolesische Demokratie. Sie bestand im Kern aus Elite-Formationen, die aus den ugandischen und ruandischen Guerilla-Kriegen sowie der Tutsi-Armee Burundis hervorgingen, bis auf die Zähne mit modernster Waffentechnologie sowie elektronischer Kommunikation und Spürgeräten ausgerüstet, alles logistisch bereitgestellt von den entsprechenden Stellen der USA, Grossbritanniens und Belgiens. Die AFDL überfiel den wehrlosen Kongo in den Oktobertagen 1996 und gelangte schon nach einem Dreivierteljahr bis nach Kinshasa, welches Mobutu wenige Tage vorher verlassen hatte (er erlag kurze Zeit später im Exil seiner Krebserkrankung). Der Blitzkrieg wäre nicht so blitzartig verlaufen, wenn sich der tatsächlich kriegführende ruandische AFDL-Oberst James Kabarebe (langjähriger Waffengefährte Kagames in Uganda) bei seinen Truppenbewegungen nicht auf die von Spezialisten der USA laufend zur Verfügung gestellten Daten über Orte und Stärke der kongolesischen nationalen Armee hätte verlassen können.
Massive Kriegsverbrechen
Was die Weltöffentlichkeit weniger bis gar nicht zur Kenntnis nahm: Das «Problem» der riesigen Flüchtlingslager ruandischer Hutu im Ostkongo wurde von Kagame tatsächlich «gelöst», allerdings auf brutalste kriegsverbrecherische Weise: AFDL-Einheiten fielen mit massivem Artillerie- und Granatwerferbeschuss über die wehrlosen, überwiegend unpolitischen ruandischen Hutus her, die damals beim Herannahen der Tutsi-Guerilla panikartig über die Grenze in Richtung Bukavu und Goma (Ostkongo) fliehen konnten und zusammengepfercht unter unsäglichen Bedingungen vegetierten (eine Situation, aus der heraus sich schwerlich eine neue Guerilla bilden konnte, eine militärische Bedrohung des hochgerüsteten neuen Ruanda untere Kagame). Hunderttausende, darunter Gebrechliche, Frauen und Kinder, waren nach diesem Beschuss somit abermals auf der Flucht. Ihre Verzweiflung ging 1996 in aufwühlenden Bildern rund um die Welt, ohne dass auch nur das Geringste zu ihrem Überleben veranlasst wurde. Einige schlugen zunächst den Weg zurück nach Ruanda ein, wo sie zu grossen Teilen unter dem Pauschalverdacht, «génocidaires» (Völkermörder) zu sein, in Gefängnissen landeten oder gleich erschossen wurden, andere versuchten (als sie davon hörten, welches Schicksal sie im neuen Ruanda erwartete) verzweifelt, sich durch den Dschungel in Richtung Kisangani am oberen Kongo-Lauf durchzuschlagen. Viele davon wurden von den sie verfolgenden AFDL-Truppen niedergemacht, andere verhungerten im Urwald. Auch dieses massive Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist im Prinzip «unbeachtet» von der Welt über die Bühne gegangen. Ihre Kommandeure, Offiziere und Schergen sitzen heute an den Schalthebeln in den Staatsverwaltungen des «neuen Ruanda» und des «von Mobutu befreiten» Kongo. Kabila hat sich, einmal im kongolesischen Präsidentenpalast installiert, mit Erfolg dagegen zur Wehr gesetzt, dass die Uno über den Verbleib von geschätzt 800 000 «vermissten» ruandischen Hutu-Flüchtlingen entsprechende Nachforschungen anstellen konnte. Ein weiteres Verbrechen gigantischen Ausmasses scheint damit dazu verurteilt zu sein, vom aktiv provozierten Vergessen zugedeckt zu werden. Auch der von der Uno in Auftrag gegebene Rapport über die Massentötungen der Tutsi-Armee in den Siedlungen der ansässigen kongolesischen Bevölkerung (mehrheitlich kongolesische Hutu, die sie verdächtigten, die geflohenen Interahamwe zu decken oder sogar zu unterstützen), die bei beim Vorstoss der AFDL im kongolesischen Staatsgebiet begangen worden sind, ist wie die vielen vergleichbaren Dokumente in den New Yorker Archiven der Uno schubladisiert worden und hat weder beim Internationalen Strafgerichtshof zu Ruanda noch bei sonst einem zuständigen Gericht je Verwendung gefunden (vgl. Report of the Mapping Exercise documenting the most serious violations of human rights and international humanitarian law committed within the territory of the Democratic Republic of the Congo between March 1993 and June 2003; August 2010; https://www.ohchr.org/EN/Countries/AfricaRegion/Pages/RDCProjetMapping.aspx.)
Und noch ein «Rebellionskrieg»!
Die Neuauflage eines fälschlich so bezeichneten «Rebellionskrieges» musste kaum ein Jahr später noch einmal zur Verdeckung der wahren Beweggründe herhalten. Als Kabila merkte, mit wem er sich da in Wirklichkeit «assoziiert» hatte, mit den «Tutsi ohne Grenzen» (wie Stanislas Bucyalimwe Mararo sie oft nennt), wurde ihm die Sache unheimlich. Es war aber schon zu spät: Er hatte unterdessen den ruandischen Offizier, der den Feldzug von 1996/7 militärisch geleitet hatte, Oberst James Kabarebe, zum Generalstabschef der nationalen kongolesischen Armee (!) gemacht, und der hatte sie gründlich mit seinen Vertrauensleuten und entsprechender Mannschaft durchmischt. Man reibt sich die Augen: Der Präsident eines Landes ernennt den Mann zum Generalstabschef «seiner» Armee, der diese Armee mithilfe internationaler Söldnerheere quer durch den kongolesischen Dschungel getrieben hat!
Der entscheidende Moment kam, als Kabila damals zu grosszügig an die amerikanischen, britischen, belgischen und israelischen Financiers verteilte Schürfrechte an den einträglichen katangischen und kasaiischen Minen rückgängig machen wollte (zu Gunsten des Kongo). Zwar schickte Kabila im Frühsommer 1998 die ruandische Tutsi-Kamarilla zurück nach Hause, aber sein Schicksal war damit besiegelt. Einmal mehr wurde das bewährte Rebellions-Lügengebilde zuhanden der Welt-Medien in die Welt gesetzt: Die Drahtzieher von 1996 gründeten einfach eine neue Militärallianz, diesmal hiess sie, nicht weniger vernebelnd als die erste, Rassemblement congolais pour la Démocratie, RCD (Kongolesische Sammelbewegung für die Demokratie). Sie war nicht kongolesisch, sondern international. Sie wollte nicht die Demokratie im Kongo, sondern die Stabilisierung der ruandischen Tutsi-Herrschaft über den Kongo. Deshalb hielt die Regierung von Ruanda deren Zügel und Strategie nach wie vor fest in der Hand. Der Feldzug wurde ab August 1998 von Ruanda aus auf ähnlichen Wegen zum zweiten Mal geführt wie der erste, mit dem einzigen Unterschied, dass sich diesmal eine ganze Allianz afrikanischer Regierungen an die Seite beider Armeen gestellt hatte. Obwohl die Phalanx der Angreifer auch diesmal rasch bis auf eine tief im Inneren des Kongo reichende Linie vorrückte, konnte sie von den Verteidigern gestoppt werden. Es kam zum Abkommen von Lusaka 1999, welches den Waffenstillstand und den Rückzug der Invasionstruppen allerdings nicht durchsetzen konnte.
Auch 40 Jahre später: politisch motivierter Mord
Kurze Zeit später, am 16. Januar 2001, war Laurent Désiré Kabila tot, erschossen von einem eigenen Sicherheitsmann, der allerdings nie verhaftet wurde. Bis heute sind die Umstände seines Todes offiziell nicht bekannt. Der kongolesische Rat der Weisen hievte dann den damals noch jugendlich wirkenden «Sohn» Kabilas, Joseph Kabila, auf den kongolesischen Präsidentensessel, für eine Übergangszeit, die zweimal verlängert wurde, bis ihn Wahlen (ihre Rechtmässigkeit wurde jedes Mal angezweifelt) zum «legitimierten» Präsidenten bis 2019 machten (allerdings zwei Jahre über den rechtlichen Zeitpunkt hinaus!). Kenner der kongolesischen Verhältnisse zweifeln die offizielle Biographie Joseph Kabilas an, auch dass er der leibliche Sohn Laurent Désiré Kabilas sei. Mit Sicherheit ist er von der Tutsi-Rückeroberungspartei im Umkreis von Kagame erzogen und rekrutiert worden.
Nach der «Wahl» von Felix Tshisekedi 2019 liess sich Kabila II, Finesse der «demokratischen» Verfassung des Kongo, «zum Senator auf Lebenszeit» einsetzen. Das schützt ihn nun vor jeder Strafverfolgung im Zusammenhang mit den in den beiden Kriegen begangenen Kriegsverbrechen. Schon ein Jahr nach der Amtseinsetzung von Joseph Kabila kam es zu den «Friedensschlüssen» von Pretoria, dann von Sun-City (Südafrika), Abkommen ganz im Sinne der Vorstellungen der USA: Wir drücken angesichts aller massiver Kriegsverbrechen, die ihr begangen habt, beide Augen zu – ihr überlasst uns eure für uns unentbehrlichen Rohstoffe zu unseren Bedingungen.
Dauerkrieg im Osten des Kongo
Nach dem Versuch Laurent Désiré Kabilas, Gegensteuer zu geben (er hat es nicht überlebt), ist der Kongo wieder der gewohnte «Selbstbedienungsladen» nach dem Gusto des westlichen militärisch-industriellen Komplexes geworden, eine Tatsache, an der auch Felix Tshisekedi, der sozialdemokratische neue Präsident des Kongo, offensichtlich weder etwas ändern will noch ändern kann (siehe Bild). Im Ostkongo hat der Zusammenbruch aller zivilen und bürgerlichen Institutionen bis zum heutigen Tag angehalten. Besonders der Nordkivu, die Heimat von Stanislas Bucyalimwe Mararo, ist vom Dauerkrieg anonymer marodierender Milizen mit ruandischer Unterstützung in tägliche Verheerungen versenkt, die noch andauern. Für die Menschen dort ist das Leben ähnlich geworden wie für die Zivilbevölkerung Deutschlands im 30jährigen Krieg. Kobalt-, Koltan-, Gold- und andere Minen werden von den Milizen geschützt, die Zivilbevölkerung terrorisiert, bis sie die Nähe zu den Minen «freiwillig» aufgibt und ihren Wegzug (wohin?) angeht; eine sichere Grenze zu Uganda, Ruanda und Burundi besteht nicht, so wenig wie Schulen, Krankenhäuser, Arbeit, Lohn: Alles Dinge, die für die geplagte Bevölkerung nur als Hoffnung existieren – das Gebiet ist eine eigentliche No-go-Zone geworden (man hat den Eindruck, die praktizierte Entvölkerung entspreche einer seit Jahren praktizierten Strategie), der Weltöffentlichkeit, der Schein-Uno, dem Medieninteresse und echten Friedensinitiativen, zu denen auch der wirtschaftliche Frieden gehören würde, seit nunmehr 25 Jahren entzogen. Wie lange noch? •
Quellen:
Bucyalimwe Mararo, Stanislas. La République Démocratique Congolaise 1960–2021 en bref. Typoscript. Afrique-Monde: Vivre ensemble en Afrique des Grands Lacs, 25. Juni 2021
Bucyalimwe Mararo, Stanislas. La Géopolitique internationale et régionale dans la dynamique politique en RDC depuis 1960. In: Le degré zéro de la dynamique politique en République Démocratique du Congo 1960–2018, (éd. J. Kanwenda Mbaya) ICREDES, Kinshasa, Montréal, Washington, 2018, S. 581–680
Bucyalimwe Mararo, Stanislas. Face aux coups de l’adversité. Une autobiographie, (Editions Scribe) Bruxelles 2019
Bucyalimwe Mararo, Stanislas (éd.). RD-Congo. L’Entre-deux-Lacs, Kivu et Edouard. Histoire, économie et culture (1885–2017), (Editions Scribe) Bruxelles 2018
Bucyalimwe Mararo, Stanislas. Maneuvering for ethnic hegemony. A thorny issue in the North Kivu Peace Process (DRCongo), 2 Bde., (Editions Scribe) Bruxelles 2014
Scholl-Latour, Peter. Afrikanische Totenklage. Der Ausverkauf des Schwarzen Kontinents. München 2001, bes. S. 13–28, 244–296
Strizek, Helmut. Kongo/Zaire-Ruanda-Burundi. Stabilität durch neue Militärherrschaft? Studie zur «neuen Ordnung» in Zentralafrika. (Weltforum Verlag) München/Köln/London 1998
1 vgl. dazu die nachstehenden Beiträge in Zeit-Fragen:
Die Demokratische Republik Kongo – mitten im ostafrikanischen Sturm (Nr. 21 vom 4.8.2015);
Kleptokratie ohne Ende? (Kleptokratie I, in Nr. 32/33 vom 22.12.2015);
Vor 50 Jahren putschte im Kongo Mobutu Sese Seko – Kleptokratie ohne Ende? (Kleptokratie II, in Nr. 6 vom 15. 3. 2016);
Fragwürdige Wahlen in der Demokratischen Republik Kongo (in Nr 5 vom 26.2.2019);
Der «post-mobutistische» Kongo: Die USA setzen auf die ruandische Karte (Kleptokratie III, in Nr. 3 vom 30.1.2018;
Die «neue» Afrikapolitik des Westens und der Kongo (Kleptokratie IV, in Nr. 2 vom 17.1.2017);
Ende der Vertuschungen? (in Nr. 9 vom 5.5.2020, zur Rolle der USA und Frankreichs im Kongo);
Sonderbeilage Kongo (in Nr. 19/20 vom 8.9.2020), aus Anlass des Erscheinens der Autobiographie von Stanislas Bucyalimwe Mararo.
pk. Die beiden im Vergleich zum Kongo kleinen Länder, in ihrer Geschichte und Struktur verwandt, waren bis zur Unabhängigkeit (1962) afrikanische Monarchien. In beiden Ländern lebten die zwei hauptsächlichen Völkerschaften, Hutu und Tutsi, ab der Mitte des 20. Jahrhunderts in hoch spannungsvollen Verhältnissen, wobei die Tutsi nur etwa 15 % der gesamten Bevölkerung ausmachten, die Hutu hingegen 85 %. In beiden Monarchien waren die Könige, Staatsbeamten sowie Offiziere ausschliesslich Angehörige der Tutsi-Elite. Traditionell beruhte die Wirtschaft beider rohstoffarmen Hügelländer vor allem auf der Viehzucht. Die Tutsi waren traditionell Besitzer der grossen Rinderherden. Die Hutu wurden von ihnen als rückständig betrachtet und mit Zurücksetzung, oft Verachtung behandelt, für viele Tutsi waren und blieben die Hutu ihre «naturbeschaffenen» Stallknechte. Dies führte bei der Unabhängigkeit beider Länder zu einem für die ehemalige Elite der Tutsi nicht lösbaren Konflikt: Ein demokratisch organisiertes Staatswesen bedeutete sowohl in Ruanda (Hauptstadt Kigali) als auch in Burundi (Hauptstadt Bujumbura) schon rein demographisch kaum veränderbare Mehrheiten der Hutu. Seit den 1960er Jahren kam es in beiden Ländern wiederholt zu Massenverfolgungen und zu Massakern der einen Volksgruppe an der anderen, während des ruandischen «Bürgerkriegs» auch zu Attentaten in Kigali und «dem» Genozid von 1994 der Hutu an den Tutsi. Von den demokratisch gewählten Präsidenten Burundis kamen vier (alle Hutu) durch politischen Mord um, verübt von militanten Tutsi. In Wahrheit ereigneten sich sowohl in Burundi als auch in Ruanda mehrere ethnisch motivierte Massenmorde. Sie sind allerdings bisher nur zur Kenntnis genommen und strafrechtlich verfolgt worden, wenn die Täter auf der Hutu-Seite waren. Die Verbrechen der Tutsi, begangen im Sommer 1972 an der burundischen Hutu-Intelligenz durch die damalige Micombero-Armee (Tutsi), vom FPR (Tutsi) an der ruandischen Hutu-Zivilbevölkerung (von 1990–1994), dann getarnt als AFDL an den Hutu-Flüchtlingen (1997) und der ostkongolesischen Zivilbevölkerung (1997/98) und ihrer Nachfolger-«Milizen» (1998 bis zum heutigen Tag) werden offiziell verschwiegen und sind bisher ungeahndet geblieben.
pk. Aus dem Jahr 1958, mitten in der aufgeheizt geführten Auseinandersetzung über die Zukunft eines unabhängigen Ruanda und Burundi, stammt ein Dokument von angesehenen Tutsi-Führungsgestalten, in welchem sie ihren Unwillen, sich mit den Hutu-Führern über die politische Zukunft des Landes in einen gleichberechtigten Dialog zu begeben, unter anderem wie folgt begründen:
«Die Beziehungen zwischen uns, den Tutsi, und ihnen, den Hutu, beruhten in alten Zeiten bis zum heutigen Tag auf einem Knechtschaftsverhältnis (frz. servage); es gibt zwischen ihnen und uns also keinerlei Basis für eine Brüderlichkeit (frz. fraternité). […] Da unsere Könige das Land der Hutu erobert und ihre Könige getötet und somit die Hutu unterworfen haben, wie können sie da jetzt vorgeben, unsere Brüder zu sein?» (zit. bei Strizek, Helmut. «Kongo/Zaïre-Ruanda-Burundi. Stabilität durch erneute Militärherrschaft?» München 1998, S. 60. Zitat aus dem Französischen, übersetzt von Strizek)
«Ein Wort an unsere Nachbarstaaten. Wir fordern die Regierungen von Kigali und Bujumbura auf, ihre internen Probleme in ihren Ländern unter sich zu lösen und sie nicht in den Kongo zu tragen. Wir fordern insbesondere die ruandischen Tutsi auf, die wir immer wieder als Flüchtlinge bei uns aufgenommen haben, nicht in den Brunnen zu spucken, aus dem sie getrunken haben. Heute vergelten sie unsere Gastfreundschaft mit Bomben.»
Christophe Munzihirwa, Erzbischof von Bukavu, ermordet von Angehörigen der AFDL am 29. Oktober 1994, bei der Einnahme Bukavus (zit. bei Stanilas Bucyalimwe Mararo. «Nord-Kivu (République Démocratique du Congo): vingt-quatre ans de tueries programmés (mars 1993–mars 2017)».
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